Karl Kautsky

Das Erfurter Programm


II. Das Proletariat

1. Proletarier und Handwerksgeselle

Wir haben bereits im vorigen Kapitel gesehen, daß die kapitalistische Warenproduktion die Trennung der Arbeitsmittel vom Arbeiter zur Voraussetzung hat. Im kapitalistischen Großbetrieb finden wir auf der einen Seite den Kapitalisten, der die Produktionsmittel besitzt, aber an der Produktion nicht teilnimmt; und auf der anderen Seite die Lohnarbeiter, die Proletarier, die nichts besitzen als ihre Arbeitskraft, von deren Verkauf sie leben, und deren Arbeit allein die Produkte dieses Großbetriebs hervorbringt. Um die für die Bedürfnisse des Kapitals nötige Menge Proletarier zu beschaffen, dazu bedurfte es anfangs, wie wir gesehen, einer gewaltsamen Nachhilfe. Heute ist dieselbe nicht mehr notwendig. Die Überlegenheit des Großbetriebs über den Kleinbetrieb genügt heutzutage, um ohne Verletzung der Gesetze des Privateigentums, vielmehr auf Grundlage derselben, so viele Bauern und Handwerker jahraus, jahrein zu expropriieren und aufs Pflaster zu setzen, daß deren Zahl samt der Nachkommenschaft der bereits „freigesetzten“ Proletarier den Bedarf der Kapitalisten nach frischem Menschenfleisch mehr als deckt.

Daß die Zahl der Proletarier unaufhörlich rasch anwächst, ist eine so offenbare Tatsache, daß sie nicht einmal jene zu leugnen wagen, die uns glauben machen möchten, die Gesellschaft stehe heute noch auf denselben Grundlagen, auf denen sie vor hundert und mehr Jahren stand, und die uns die Zukunft des Kleinbetriebs im rosigsten Lichte zeigen.

Wie in der Produktion der kapitalistische Großbetrieb herrschende Betriebsform geworden ist, so ist in Staat und Gesellschaft der Lohnarbeiter – namentlich der industrielle Lohnarbeiter – an die erste Stelle der arbeitenden Klassen getreten. Vor vierhundert Jahren haben noch die Bauern, vor hundert Jahren noch die Kleinbürger diese Stelle eingenommen.

Die Proletarier sind heute schon in den Kulturstaaten die stärkste Klasse; ihre Verhältnisse und Anschauungen sind es, die immer mehr das Leben und Denken auch der anderen arbeitenden Klassen bestimmen. Das bedeutet aber eine völlige Umwälzung in den hergebrachten Lebensverhältnissen und Gedankenformen der großen Masse der Bevölkerung. Denn die Verhältnisse der Proletarier, namentlich der industriellen (und die Landwirtschaft wird in der kapitalistischen Produktionsweise auch eine Industrie), sind von denen der früheren Arbeiterschichten gänzlich verschiedene.

Wenn der Bauer und der Handwerker freier Besitzer seiner Produktionsmittel ist, gehört ihm auch das volle Produkt seiner Arbeit. Das Produkt der Arbeit des Proletariers gehört dagegen nicht diesem, sondern dem Kapitalisten, dem Käufer seiner Arbeitskraft, dem Besitzer der nötigen Produktionsmittel, Allerdings wird der Proletarier dafür vom Kapitalisten bezahlt, aber der Wert, der in seinem Lohn steckt, deckt sich keineswegs mit dem Wert seines Produkts.

Wenn der industrielle Kapitalist die Ware Arbeitskraft kauft, so tut er dies natürlich nur in der Absicht, sie in gewinnbringender Weise zu verwenden. Wir haben gesehen, daß die Verausgabung einer bestimmten Menge von Arbeit eine bestimmte Menge von Wert schafft. Je mehr der Arbeiter schafft, desto größer wird – unter sonst gleichen Umständen – der Wert sein, den er erzeugt hat. Wenn der industrielle Kapitalist den Lohnarbeiter, den er gedungen, nur so lange arbeiten ließe, daß der von ihm erzeugte Wert gleich wäre dem Wert des Lohnes, den er erhält, so würde der Unternehmer keinen Gewinn erzielen. Aber so gern dieser sich auf den Wohltäter der darbenden Menschheit hinausspielen mag, das Kapital schreit nach Profit, und es findet kein taubes Ohr beim Kapitalisten. Je länger der Arbeiter im Dienste des Kapitals über die zur Erzeugung seines Lohnwertes nötige Arbeitszeit hinaus schanzt, desto größer ist der Überschuß des Gesamtwertes des von ihm erzeugten Produkts über die Wertsumme, die sein Lohn darstellt, desto größer ist der Mehrwert, wie dieser Überschuß genannt wird, desto größer die Ausbeutung des Arbeiters. Diese findet ihre Grenze nur in der Erschöpfung des Ausgebeuteten und – in seiner Widerstandskraft gegenüber dem Ausbeuter.

Für den Proletarier bedeutet also das Privateigentum an den Produktionsmitteln von vornherein etwas anderes als für den Handwerker und Bauer. War es für diese ursprünglich ein Mittel, ihnen den vollen Besitz ihres Produkts zu sichern, so ist es für den Proletarier nie etwas anderes gewesen und wird es nie etwas anderes sein als ein Mittel, ihn auszubeuten, ihm den Mehrwert, den er geschaffen, vorzuenthalten. Der Proletarier ist daher nichts weniger als ein Schwärmer für das Privateigentum. Dadurch unterscheidet er sich aber nicht bloß vom besitzenden Bauern und Handwerker, sondern auch vom Handwerksgesellen der vorkapitalistischen Zeit.

Die Gesellen bildeten den Übergang vom selbständigen Handwerker zum Proletarier, so wie die Betriebe, in denen sie in größerer Zahl beschäftigt wurden, den Übergang bildeten vom Kleinbetrieb zum Großbetrieb. Aber trotzdem, wie verschieden waren sie vom Proletarier!

Sie gehörten zur Familie des Meisters und hatten die Aussicht, einst selbst Meister zu werden. Der Proletarier ist ganz auf sich gestellt und verdammt, ewig Proletarier zu bleiben. In diesen zwei Punkten liegt der Grund der Verschiedenheit zwischen Handwerksgeselle und Proletarier zusammengefaßt.

Da der Geselle zur Familie des Meisters gehörte, aß er mit ihm an demselben Tische und schlief in seinem Hause. Die Wohnungsfrage und die Magenfrage existierten nicht für ihn. Sein Geldlohn war nur ein Teil dessen, was er vom Meister für seine Arbeitskraft erhielt. Der Lohn diente weniger zur Befriedigung der notwendigsten Bedürfnisse, die ja durch das Leben beim Meister befriedigt wurden, als zur Erwerbung von Annehmlichkeiten oder zum Sparen, zum Ansammeln der Mittel, deren der Geselle zur Erlangung der Meisterstellung bedurfte.

