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Dieser Artikel erschien zum 50 Jahrestag der Ermordung Trotzkis in der Zeitschrift Klassenkampf.
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Keiner der großen politischen Persönlichkeiten unserer Bewegung wurde mehr verfolgt und verleumdet als Trotzki. Sein Leben war eine Kombination besonders heroischer und tragischer Ereignisse. Nicht nur Trotzki wurde von einem Agenten Stalins ermordet. Seine erste Frau wurde in Sibirien ermordet, ebenso wurden alle seine vier Kinder ermordet oder zum Selbstmord gedrängt. Von seinen Enkelkindern überlebten nur zwei.
Er war in den ersten 4 Jahrzehnten dieses Jahrhunderts aktiv. Seine umfangreichen Schriften behandeln jedes bedeutende internationale Ereignis dieser Zeit und sind eine Quelle der Inspiration von Anfang bis Ende.
Am Anfang des Jahrhunderts schrieb Trotzki: „Solange ich atme, habe ich Hoffnung. Solange ich atme, werde ich für die Zukunft kämpfen, jene leuchtende Zukunft, in der die Menschen Herren über den fließenden Bach ihrer Geschichte sein werden und ihn in den grenzenlosen Horizont der Schönheit, Freude und Glück lenken.“ Dieser Geist gab ihm die Energie für mehr als 40 von großen Siegen und noch schlimmeren Niederlagen gekennzeichneten Jahren. Aber es reicht nicht aus zu diskutieren, was ihn inspirierte. Wichtig sind vor allem die aus seinen Inspirationen folgenden Resultate.
Im Alter von 26 Jahren war er der Vorsitzende des Petrograder Sowjets, dem ersten Arbeiterrat auf der Welt. In dieser Zeit produzierte er seinen bedeutenden theoretischen Beitrag, die Theorie der „Permanenten Revolution“.
Seit Marx wurde akzeptiert, daß die weiterentwickelten Länder in der Welt den zurückgebliebenen Ländern ihre künftige Entwicklung zeigen.
Deswegen würde Deutschland Englands Entwicklung folgen und Rußland dementsprechend Deutschlands. Trotzki betonte, daß die einzelnen Länder sich nicht in einem Vakuum entwickeln, sondern als ein Teil des internationalen Weltsystems des Kapitalismus.
Weil alle Länder Teil dieses Weltsystems sind, wird ihre Entwicklung in zweierlei Hinsicht beeinflußt. Erstens durch das von Trotzki so benannte „Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung“. „Ungleichmäßig“ bedeutet ganz einfach, daß sich die verschiedenen Länder mit unterschiedlicher Geschwindigkeit entwickeln. Sie entwickeln sich nicht parallel, sondern ein Land entwickelt sich schnell, ein anderes langsam. Zweitens: Da die Länder aber Teil eines Weltsystems sind, haben sie eine gemeinsame Entwicklung, was er die „kombinierte Entwicklung“ nannte.
Das bedeutet, daß einzelne Länder zwar ihre eigenen nationalen Bedingungen haben, aber nichtsdestotrotz in ihrer Entwicklung von internationalen Beziehungen und Zwängen geprägt sind. So haben die eingeborenen amerikanischen Indianer keine Entwicklung von der Stein- über die Bronzezeit zum Gewehr nach 50.000 Jahren vollzogen. Vielmehr übersprangen sie ganze Entwicklungsstufen und ihre Kultur verband sich mit dem durch die europäische Zivilisation eingeführtem Gewehr.
Ähnlich war Rußland 1905 wirtschaftlich rückständig, in manchen Gebieten hingegen fortgeschritten. Es war rückschrittlich, weil Millionen von russischen Bauern wie in mittelalterlichen Zeiten lebten und hölzerne Pflüge gebrauchten. Aber gleichzeitig gab es dort die größten Fabriken der Welt. Die Putilow-Metallbetriebe hatten 40.000 Beschäftigte. Keine vergleichbare Fabrik stand in den USA, England oder Deutschland. Diese Situation spiegelte sich in den Erwartungen und Ideen der Arbeiter wider. Sie kombinierten ihre Rückständigkeit mit den fortgeschrittensten Ideen dieser Zeit.
