Duncan Hallas

 

Trotzkismus neu bewertet

(1977)


Duncan Hallas: Trotsky re-evaluated aus International Socialism, Nr. 100, Juli 1977.
Diese Übersetzung wurde 1980 in der Zeitschrift Klassenkampf, Nr.8 veröffentlicht.
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Ich werde versuchen, jede politische Idee, über die wir diskutieren, zu durchleuchten und ihren Ursprung klarzumachen. Beginnen wir damit, wie wir mit dem traditionellen Trotzkismus gebrochen haben. Der Bruch entstand an einem einzelnen Punkt, der russischen Frage. Das war damals das zentrale Thema.

Was übernahmen wir eigentlich von Trotzki? Zunächst, daß die Arbeiterklasse das Subjekt der sozialistischen Revolution ist, d.h., die aktive Rolle des Proletariats ist das Kriterium für jede reale Veränderung der Gesellschaft ...

Die zweite Sache, die wir direkt von Trotzki übernahmen, ist die konsequente Opposition gegenüber allen heranwachsenden Bürokratien. Und drittens teilen wir Trotzkis Ansicht von der Unmöglichkeit des Sozialismus in einem Land, denn der Weltkapitalismus würde die Entwicklung in jedem Arbeiterstaat, in diesem Fall des russischen Arbeiterstaates zerstören. Wir akzeptieren von Trotzki die Frage des internationalen Charakters der Revolution. Diese Punkte haben wir von Trotzki übernommen. Wo liegen die Unterschiede?

Wenn man wie Trotzki davon ausgeht, daß die Arbeiterklasse das Subjekt der sozialistischen Revolution sei, dann denken wir, ist die Eigentumsform ein denkbar schlechtes Argument, um zu entscheiden, ob ein Arbeiterstaat existiert oder nicht ... Was den Arbeiter als Betroffenen wirklich kümmert, ist seine Stellung in der Produktion, d.h., welchen Platz er im Produktionsprozeß einnimmt; ob der Arbeiter in einem Staatsunternehmen wie der Eisenbahn oder in einem privaten Unternehmen wie der ICI [britischer Konzern – Anm.des Übersetzers] arbeitet, macht für ihn keinen Unterschied, weil er keine Kontrolle über die Produktion hat ... Trotzki war in seiner methodischen Herangehensweise nicht konsequent genug.

Das zweite Argument der wirtschaftlichen Planung ist für uns kein Kriterium, um die Natur des Staates zu bestimmen, da sich die Frage stellt, wer verplant wird und wer die Planung vornimmt. Wir kamen zu der Schlußfolgerung, daß die Arbeiterkontrolle das entscheidende Element ist, das den Arbeiterstaat bestimmt ... und deshalb ist der Arbeiterstaat ein Staat, in dem die Arbeiter ihr Schicksal selbst bestimmen können. Dies kann ihnen nicht abgenommen werden, das müssen sie selbst tun. Ist das Element der Arbeiterkontrolle abgeschafft, wird damit auch das Wesen des Arbeiterstaates zerstört.

Dies war und ist das erste und wichtigste theoretische Argument, das wir verwenden. Werden wir mit neuen Phänomenen und unterentwickelten Ländern im Prozeß der Industrialisierung konfrontiert, benutzen wir das gleiche Kriterium und die generelle Herangehensweise. Deshalb bieten die Ereignisse in China oder was mit Nkrumah passierte, für uns keine Überraschungen ... [1]

Der „Trotzkismus“ hat in den 37 Jahren seit Trotzkis Tod viele verschiedene Bedeutungen bekommen. Sich oft gegenseitig bekämpfende Gruppierungen bezeichnen sich als Trotzkisten, und es bringt nichts, zu ihrer Beurteilung irgendeinen Maßstab der Orthodoxie anzulegen. Es gibt viele verschiedene Trotzkismen. Darüberhinaus haben diejenigen, die in einer organisierten Form eine Zeitlang überlebten, tiefe und gründliche und manchmal wiederholt auftretende Wandlungen erdulden müssen. Z.B., die Mandel-Tendenz ist heute eine wesentlich andere politische Strömung als sie es noch vor zehn Jahren war und ihr politischer Gehalt ist heute wesentlich anders als vor zehn Jahren.