Der Geselle arbeitete mit dem Meister zusammen. Dehnte dieser die Arbeitszeit übermäßig aus, so nicht nur für seinen Gesellen, sondern auch für sich. Das Bestreben des Meisters, die Arbeit bis zur Erschöpfung auszudehnen, war daher nicht sehr stark und meist ohne große Mühe einzudämmen. Wenn der Meister danach trachtete, seine Arbeitsbedingungen möglichst angenehm zu gestalten, so kam das auch seinen Gesellen zugute.

Die Produktionsmittel, deren der Kleinmeister bedurfte, waren so gering, daß der Geselle kein großes Vermögen brauchte, um selbst Meister zu werden. Jedem Gesellen stand daher eine Meisterstelle in Aussicht, er fühlte sich selbst schon als künftiger Meister, und da das Sparen ihm die Mittel zur Erlangung der Meisterschaft liefern sollte, war er ein ebenso entschiedener Vertreter des Privateigentums wie der selbständige Handwerker.

Man verstehe wohl, daß wir hier die Verhältnisse des Handwerks im Auge haben, wie sie in der vorkapitalistischen Zeit sich gebildet hatten.

Nun vergleiche man damit die Verhältnisse des Proletariers.

Im kapitalistischen Betrieb sind Lohnarbeiter und Kapitalist nicht zusammen tätig. Wenn sich auch im Laufe der ökonomischen Entwicklung der industrielle Kapitalist vom eigentlichen Kaufmann scheidet und die Kapitalisten des Handels und die der Industrie zu zwei verschiedenen Klassen werden, so bleibt doch auch der industrielle Kapitalist im Grunde ein Kaufmann. Seine Tätigkeit als Kapitalist – soweit er überhaupt in seinem Unternehmen tätig ist – beschränkt sich wie die des Handelsmannes auf den Markt. Seine Aufgabe ist es, die nötigen Rohstoffe, Hilfsstoffe, Arbeitskräfte usw. so zweckentsprechend und billig als möglich zu kaufen und die in seinem Unternehmen fertiggestellten Waren so teuer als möglich zu verkaufen. Auf dem Gebiete der Produktion hat er nichts zu tun, als dafür zu sorgen, daß die Arbeiter für möglichst kleinen Lohn möglichst viel Arbeit leisten, daß ihnen möglichst viel Mehrwert ausgepreßt wird. Seinen Arbeitern gegenüber ist er nicht Mitarbeiter, sondern Antreiber und Ausbeuter. Je länger sie arbeiten, um so besser für ihn. Er wird nicht müde dabei, wenn die Arbeitszeit zu lange währt, er geht nicht zugrunde, wenn die Arbeitsweise eine mörderische ist.

Der Kapitalist ist daher viel rücksichtsloser gegen Leib und Leben des Arbeiters, als es der Handwerksmeister gewesen. Verlängerung des Arbeitstages, Abschaffung der Feiertage, Einführung der Nachtarbeit, Arbeit in feuchten oder überhitzten oder mit schädlichen Gasen erfüllten Arbeitsstätten usw. usw., das sind die „Verbesserungen“, die der kapitalistische Betrieb für den Arbeiter mit sich bringt.

Die Einführung des Maschinenwesens steigert noch die Gefahren für Gesundheit und Leben des Arbeiters. Dieser wird jetzt an ein Ungetüm gefesselt, das mit riesenhaften Kräften und wahnsinniger Schnelligkeit unaufhörlich um sich schlägt. Nur die gespannteste, nie erlahmende Aufmerksamkeit kann den Arbeiter an einer solchen Maschine davor schützen, von ihr erfaßt und zermalmt zu werden. Schutzvorrichtungen kosten Geld, der Kapitalist führt sie nicht ein, ohne dazu gezwungen zu werden. Sparsamkeit ist ja die Haupttugend des Kapitalisten; sie gebietet ihm auch, mit dem Raum zu sparen, möglichst viel Maschinen in einer Werkstelle zusammenzudrängen. Was kümmert’s ihn, wenn er die gesunden Glieder seiner Arbeiter dadurch aufs äußerste bedroht? Arbeiter sind billig, aber große, ausgedehnte Arbeitsräume sind teuer.

Noch in anderer Weise verschlechtert die kapitalistische Anwendung der Maschinerie die Arbeitsbedingungen des Arbeiters.

Das Werkzeug des Handwerkers war wenig kostspielig. Es war auch selten größeren Änderungen unterworfen, die es nutzlos gemacht hätten. Anders die Maschine. Sie kostet Geld, viel Geld. Wird sie vorzeitig nutzlos, oder wird sie nicht gehörig ausgenützt, dann bringt sie dem Kapitalisten Schaden statt Nutzen. Die Maschine nützt sich aber ab, nicht bloß wenn sie gebraucht wird, sondern auch wenn sie stillsteht. Andererseits hat die Einführung der Wissenschaft in das wirtschaftliche Getriebe, deren Ergebnis eben die Maschine ist, auch dahin geführt, daß ununterbrochen neue Erfindungen und Entdeckungen, bald von größerer, bald von geringerer Tragweite, gemacht werden, daß dadurch ununterbrochen bald die eine, bald die andere Art von Maschinen, ja ganze Fabrikanlagen konkurrenzunfähig, also wertlos gemacht werden, ehe sie völlig abgenutzt worden sind. Durch diese unaufhörlichen Umwälzungen der Technik ist jede Maschine in Gefahr, vor ihrer Abnützung zu entwerten. Grund genug für den Kapitalisten, sie vom Augenblick der Anschaffung an möglichst rasch auszunutzen. Das heißt, das Maschinenwesen bildet einen besonderen Sporn für den Kapitalisten, die Arbeitszeit möglichst auszudehnen und womöglich ununterbrochenen Betrieb, die Abwechslung von Tag- und Nachtschichten einzuführen, also die so verderbliche Nachtarbeit zu einer stehenden Einrichtung zu machen.

Als das Maschinenwesen sich entwickelte, erklärten einige Idealisten das goldene Zeitalter für gekommen. Die Maschine werde dem Arbeiter seine Arbeit abnehmen und diesen zu einem freien Manne machen. Aber in der Hand des Kapitalisten ist die Maschine der mächtigste Hebel geworden, die Arbeitslast des Proletariers zu einer erdrückenden, seine Knechtschaft zu einer unerträglichen, mörderischen zu machen.

Ebenso wie in bezug auf die Arbeitszeit ist auch in bezug auf den Lohn der Lohnarbeiter der kapitalistischen Produktionsweise schlechter gestellt als ehedem der Handwerksgeselle. Der Proletarier ißt nicht am Tische des Kapitalisten, wohnt nicht in dessen Wohnung. Mag er im elendesten Quartier wohnen, mag er von den scheußlichsten Abfällen sich nähren, ja, mag er hungern, das Wohlbefinden des Kapitalisten wird dadurch nicht gestört. Die Begriffe Hunger und Lohn schlössen ehedem einander aus. Der freie Arbeiter konnte früher höchstens dann dem Hunger anheimfallen, wenn er keine Arbeit fand. Wer arbeitete, hatte auch zu essen. Der kapitalistischen Produktionsweise gebührt das Verdienst, die beiden Gegensätze Hunger und Lohn miteinander versöhnt und den Hungerlohn zu einer stehenden Einrichtung, ja zu einer Stütze der Gesellschaft gemacht zu haben.
 