In England brauchte es Generationen, bevor die Arbeiter den 8-Stunden-Tag forderten. Der jungen Arbeiterklasse in Rußland fehlte es an Erfahrung, aber sie kam sofort auf die Idee des 8-Stunden-Tages. Nicht nur das, sondern sie gingen viel weiter als das, was die Arbeiter in England zu dieser Zeit diskutierten. Der Slogan des Petrograder Sowjet von 1905 war „8-Stunden und ein Gewehr“.
Es dauerte Jahre in England, bis Frauen Gewerkschaftsmitglieder werden konnten. Obwohl z.B. die „Amalgamated Society“, die Metallergewerkschaft in England, bereits 1852 gegründet wurde, war es Frauen erst 1943 erlaubt, beizutreten. Dazu hatte es also 91 Jahre und 2 Weltkriege gebraucht. In Rußland waren die Frauen von Anfang an in den Gewerkschaften. Deshalb sah Trotzki in der kommenden russischen Revolution die Kombination zweier Extreme in der Entwicklung des Kapitalismus.
Die Anfänge des Kapitalismus sind die Zeit der Bauernaufstände. In Rußland gab es gleichzeitig sowohl die Bauernaufstände wegen des Beginns des Kapitalismus als auch die proletarische Revolution – das Ende des Kapitalismus. Aber Bauern sind keine Arbeiter. Sie haben eine andere Haltung zum Leben. Sie sind keine kollektiv organisierte Klasse, sondern wollen das Land in individuelle Einheiten privaten Eigentums aufteilen.
Im Gegensatz dazu sagen Arbeiter nicht: „Laßt uns die Putilow-Fabrik in 40.000 Teile aufteilen, dann kann jeder sein kleines Stück Maschine mit nach Hause nehmen“. Deshalb würde die Revolution sich aus einer Kombination jener beiden Extreme entwickeln, aber unter Führung der städtischen Arbeiterklasse.
Die Oktoberrevolution von 1917 bestätigte Trotzkis Theorie vollkommen. Diese Theorie bildete die Grundlage für Trotzkis Schlußfolgerung, daß die Idee vom „Sozialismus in einem Land“ reaktionär sei. Die Natur des Kapitalismus als Weltsystem bedeutet, daß man ihm nirgends entrinnen kann. Trotzkis Opposition gegen die Idee des „Sozialismus in einem Land“, wurzelte in seinem Internationalismus, der Theorie von der „Permanenten Revolution“.
Die Lebenstragödie Trotzkis lag darin, daß allein die Richtigkeit von Ideen nicht unbedingt ihren Sieg bedeutet. Ideen werden nur zu einer materiellen Kraft, wenn sie von Millionen Menschen aufgenommen werden. Über Jahre hinweg wuchs so Trotzkis Position: Er organisierte den Oktoberaufstand, führte die fünf Millionen Soldaten umfassende Rote Armee und er stand an der Spitze der Komintern, der kommunistischen Weltbewegung mit ihren Millionen von Anhängern. 1920 gab es etwa in der Tschechoslowakei 350.000 Mitglieder, in Deutschland eine halbe Million.
Aber mit der Niederlage der deutschen Revolution 1923 folgte die Isolation der Russischen Revolution. Die Niederlage der Weltrevolution führte zu einem abnehmenden Selbstvertrauen der Arbeiterklasse. Die Verbindung zwischen Trotzkis Ideen und der unmittelbaren Entwicklung der Arbeiterklasse wurde immer schwächen
Aber die schlimmste Niederlage für die Arbeiterbewegung war Hitlers Machtübernahme 1933. Sie wog genauso schwer wie der Sieg von 1917. Seit mehreren Jahren hatte Trotzki argumentiert, daß Hitler deutsche Arbeiter ermorden und ihre Organisationen zerstören würde, wenn es der Arbeiterklasse nicht gelinge, ihre Kräfte zu vereinigen, um ihn zu stoppen.