Dieser Artikel befaßt sich mit dem Trotzkismus als einem Produkt aus revolutionärer Theorie und Praxis, wie es von Trotzki in dem Jahrzehnt seines letzten Exils (1929-40) entwickelt wurde: Damit meine ich erstens, daß Trotzki um die Erhaltung der frühen kommunistischen Internationale in der einzig möglichen Weise kämpfte; und zwar durch eine lebendige Weiterentwicklung dieser Tradition. Zweitens machten die unglücklichen Umstände dieser geschichtlichen Periode seine Bemühungen um größere politische Erfolge nicht nur zunichte, sondern führten auch zu Verzerrungen in der Tradition selbst. Dies macht sich heute in den verschiedenen trotzkistischen Gruppierungen noch bemerkbar. Und letztlich begünstigte dies Trotzki auch selbst, obwohl er sich dessen bewußt war und entschieden gegen bestimmte Formen von Verdrehungen ankämpfte.

Mit der Tradition meine ich die Doktrin, Strategie und Taktik, die von der Komintern zu Lebzeiten Lenins entwickelt wurde. Eine Entwicklung, bei der Trotzki einen bedeutende Anteil hatte.

1932 schrieb Trotzki dazu: „Die Internationale Linke Opposition steht in der Tradition der ersten vier Kongresse der Komintem, aber das bedeutet nicht, daß sie sich den Beschlüssen grundsätzlich beugt. Vieles davon besitzt nur einen theoretisch verbindenden Charakter und hat sich in historischen Ereignissen widersprochen. Aber grundlegende Prinzipien (in bezug auf Imperialismus und den bürgerlichen Staat, Demokratie und Reformismus, Probleme des Aufstandes und der Diktatur des Proletariats; in Bezug auf die Lage der Bauernschaft und der unterdrückten Länder; Räte und die Gewerkschaftsarbeit, Parlamentarismus und Einheitsfrontpolitik) bleiben auch heute noch der höchste Ausdruck einer proletarischen Strategie in der Epoche der allgemeinen Krise des Kapitalismus.“ [2]

Hier läßt Trotzki eine wichtige Frage außer acht: den Charakter der kommunistischen Partei, die den aktiven bewußten Teil der Arbeiterklasse darstellt. Sie ist eine genaue Zusammenfassung der unentbehrlichen theoretischen Basis für eine revolutionäre marxistische Bewegung.

Die Komintern nach 1923 wich sehr schnell von der Linie der ersten vier Kongresse ab, zuerst in einer opportunistischen Richtung (1924-28) mit einem vorübergehenden „Linksschwenk“ 1924, dann in eine ultralinke Richtung (1928-34) und warf schließlich mit dem Schwenk in die Volksfrontstrategie ab 1935 die gesamte Basis kommunistischer Politik über Bord.

Trotzkis ausgezeichnete Analyse dieser Entwicklung und der unermüdliche Kampf, mit dem er versuchte, die authentische Tradition der Bewegung zu erhalten, war eine enorm wichtige Leistung. Unsere eigene Politik stützt sich darauf. Ein Grund mehr, sich kritisch mit den Schwächen des Trotzkischen Erbes auseinanderzusetzen.

Einige wichtige Punkte wurden schon in der oben zitierten Rede von Tony Cliff erwähnt. Bis Ende 1933 hatte Trotzki noch behauptet, die russische Arbeiterklasse habe noch die Möglichkeit, den bürokratisierten Staat mit „friedlichen und legalen Mitteln, ohne eine neue Revolution mit den Methoden und Wegen der Reform wieder zu erobern“. [3]

Wie unrealistisch war doch die Trotzkische Position in Wirklichkeit! Denn sie brachte ihn dazu, die marxistische Theorie von der Arbeiterklasse als aktives Subjekt der sozialistischen Revolution zu vereinbaren mit seiner Einschätzung von der UdSSR unter der Stalindiktatur als Arbeiterstaat. Nachdem diese „reformistische“ Sichtweise im Jahre 1933 aufgegeben wurde, entstand auch der erste Widerspruch in Trotzkis theoretischem System. Damals hatte dies keine wichtigen praktischen Konsequenzen. Die Sowjetunion konnte als Sonderfall betrachtet werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden eine ganze Reihe von Staaten gleicher Prägung durch alles andere als proletarische Revolutionen und brachten diesen inneren Widerspruch zum Ausbruch. Der theoretische Zusammenhang des Trotzkismus – von Trotzkis eigenem Trotzkismus – war erschüttert. Ende der 40er und Anfang der 50er Jahren zersplitterte die trotzkistische Bewegung, die bislang mehr oder weniger vereinigt war, in zahlreiche Splitter. Dazu führten die enorme Ausbreitung des Stalinismus, die Festigung des „sozialistischen Lagers“ und die Unfähigkeit der Trotzkisten, sich von Trotzkis Irrtum zu lösen,.