2. Der Arbeitslohn

Der Arbeitslohn kann nicht so hoch steigen, daß er es dem Kapitalisten unmöglich macht, sein Geschäft fortzuführen und davon zu leben. Denn unter diesen Umständen würde es für den Kapitalisten vorteilhafter sein, das Geschäft ganz aufzugeben. Der Lohn des Arbeiters kann also nie so hoch steigen, daß er dem Wert seines Produkts gleichkommt. Er muß stets einen Überschuß, einen Mehrwert lassen, denn nur die Erwartung dieses Überschusses veranlaßt den Kapitalisten, Arbeitskraft zu kaufen. Der Arbeitslohn kann also in der kapitalistischen Gesellschaft nie so hoch steigen, daß die Ausbeutung des Arbeiters ein Ende nimmt.

Der Überschuß, der Mehrwert, ist aber größer, als man in der Regel annimmt. Er enthält nicht bloß den Profit des Fabrikanten, sondern vieles, was man zu den Produktions- oder Verkaufskosten rechnet: Grundrente „(Miete), Verzinsung des Anlagekapitals, Bezahlung des kaufmännischen Personals, Diskonto für den Kaufmann, der dem Industriellen seine Ware abnimmt, Steuern usw. Alles das geht ab von dem Überschuß, den der Wert des Produkts des Arbeiters über dessen Lohn beträgt. Dieser Überschuß muß also ein ziemlich bedeutender sein, wenn ein Unternehmen „rentieren“ soll; der Lohn kann demnach nie so weit steigen, daß der Arbeiter auch nur annähernd den Wert dessen, was er geschaffen, darin erhielte. Das kapitalistische Lohnsystem bedeutet unter allen Umständen die Ausbeutung des Lohnarbeiters. Es ist unmöglich, die Ausbeutung zu beseitigen, solange dasselbe besteht. Und auch bei den höchsten Löhnen muß die Ausbeutung des Arbeiters eine hochgradige sein.

Aber der Lohn erreicht kaum jemals den höchsten Stand, den er erreichen könnte, öfter dagegen nähert er sich seinem niedrigsten Stande. Diesen erreicht er dort, wo er aufhört, dem Arbeiter auch nur die nackte Lebensnotdurft zu fristen. Wenn der Arbeiter bei seinem Lohne nicht bloß hungert, sondern rasch verhungert, da hört das Arbeiten überhaupt auf.

Zwischen diesen beiden Grenzen schwankt der Lohn auf und ab; er ist um so tiefer, je geringer die gewohnheitsmäßigen Lebensbedürfnisse der Arbeiter, je größer das Angebot von Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt, je geringer die Widerstandskraft der Arbeiter.

Im allgemeinen muß natürlich der Lohn so hoch sein, daß er den Arbeiter arbeitsfähig erhält, oder besser gesagt, er muß so hoch sein, daß er dem Kapitalisten das Maß von Arbeitskräften, deren dieser bedarf, zu sichern verspricht. Er muß also so hoch sein, daß er dem Arbeiter nicht nur ermöglicht, sich selbst arbeitsfähig zu erhalten, sondern auch arbeitsfähige Kinder aufzuziehen.

Die ökonomische Entwicklung zeigt nun die für den Kapitalisten höchst angenehme Tendenz (Neigung), die Erhaltungskosten des Arbeiters zu erniedrigen, damit aber auch die Löhne zu senken.

Geschicklichkeit und Kraft waren ehedem für den Arbeiter unentbehrlich. Die Lehrzeit des Handwerkers war eine sehr lange, die Kosten seiner Erziehung daher ziemlich bedeutend. Die Fortschritte der Arbeitsteilung und des Maschinenwesens machen speziellere Geschicklichkeit und Kraft in der Produktion immer überflüssiger. Sie ermöglichen es, anstelle gelernter Arbeitskräfte ungelernte, billigere zu setzen, sie ermöglichen es aber auch, die Männer bei der Arbeit durch schwache Frauen, ja durch Kinder zu ersetzen. Bereits in der Manufaktur tritt die Neigung dazu hervor; aber erst mit der Einführung der Maschinen in die Produktion beginnt die massenhafte Ausbeutung von Frauen und Kindern im zartesten Alter, die Ausbeutung der Wehrlosesten unter den Wehrlosen, die der empörendsten Mißhandlung und Abrackerung preisgegeben werden. Hier lernen wir eine neue schöne Eigenschaft der Maschine in den Händen des Kapitals kennen.

Der Lohnarbeiter, der nicht zur Familie des Unternehmers gehörte, mußte ursprünglich in seinem Lohn nicht nur die Kosten seiner eigenen Erhaltung, sondern auch die seiner Familie bezahlt bekommen, wenn er imstande sein sollte, sich fortzupflanzen und seine Arbeitskraft zu vererben. Ohne diese Vererbung würden die Erben des Kapitalisten keine Proletarier finden, die sie ausbeuten könnten. Aber wenn das Weib und, von früher Jugend an, audi die Kinder des Arbeiters imstande sind, für sich selbst zu sorgen, dann kann der Lohn des männlichen Arbeiters ohne Gefährdung der Erhaltung der Arbeitskraft fast ganz auf den Betrag der Erhaltungskosten seiner Person herabgesetzt werden.

Dazu bietet die Arbeit der Frauen und Kinder noch den Vorteil, daß diese widerstandsloser sind als die Männer. Und durch ihre Einreihung in die Reihen der Arbeitenden wird auch das Angebot von Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt riesig vermehrt.

Die Frauen- und Kinderarbeit senkt also nicht bloß die Erhaltungskosten des Arbeiters, sie vermindert auch seine Widerstandskraft und vermehrt das Angebot von Arbeitskräften: Durch jeden dieser Umstände wirkt sie dahin, den Lohn des Arbeiters zu erniedrigen.
 

3. Die Auflösung der Proletarierfamilie

Die industrielle Frauenarbeit bedeutet aber in der kapitalistischen Gesellschaft auch die gänzliche Zerstörung des Familienlebens der Arbeiter, ohne Ersetzung desselben durch eine höhere Familienform. Die kapitalistische Produktionsweise löst den Einzelhaushalt des Arbeiters in den meisten Fällen nicht auf, aber sie raubt ihm alle seine Lichtseiten und läßt nur seine Schattenseiten fortbestehen, vor allem die Kraftvergeudung und die Abschlie-ßung der Frau vom öffentlichen Leben. Die industrielle Arbeit der Frau bedeutet heute nicht ihre Entlastung von der Haushaltungsarbeit, sondern die Vermehrung ihrer bisherigen Lasten um eine neue. Aber zweien Herrn kann man nicht dienen. Die Haushaltung des Arbeiters verkommt, wenn seine Frau mithelfen muß zu verdienen; was jedoch die heutige Gesellschaft anstelle der Einzelhaushaltung und der Einzelfamilie setzt, das ist elendes Surrogat, die Volksküche und die Armenschule, welche die Abfälle von der leiblichen und geistigen Nahrung der Reichen den unteren Klassen vorwerfen.