Zu dieser Zeit war die Linke gespalten, in die Sozialdemokratie, die den Widerstand nicht organisieren konnte und die Kommunistische Partei, die Stalins Linie befolgte, wonach Sozialdemokratie und Faschismus Zwillinge seien. Trotzki argumentierte dagegen, daß die Sozialdemokratie das Kind des aufsteigenden Kapitalismus sei, während der Faschismus das Resultat des niedergehenden Kapitalismus sei. Weiter behauptete Stalin, daß sich Sozialdemokratie und Faschismus wohlwollend gegenüber stünden, weil sie dem selben Herren dienen – dem kapitalistischen System.
Trotzkis Forderung nach einer „Einheitsfront“ war hingegen richtig. Die Tragödie lag in dem Abgrund, der zwischen den großen Zielen und den beschränkten Mitteln ihrer Verwirklichung klaffte. Als Hitler die Macht in Deutschland übernahm, gab es in Deutschland nur 100 Trotzkisten. Mit diesen 100 Trotzkisten konnte keine Einheitsfront erzwungen werden.
Trotzki war mehr und mehr isoliert. Jener Trotzki, der einst fünf Millionen in der Roten Armee und Millionen in der Kommunistischen Internationale leitete, führte jetzt nur noch winzige Gruppen von Anhängern. Sie konnten nicht aus ihrer Isolation ausbrechen, weil Hitlers Sieg eine massive Stärkung Stalins bedeutete. Die Demoralisierung war so groß, daß die Arbeiter nach irgendeinem Halt vor dem Abgrund suchten. Der Stalinismus wurde zu einer Art Religion.
In diese Zeit fallen Trotzkis größte Leistungen. Jetzt, in den dreißiger Jahren, versuchte er die revolutionäre Tradition praktisch aus dem Nichts heraus wiederaufzubauen. Was Trotzki in diesen Jahren so großartig machte, war seine Fähigkeit, seine Leiden in Kraft, in brillante Schriften über eine Vielzahl von Fragen umzuwandeln.
Die Spanische Revolution, der langanhaltende Kampf in China selbst nach der Niederlage der Revolution in den Zwanzigern, der Klassenkampf in den USA, die Entwicklung des russischen Regimes, Philosophie waren seine Themen bis zum Ende seines Lebens, und er bewies dabei eine Offenheit, die ihn vollständig von seinen heutigen „orthodoxen“ Anhängern unterscheidet. Gleichzeitig verband Trotzki seine Analyse mit dem unaufhörlichen Streben nach dem Aufbau revolutionärer Organisation.
Trotzki machte in den 30er Jahren in seiner Analyse und in seinen politischen Einschätzungen viele Fehler. Wir können über diese Fehler diskutieren und aus ihnen lernen, aber sie sind nichts im Vergleich zu Trotzkis positiven Beiträgen. Er suchte auf der ganzen Welt Einzelne, um eine neue Generation die marxistische Tradition zu lehren. Er brachte diese Generation dazu, marxistische Ideen nicht einfach nur aufzunehmen, sondern aktiv in den Klassenkampf einzugreifen. Trotzkis Schriften aus den 30er Jahren sind eine unverzichtbare Quelle für uns. Sie sind unser Ausgangspunkt in dem Versuch, die revolutionäre sozialistische Tradition vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des Stalinismus in der ganzen Welt wiederaufzubauen. Ein Revolutionär zu sein heißt, über die Möglichkeiten der Zukunft der Menschheit nachzudenken.
Für lange Zeit waren Trotzkis Ideen kaum sichtbar, aber nach fünf Jahrzehnten des Stalinismus sind sie noch immer lebendig. Trotzki ist eine Brücke in die Zukunft. Die kommenden Jahrzehnte werden seine sein.
Last updated on 18.2.2003