Man klagt die Sozialdemokratie an, sie wolle die Familie aufheben. Wohl, wir wissen, daß jede besondere Betriebsweise auch ihre besondere Form des Haushalts hat, der eine besondere Form der Familie entspricht. Wir halten die heute bestehende Form der Familie nicht für ihre letzte und erwarten, daß eine neue Gesellschaftsform auch eine neue Familienform entwickeln wird. Aber eine solche Erwartung ist denn doch etwas ganz anderes als ein Bestreben nach Auflösung jeden Familienverbandes. Wer die Familie aufhebt – nicht bloß aufheben will, sondern tatsächlich vor unseren Augen aufhebt, das sind nicht die Sozialdemokraten, sondern die Kapitalisten. Manche Sklavenhalter rissen ehedem den Mann vom Weib, die Eltern von den arbeitsfähigen Kindern; aber die Kapitalisten übertrumpfen noch die Scheußlichkeiten der Sklaverei; sie reißen den Säugling von der Mutter und zwingen diese, ihn fremden Händen anzuvertrauen. Und eine Gesellschaft, in der das täglich in Hunderten und Tausenden Fällen sich ereignet, eine Gesellschaft, die eigene, von ihren „Spitzen“ begünstigte „wohltätige“ Anstalten geschaffen hat, welche es der Mutter erleichtern sollen, sich von ihrem Kind zu trennen – eine solche Gesellschaft hat die Stirn, uns vorzuwerfen, wir wollten die Familie auflösen, weil wir der Überzeugung sind, daß die Arbeiten des Haushalts immer mehr, wie bisher, so auch weiterhin, sich zu besonderen Berufsarbeiten entwickeln und damit das Haushaltungswesen und das Familienleben umgestalten werden!
 

4. Die Prostitution

Hand in Hand mit dem Vorwurf der Auflösung der Familie geht der der Weibergemeinschaft, die wir angeblich anstreben. Dieser Vorwurf ist ebenso verlogen wie der andere. Wir behaupten vielmehr, daß gerade das Gegenteil jeder Weibergemeinschaft, jedes geschlechtlichen Zwanges und jeder Unzucht, nämlich die ideale Liebe, in einem sozialistischen Gemeinwesen der Grund aller ehelichen Verbindungen sein wird und daß diese Liebe erst in einem solchen zu allgemeiner Geltung gelangen kann. Was sehen wir dagegen heute? Die Widerstandslosigkeit der Frauen, die, bisher in ihren Haushaltungen eingeschlossen, von dem öffentlichen Leben und der Macht der Organisation meist nur dunkle Begriffe haben, ist so groß, daß der kapitalistische Unternehmer es wagen darf, ihnen dauernd Löhne zu zahlen, die zu ihrer Erhaltung nicht ausreichen, und sie für deren Ergänzung auf die Prostitution zu verweisen. Die Zunahme der industriellen Frauenarbeit zeigt überall die Tendenz, eine Zunahme der Prostitution nach sich zu ziehen. Es gibt im Staat der Gottesfurcht und frommen Sitte ganze „blühende“ Industriezweige, deren Arbeiterinnen so schlecht entlohnt sind, daß sie verhungern müßten, wenn sie sich nicht prostituierten. Und die Unternehmer erklären, gerade auf diesen niederen Löhnen beruhe die Konkurrenzfähigkeit, die „Blüte“ ihrer Industrie. Höhere Löhne würden sie zugrunde richten.

Die Prostitution ist so alt wie der Gegensatz zwischen arm und reich. Aber ehedem bildeten die Prostituierten ein Mittelding zwischen Bettlern und Gaunern, waren sie ein Luxus, den die Gesellschaft sich erlauben konnte, dessen Verlust aber keineswegs ihren Bestand gefährdet hätte. Heute sind es nicht bloß die Lumpenproletarierinnen, sondern auch die arbeitenden Frauen, die gezwungen sind, ihren Körper gegen Entgelt preiszugeben. Diese Preisgebung ist nicht mehr bloß eine Luxussache, sie ist eine der Grundlagen der Entwicklung der Industrie geworden. Unter der kapitalistischen Produktionsweise wird die Prostitution zu einer der Stützen der Gesellschaft. Was die Verteidiger dieser Gesellschaft uns vorwerfen, das betreiben sie selbst, die Weibergemeinschaft. Allerdings nur die Gemeinschaft mit den Weibern des Proletariats. Und so tiefe Wurzeln hat diese Art der Weibergemeinschaft in der heutigen Gesellschaft gefaßt, daß ihre Vertreter allgemein die Prostitution für eine Notwendigkeit erklären. Sie können sich nicht vorstellen, daß die Aufhebung des Proletariats die Aufhebung der Prostitution bedeutet, weil sie sich eine Gesellschaft ohne Weibergemeinschaft überhaupt nicht vorstellen können.

Die heutige Weibergemeinschaft ist eine Erfindung der höheren Gesellschaftsschichten, nicht des Proletariats. Diese Weibergemeinschaft ist eine der Arten der Ausbeutung des Proletariats. Sie ist nicht Sozialismus, sondern das Gegenteil davon.
 

5. Die industrielle Reservearmee

Die Einführung der Frauen- und Kinderarbeit in die Industrie ist, wie wir gesehen, eines der mächtigsten Mittel für die Kapitalisten, die Arbeitslöhne herabzudrücken.

Aber zeitweise wirkt ebenso mächtig ein anderes Mittel: die Zufuhr von Arbeitern aus zurückgebliebenen Gegenden, wo die Bevölkerung noch geringe Bedürfnisse, dafür aber eine durch das Fabrikwesen noch nicht gebrochene Arbeitskraft besitzt. Die Entwicklung des Großbetriebs, namentlich des Maschinenwesens, schafft nicht nur die Möglichkeit, diese ungeschulten Arbeiter anstelle geschulter zu verwenden, sie schafft auch die Möglichkeit, sie billig und rasch herbeizuschaffen. Hand in Hand mit der Entwicklung der Produktion geht die Entwicklung des Verkehrswesens; der Massenproduktion entspricht der Massentransport, nicht bloß von Waren, sondern auch von Personen. Dampfschiffe und Eisenbahnen, diese gepriesenen Träger der Kultur, bringen nicht bloß Gewehre, Schnaps und Syphilis zu den Barbaren, sie bringen auch die Barbaren zu uns und mit ihnen die Barbarei. Der Zuzug der Landarbeiter in die Städte wird nun ein immer stärkerer. Und von immer weiter her ziehen die bedürfnislosen, ausdauernden und widerstandslosen Scharen herbei. Slawen, Schweden und Italiener kommen als Lohndrücker nach Deutschland; Deutsche, Belgier, Italiener nach Frankreich; Slawen, Deutsche, Italiener, Irländer, Schweden nach England und den Vereinigten Staaten; Chinesen nach Amerika und Australien, vielleicht in nicht allzu ferner Zeit auch nach Europa. Auf deutschen Schiffen nehmen bereits Chinesen und Neger die Stelle von weißen Arbeitern ein.

Diese fremden Arbeiter sind zum Teil Expropriierte, Kleinbauern und Kleinbürger, welche die kapitalistische Produktionsweise ruiniert, von Haus und Hof verjagt hat und denen sie nicht nur ihr Heim nimmt, sondern auch ihre Heimat. Man sehe sich die zahllosen Auswandererscharen an und frage sich, ob es die Sozialdemokratie ist, welche sie vaterlandslos macht, welche die Vaterlandslosigkeit züchtet.

Durch die Expropriierung von Kleinbauern und Kleinbürgern, durch die Herbeischaffung von Arbeitermassen aus fernen Ländern, durch die Entwicklung der Frauen- und Kinderarbeit, durch die Verkürzung der Lehrzeit, die eine bloße Anlernzeit wird, gelingt es der kapitalistischen Produktionsweise, die Zahl der Arbeitskräfte, die ihr zur Verfügung stehen, ungeheuer zu vermehren. Und Hand in Hand damit geht eine stetige Zunahme der Produktivität der menschlichen Arbeit infolge des ununterbrochenen Fortgangs technischer Verbesserungen und Vervollkommnungen. Und nicht genug damit steigert die kapitalistische Ausbeutung auch die Ausnützung der einzelnen Arbeitskraft aufs äußerste, teils durch Ausdehnung der Arbeitszeit, teils auch, namentlich dort, wo die Gesetzgebung oder Arbeiterorganisationen ersteres untunlich machen, durch größere Anspannung des Arbeiters.

Und gleichzeitig wirkt die Maschine dahin, Arbeitskräfte überflüssig zu machen. Jede Maschine erspart Arbeitskraft – wenn sie das nicht täte, wäre sie ja zwecklos. In jedem Industriezweig ist der Übergang von der Handarbeit zur Maschinenarbeit mit den größten Leiden der betroffenen Handarbeiter verknüpft, die, seien es nun Handwerker oder Manufakturarbeiter, überflüssig gemacht und aufs Pflaster gesetzt werden. Diese Wirkung der Maschine war es, welche die Arbeiter zuerst empfanden. Zahlreiche Aufstände in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts zeugten davon, welche Summen von Leiden der Übergang zur Maschinenarbeit über die Handarbeiter verhängte, welche Empörung und Verzweiflung sie mit sich brachte. Die Einführung des Maschinenwesens sowie jede folgende Verbesserung desselben ist für einzelne Arbeiter schichten stets verderblich: Freilich können unter Umständen andere Arbeiterschichten – z. B. die in der Maschinenfabrikation Beschäftigten – dadurch gewinnen. Aber wir glauben nicht, daß dies Bewußtsein die Verhungernden sehr trösten wird.

Eine jede neue Maschine bewirkt, daß infolge ihrer Einführung ebensoviel wie früher bei geringerer Arbeiteranzahl oder, bei gleicher Arbeiteranzahl, mehr als früher erzeugt wird. Soll also die Zahl der in einem Lande beschäftigten Arbeiter unter dem Einfluß der fortschreitenden Entwicklung des Maschinenwesens nicht abnehmen, dann muß der Markt sich in demselben Verhältnis erweitern, in dem die Produktivkraft der Arbeiter wächst. Da aber die ökonomische Entwicklung gleichzeitig die Arbeitsleistung der Arbeiter erhöht und die Menge der verfügbaren Arbeitskräfte rasch steigert – und zwar viel rascher, als die Gesamtbevölkerung zunimmt –, so muß, soll nicht Arbeitslosigkeit eintreten, der Markt sich noch viel rascher erweitern, als der Vermehrung der Produktivkraft der Arbeiter durch die Maschine entspricht.

Eine so rasche Ausdehnung des Marktes hat unter der Herrschaft der kapitalistischen Großindustrie kaum jemals, sicher nie für einen auch nur einigermaßen erheblichen Zeitraum auf einem größeren Gebiet der kapitalistischen Industrie stattgefunden. Die Arbeitslosigkeit ist also eine ständige Erscheinung der kapitalistischen Großindustrie, die mit ihr untrennbar verknüpft ist. Auch in den besten Zeiten, wenn der Markt plötzlich eine bedeutende Erweiterung erfährt und die Geschäfte am flottesten gehen, ist die Industrie nicht imstande, alle Arbeitslosen in Tätigkeit zu setzen; in schlechten Zeiten, während einer Geschäftsstockung, wächst deren Zahl ins riesenhafte an. Sie bilden eine ganze Armee – die industrielle Reservearmee, wie Marx sie genannt hat, denn sie bilden eine Armee von Arbeitskräften, die dem Kapital stets zur Verfügung steht, aus der es stets Reserven heranziehen kann, wenn die industrielle Kampagne anfängt, hitzig zu werden.

Für den Kapitalisten ist diese Reservearmee unschätzbar. Sie bildet für ihn eine wichtige Waffe, um die Armee der Arbeitenden im Zaum zu halten und sie fügsam zu machen. Nachdem die Überarbeit der einen die Arbeitslosigkeit der anderen hervorgerufen, wird die Arbeitslosigkeit dieser ein Mittel zur Erhaltung und Steigerung der Überarbeit jener. Und da sage man, in dieser Welt sei nicht alles aufs beste eingerichtet!

Schwankt die Ausdehnung der industriellen Reservearmee auf und ab mit den Schwankungen des Geschäftslebens, so zeigt sie doch im allgemeinen die Neigung, sich in aufsteigender Richtung zu bewegen. Denn die technische Umwälzung geht immer rascher vor sich, umfaßt immer weitere Gebiete; die Ausdehnung des Marktes findet dagegen immer mehr Schranken. Wir werden darauf noch in einem anderen Zusammenhange zurückkommen. Hier genüge es, darauf hingewiesen zu haben.

Was bedeutet aber die Arbeitslosigkeit? Sie bedeutet nicht bloß Not und Elend für die von ihr Betroffenen, nicht bloß vermehrte Knechtung und Ausbeutung für die Arbeitenden, sie bedeutet auch die Unsicherheit der Existenz für die gesamte Arbeiterklasse.

Was immer die früheren Ausbeutungsweisen über den Ausgebeuteten verhängen mochten, eines gaben sie ihm: die Sicherheit seiner Existenz. Der Lebensunterhalt des Sklaven und des Leibeigenen war gesichert, wenigstens für so lange, als die Existenz seines Herrn selbst gesichert war. Nur der Untergang seines Herrn konnte ihm seine Lebensbedingungen rauben.

Welches Elend, welche Not unter den früheren Produktionsweisen immer zeitweise über die Bevölkerung hereinbrechen mochten, es war nicht eine Folge der Produktion, sondern einer Störung der Produktion, durch Mißwachs, Seuchen, Überschwemmungen, Einbruch feindlicher Heere usw.

Die Existenz des Ausbeuters und die des Ausgebeuteten sind heute nicht miteinander verknüpft. Der Arbeiter kann jeden Augenblick mit Weib und Kind auf die Straße geworfen und dem Hungertod preisgegeben werden, ohne daß sich in den Verhältnissen des Ausbeuters, den er reich gemacht, das mindeste ändert.

Und das Elend der Arbeitslosigkeit ist heute nur ganz ausnahmsweise Folge von Störungen der Produktion durch äußere, übermächtige Einflüsse, es ist vielmehr die naturnotwendige Folge der Entwicklung der Produktion selbst. Störungen der Produktion vermehren heutzutage oft die Arbeitsgelegenheit, statt sie zu vermindern: Man erinnere sich der Folgen des Kriegs von 1870 für das Wirtschaftsleben Deutschlands und Frankreichs in den nächsten darauffolgenden Jahren.

Unter der Herrschaft des Kleinbetriebs war das Einkommen des Arbeiters in der eigenen Wirtschaft um so größer, je fleißiger er war. Faulheit dagegen ruinierte ihn, machte ihn arbeitslos. Heute wird die Arbeitslosigkeit um so größer, je mehr, je länger die Arbeiter arbeiten. Der Arbeiter schafft seine Arbeitslosigkeit durch seine eigene Arbeit. Wie so mancher andere Grundsatz aus der Welt des Kleinbetriebs ist auch der, daß der Fleiß des Arbeiters sein Glück begründet, durch den kapitalistischen Großbetrieb in sein Gegenteil verwandelt worden. Und wie dieser, ist auch der andere Grundsatz zur Lüge geworden, den noch immer mancher Philister den Arbeitern gegenüber im Munde führt, daß jeder sein Brot finde, der arbeiten wolle.

Ebensowenig wie das Eigentum ist der Besitz von Arbeitskraft heute eine sichere Schutzwehr gegen Not und Elend. Schwebt über dem Kleinbauern und Kleinhandwerker stets das Gespenst des Bankerotts, so über dem Lohnarbeiter stets das Gespenst der Arbeitslosigkeit.

Diese stete Unsicherheit ist von allen Übeln der heutigen Produktionsweise das quälendste, aber auch das empörendste, dasjenige, welches die Gemüter am tiefsten aufregt, jeder konservativen Neigung am gründlichsten den Garaus macht. Diese ewige Unsicherheit der eigenen Lage untergräbt den Glauben an die Sicherheit des Bestehenden und das Interesse an seiner Erhaltung. Und wer durch das Bestehende in ewiger Furcht erhalten wird, verliert die Furcht vor dem Neuen.

Überarbeit, Arbeitslosigkeit und Auflösung der Familie, das bringt die kapitalistische Produktionsweise dem Proletariat, und zugleich sorgt sie dafür, daß der proletarische Zustand auf immer weitere Kreise sich ausdehnt und zusehends der Zustand der großen Masse der Bevölkerung wird.
 

6. Die wachsende Ausdehnung des Proletariats:
Das kaufmännische und das „gebildete“ Proletariat

Nicht bloß durch die stete Ausdehnung der Großindustrie bewirkt die kapitalistische Produktionsweise, daß der proletarische Zustand immer mehr der Zustand des Volkes überhaupt wird. Sie bewirkt dies auch dadurch, daß die Lage der Lohnarbeiter in der Großindustrie bestimmend wird für die Lage der Lohnarbeiter in den anderen Arbeitszweigen. Auch deren Arbeits- und Lebensbedingungen werden durch die Großindustrie umgewälzt; die Vorteile, welche diese Arbeiter etwa vor denen der kapitalistischen Industrie vorausgehabt, verwandeln sich nun unter dem Einflüsse der letzteren in ebenso viele Nachteile. Wo z. B. heute der Arbeiter des Handwerks noch bei dem Meister wohnt und ißt, da wird das ein Mittel, ihn noch schlechter wohnen und essen zu lassen als den Lohnarbeiter, der seinen eignen Haushalt führt. Die lange Lehrzeit war ehedem ein Mittel, die Überschwemmung des Handwerks mit Arbeitskräften zu verhüten; heute ist das Lehrlingswesen das wirksamste Mittel, das Handwerk mit billigen Arbeitskräften zu überschwemmen und die erwachsenen Arbeiter brotlos zu machen.

Auch hier wie auf anderen Gebieten ist unter dem Einfluß der kapitalistischen Produktionsweise Unsinn und Plage geworden, was unter der Herrschaft des Kleinbetriebs Vernunft und Wohltat war.

Das Bestreben der Zünftler, das alte Innungswesen zu erneuern, läuft im Grunde darauf hinaus, durch Wiederbelebung der alten Formen neue Ausbeutungsmittel ihren Arbeitern gegenüber in die Hand zu bekommen. Sie wollen sich vor dem Versinken im Sumpf dadurch schützen, daß sie sich einige Proletarierleiber unterlegen. Und dann sind die Herren entrüstet, wenn das Proletariat für diese Art, den unvermeidlichen Untergang des Kleinbetriebs etwas hinauszuschieben, sich nicht begeistern kann.

Dieselbe Entwicklung wie im Handwerk vollzieht sich im kaufmännischen Gewerbe. Der Großbetrieb beginnt, auch auf dem Gebiete des Zwischenhandels den Kleinbetrieb zu verdrängen. Die Zahl der kaufmännischen Kleinbetriebe braucht deswegen nicht abzunehmen. Im Gegenteil, sie nimmt zu. Der Zwischenhandel ist die letzte Zuflucht der bankerotten Existenzen des Kleinbürgertums. [5] Den Zwischenhandel einschränken – etwa durch Einengung des Hausierhandels – heißt nichts, als diesen Existenzen den Boden gänzlich unter den Füßen wegziehen und sie ins Lumpenproletariat stoßen, sie zu Bettlern, Vagabunden, Zuchthauskandidaten machen: eine sonderbare Sozialreform.

Der Einfluß der Entwicklung des Großbetriebs äußert sich im Zwischenhandel nicht in der Abnahme der Zahl der Kleinbetriebe, sondern im Verkommen derselben. Die Existenz der selbständigen Kleinhändler wird immer unsicherer, proletarierhafter. Und daneben nimmt die Zahl der in den Großbetrieben Angestellten zu, wirklicher Proletarier, die keine Aussicht haben, sich je selbständig zu machen; es wächst die Kinderarbeit und die Frauenarbeit mit ihrer Begleiterin, der Prostitution; es wachsen Überarbeit, Arbeitslosigkeit und Lohndrückerei auch auf diesem Wirtschaftsgebiete. Die Lage des kaufmännischen Angestellten nähert sich immer mehr derjenigen des Proletariers der Industrie. Er unterscheidet sich von ihm fast nur dadurch, daß er den Schein einer höheren Lebenshaltung aufrechterhalten und für denselben Opfer bringen muß, die der industrielle Proletarier nicht kennt.

Und noch eine andere Proletarierschicht beginnt sich zu entwickeln: das Proletariat der Gebildeten. Gebildet sein ist in unserer Produktionsweise ein besonderes Geschäft geworden. Das Maß des Wissens hat sich unendlich erweitert und wächst von Tag zu Tag. Und die kapitalistische Gesellschaft wie der kapitalistische Staat bedürfen immer mehr der Männer der Wissenschaft und Kunst zur Führung ihrer Geschäfte und zur Unterwerfung der Naturkräfte, sei es zu Zwecken der Produktion oder der Zerstörung oder zur luxuriösen Verwendung ihres zunehmenden Überflusses. Aber nicht nur der Bauer, der Handwerker oder gar der Proletarier, auch der Kaufmann, der Fabrikant, der Bankier, der Börsenspekulant, der Großgrundbesitzer haben keine Zeit, sich der Kunst und Wissenschaft zu widmen. Sie sind ganz von ihren Geschäften und Vergnügungen in Anspruch genommen. In der heutigen Gesellschaft sind es nicht, wie in früheren Gesellschaftsformen, die Ausbeuter selbst oder mindestens eine Klasse derselben, welche die Künste und Wissenschaften pflegen. Sie überlassen diese Tätigkeit einer besonderen Klasse, die sie dafür bezahlen. Die Bildung wird eine Ware.

Aber bis vor wenigen Jahrzehnten noch war sie eine seltene Ware. Der Schulen gab es wenige, das Studieren war mit bedeutenden Kosten verknüpft. Die Bauern waren meist zu verelendet, als daß sie die Mittel aufgebracht hätten, ihre Söhne auf die höheren Schulen zu senden. Das Handwerk und der Handel hatten dagegen noch einen goldenen Boden; wer dabei war, blieb dabei; nur besondere Begabung oder besondere Umstände veranlaßten den Sohn des Handwerkers oder Kaufmanns, sich der Kunst oder Wissenschaft zuzuwenden. Während die Nachfrage nach Beamten, Technikern, Ärzten, Lehrern, Künstlern usw. stieg, blieb die Zufuhr fast ganz auf den Nachwuchs dieser Kreise selbst beschränkt.

Die Ware Bildung stand daher hoch im Preise. Ihr Besitz verschaffte wenigstens denen, die sie zu praktischen Zwecken verwendeten, den Advokaten, Beamten, Ärzten, Professoren etc., meist ein auskömmliches Leben, er verschaffte oft auch Ruhm und Ehre. Der Künstler, der Dichter, der Philosoph waren die Gesellschafter der Könige. Der Aristokrat des Geistes fühlte sich dem der Geburt wie dem des Geldes überlegen. Seine einzige Sorge war die Entfaltung seiner geistigen Güter. Daher konnten die Gebildeten Idealisten sein und waren es auch oft. Sie standen über den anderen Klassen und deren materiellen Bestrebungen und Gegensätzen. Bildung bedeutete Macht, Glück und Liebenswürdigkeit: Was lag näher als der Schluß, um alle Menschen glücklich und liebenswürdig zu machen, um die Klassengegensätze zu überwinden und Armut und Gemeinheit aus der Welt zu schaffen, sei nichts notwendig als die Verbreitung von Bildung?

Seitdem hat die Ausdehnung des höheren Schulwesens – und nur um die höhere Bildung handelt es sich hier – gewaltige Fortschritte gemacht. Die Zahl der Lehranstalten ist ungemein vermehrt worden. In noch stärkerem Maße wuchs die Zahl der Schüler. Der Kleinbetrieb in Handel und Industrie hat seinen goldenen Boden verloren. Der Kleinbürger weiß seine Kinder nicht mehr anders vor dem Versinken ins Proletariat zu bewahren, als daß er sie studieren läßt, wenn er nur einigermaßen die Mittel dazu erschwingen kann. Und er muß darauf bedacht sein, nicht nur für seine Söhne, sondern auch für seine Töchter zu sorgen. Denn die fortschreitende Arbeitsteilung verwandelt, wie schon erwähnt, immer mehr Arbeiten des Haushalts in besondere Berufstätigkeiten, verringert immer mehr die Arbeit im Haushalt, so daß eine Ehe, in der die Frau nichts ist als Haushälterin, immer mehr ein Luxus wird. Gleichzeitig aber verarmt, wie wir gesehen, das Kleinbürgertum, so daß es immer mehr die Fähigkeit verliert, sich einen Luxus zu gestatten. Immer größer wird die Zahl der Ehelosen, immer größer die Zahl derjenigen Familien, in denen Frau und Tochter arbeiten müssen, um zu verdienen. So wächst die Frauenarbeit nicht nur auf den Gebieten der großen und kleinen Industrie und des Zwischenhandels, sondern auch im Beamtenwesen des Staats und privater Unternehmungen, der Post, Telegraphie, Eisenbahnen, Banken etc., in der Kunst und der Wissenschaft. Mögen Vorurteile und persönliche Interessen noch so laut dagegen schreien, die Frauenarbeit bürgert sich auf den verschiedensten Gebieten der geistigen Arbeit immer mehr ein. Nicht Eitelkeit, nicht Vordringlichkeit, nicht Übermut, sondern der Zwang der ökonomischen Entwicklung treibt die Frauen zur Arbeit auf diesen wie auf den anderen Gebieten menschlicher Tätigkeit. Wenn es den Männern in einigen Zweigen der Geistesarbeit, die noch zünftig organisiert sind, gelungen ist, die Konkurrenz der Frauen auszuschließen, so drängen sich diese um so mehr in die nicht zünftigen, z. B. Schriftstellerei, Malerei, Musik.

Eine Folge dieser ganzen Entwicklung ist es, daß die Zahl der Gebildeten im Verhältnis zu früher ungeheuer zugenommen hat. Aber die günstigen Folgen sind ausgeblieben, welche die Idealisten von der Zunahme der Bildung erwarteten. Solange die Bildung eine Ware ist, heißt die Verbreitung der Bildung die Vermehrung dieser Ware und damit die Senkung ihres Preises, also die Verschlechterung der Lage ihrer Besitzer. Die Zahl der Gebildeten ist in einem Maße gewachsen, daß sie den Bedürfnissen der Kapitalisten und des Kapitalistenstaates mehr als genügt. Der Arbeitsmarkt für die Arbeiter der Bildung ist heute ebenso überfüllt wie der der Handarbeiter. Auch die geistigen Arbeiter haben bereits ihre Reservearmee, die Arbeitslosigkeit ist in ihren Reihen ebenso ein ständiger Gast wie in denen der Industriearbeiter. Diejenigen, die zu einem Staatsamt gelangen wollen, müssen Jahre, oft über ein Jahrzehnt warten, bis sie zu einem der schlechtbezahlten unteren Posten gelangen. Bei den anderen wechseln Arbeitslosigkeit und Überarbeit ebenso ab wie bei den Handarbeitern, und wie bei diesen ist die Lohndrückerei an der Tagesordnung.

Die Klassenlage der Arbeiter der Bildung verschlechtert sich zusehends; sprach man ehedem von der Aristokratie des Geistes, so spricht man jetzt vom Proletariat der Intelligenz; und bald wird diese Proletarier von den andern Lohnarbeitern nur noch eines unterscheiden: ihre Anmaßung. Sie bilden sich in ihrer Mehrheit immer noch ein, etwas Besseres zu sein als die Proletarier, sie rechnen sich immer noch zum Bürgertum, zur Bourgeoisie [6], aber so, wie sich der Bediente zu seiner Herrschaft rechnet. Sie haben aufgehört, die geistigen Führer der Bourgeoisie zu sein und sind ihre Klopffechter geworden. Das Strebertum wuchert unter ihnen empor; nicht die Entwicklung, sondern die Verwertung ihrer geistigen Güter ist jetzt ihre erste Sorge, und die Prostituierung ihres Ichs ihr Hauptmittel, vorwärts zu kommen. Wie die Kleingewerbetreibenden werden auch sie geblendet durch einige wenige glänzende Treffer in der Lotterie ihres Lebens; sie übersehen die zahllosen Nieten, die ihnen gegenüberstehen, und verschachern Seele und Leib für die bloße Aussicht, einen solchen Haupttreffer zu machen. Das Verkaufen der eigenen Überzeugung und die Geldheirat, das sind in den Augen der Mehrheit unserer Gebildeten zwei ebenso selbstverständliche wie unentbehrliche Mittel geworden, „sein Glück zu machen“. Das hat die kapitalistische Produktionsweise aus den Idealisten, den Forschern, Denkern und Träumern gemacht!

Aber das Angebot wächst zu stark, als daß im allgemeinen aus der Bildung selbst dann viel herauszuschlagen wäre, wenn man seine Persönlichkeit mit in den Kauf gibt. Das Versinken der Masse der Gebildeten im Proletariat ist nicht mehr aufzuhalten.

Ob diese Entwicklung dahin führen wird, daß die Gebildeten sich in Masse und nicht bloß vereinzelt, wie bisher, dem kämpfenden Proletariat anschließen, ist noch ungewiß. Sicher aber ist eines: Mit der Proletarisierung der Gebildeten ist dem Proletarier der letzte Ausweg verschlossen worden, um auf eigene Faust, für sich allein, dem Proletariat zu entrinnen, zu einer höheren Klasse aufzusteigen.

Daß der Lohnarbeiter ein Kapitalist werde, ist von vornherein ausgeschlossen, wenigstens im regelmäßigen Lauf der Dinge. Ein Gewinn in der Hamburger Lotterie oder ein reicher Onkel in Amerika kommen für vernünftige Leute bei Erörterungen über die Lage der Arbeiterklasse nicht in Betracht. Aber unter besonders günstigen Umständen kann es ja hie und da einem der bessergestellten Arbeiter gelingen, unter harten Entbehrungen so viel zu sparen, daß er einen kleinen Handwerksbetrieb oder einen Kramladen eröffnen oder einen seiner Söhne studieren, etwas „Besseres“ werden lassen kann. Es war stets lächerlich, die Arbeiter auf solche Möglichkeiten zu verweisen, um ihre oder ihrer Kinder Lage zu verbessern. Denn im gewöhnlichen Lauf der Dinge kann ein Arbeiter, wenn er überhaupt zum Sparen kommt, froh sein, wenn es ihm gelingt, in guten Zeiten so viel zurückzulegen, daß er bei einfallender Arbeitslosigkeit nicht ganz entblößt dasteht. Heutzutage aber ist die Vertröstung der Arbeiter auf diese Auswege lächerlicher als je. Denn die ökonomische Entwicklung macht nicht bloß das Sparen des Arbeiters immer unmöglicher, sie macht es auch unmöglich, daß er, selbst wenn es ihm gelingt, das Nötige zu erübrigen, dadurch sich oder seine Kinder aus der proletarierhaften Existenz emporhebt. Zum selbständigen Kleinbetrieb übergehen, heißt für ihn, sich aus einem Elend in das andere stürzen, um in der Regel bald wieder in das frühere Elend zurückkehren zu müssen und die Erkenntnis, daß der Kleinbetrieb unhaltbar sei, mit dem Verlust der Ersparnisse zu erkaufen.

Noch schwieriger als der Übergang zu selbständigem Kleinbetrieb, ja fast hoffnungslos ist heute der Versuch des Proletariers, seinen Sohn studieren zu lassen. Aber nehmen wir an, ein solcher Versuch sei gelungen, was soll nun dem Proletariersohn, der mit der Verwertung seiner Kenntnisse nicht warten kann, dem keine Protektion zur Seite steht, seine höhere Bildung nützen, jetzt, wo Tausende von Juristen jahrelang warten müssen, bis im Staatschenst die Reihe an sie kommt, wo Techniker, Chemiker, absolvierte Handelsschüler zu Hunderten stellenlos herumlaufen?

Wohin der Proletarier sich heute wenden mag, überall stößt er auf proletarierhafte Lebens- und Arbeitsbedingungen. Das Proletariertum durchdringt immer mehr und mehr die ganze Gesellschaft; die Masse der Bevölkerung ist heute schon in allen Kulturländern auf die Stufe des Proletariats herabgesunken. Jede Aussicht ist für den einzelnen Proletarier verschwunden, sich auf eigene Faust, durch eigene Kraft aus dem Sumpf herauszuarbeiten, in den ihn die heutige Produktionsweise stößt. Er kann seine Erhebung nur erreichen durch Hebung der ganzen Klasse, der er angehört.


Anmerkungen des Verfassers

5. Es waren in Deutschland 1882 beschäftigt von je tausend Arbeitern der betreffenden Gruppe in

Betrieben Industrie Handelsgewerbe Beherbergung und Erquickung
ohne Gehilfen 245 359 285
mit 1–5 Gehilfen 324 448 552
mit 6–10 Gehilfen   43   68   70
mit 11–50 Gehilfen 126 103   89
mit über 50 Gehilfen 262   22     4

Man sieht, im Handel und der Gastwirtschaft überwiegen die Kleinbetriebe viel mehr als in der Industrie.

6. Im Deutschen bedeutet das Wort „Bürger“ nicht bloß den Angehörigen einer bestimmten Klasse, der Klasse der Besitzenden in den Städten, sondern auch jeden Angehörigen des Staates, den Staatsbürger. Der Franzose hat dafür zwei Bezeichnungen. Der erstere ist der „bourgeois“, der zweite der „citoyen“. Da das Wort Bourgeois bezeichnender ist als das Wort „Bürger“, hat es sich auch in Deutschland eingebürgert.


Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012