Aber es gab auch andere Fehler, die schon in der Bewegung verwurzelt waren und deren Saat zu Lebzeiten Trotzkis gesäht wurde. Sie gedeihen nun wie wucherndes Unkraut in den verschiedenen Trotzkismen.

 

 

Propagandismus und sein Preis

Die Opposition formiert sich gegenwärtig auf der Basis einer grundlegenden ideologischen Abgrenzung [1*] und nicht auf der Basis von Massenaktionen ... Massenaktionen sind maßgebend dafür, daß sekundäre und episodische Differenzen überwunden werden können und begünstigen eine Verschmelzung befreundeter und verwandter Tendenzen. Umgekehrt neigen ideologische Gruppierungen in einer Phase der Stagnation und des politischen Rückgangs der Bewegung zu Spaltungen, internen Kämpfen und Haarspaltereien. Wir können uns aus dieser Periode nicht herausstehlen, sondern müssen mit ihr fertig werden. Eine klare, präzise ideologische Unterscheidung ist unverzichtbar. Sie begründet und ermöglicht erst zukünftige politische Erfolge. [4]

Das erste Problem, dem sich Trotzki beim Aufbruch ins letzte Exil gegenübersah, war die Frage, wie eine zusammenhängende, kohärente Bewegung in der Kommunistischen Internationalen oder eine auf sie hinorientierte, aufzubauen sei.

Eine unabhängige Bewegung, die in der Arbeiterklasse Fuß fassen wollte, war ausgeschlossen. „Der Ruf nach einer zweiten Partei und einer Vierten Internationalen ist schlichtweg lächerlich... Wir identifizieren die Komintern nicht mit der stalinistischen Bürokratie ...“ [5]

Die Perspektive bestand darin, den Kurs der Kommunistischen Parteien zu beeinflussen, in der Hoffnung, daß die Auswirkungen der Ereignisse und die Kritik der linken Opposition sie vorwärtstreiben würde zu einer revolutionären, realistischen Politik. Wie in der UdSSR war Trotzkis Ziel eine Reformierung der kommunistischen Bewegung und nicht der Aufbau einer neuen Bewegung.

Tatsächlich scheiterte diese Politik. Die Zerschlagung der deutschen Arbeiterbewegung 1933 durch die Nazis war ein Ergebnis der Lähmung der KPD durch den kriminellen Wahnsinn der ultralinken „Dritten Periode“ der Komintern und zerstörte jegliche Hoffnung auf Erfolg dieser Politik.

Diesen Versuch zu machen, war zu diesem Zeitpunkt sicherlich richtig. Es gab keine Möglichkeit, unabhängige Parteien aufzubauen. Das enorme Ansehen der russischen Revolution, noch in frischer Erinnerung, wurde von Stalin ererbt und färbte auch auf die stalinistischen Führer der Kominternsektionen ab. Überdies waren dies die Jahre der größten Krise des Kapitalismus und gleichzeitig des ersten Fünfjahresplanes. Der Kontrast zwischen Massenarbeitslosigkeit und industriellem Wachstumsstopp im Westen und der fieberhaften Expansion der russischen Industrie war für Millionen von Arbeitern ein klares Argument.

Und hier Deutschland – „der Schlüssel zur internationalen Lage“, wie Trotzki richtig sagte. Ein hochindustrialisiertes Land mit der stärksten Arbeiterklasse in Europa und der größten KP in der Welt (da Trotzki die KPdSU nicht mehr als Partei sah, sondern als bürokratischen Apparat), war in eine tiefe, anhaltende soziale Krise gefallen, die nur durch die proletarische Revolution oder durch die faschistische Konterrevolution gelöst werden konnte. Die KPD (die 1932 250.000 Mitglieder hatte) abzuschreiben, hätte bedeutet, einem Sieg Hitlers noch Vorschub geleistet zu haben. Die KPD dagegen blieb wie alle Sektionen der Komintern dabei, daß die Sozialdemokratie – die seit 1929 wieder zu „Sozialfaschisten“ getauft worden war, der Hauptfeind war und nicht die Nazis. Sie denunzierte Trotzkis Forderung nach einer proletarischen Einheitsfront gegen Faschismus als „die Theorie eines ausgesprochen bankrotten Faschisten und Konterrevolutionärs“. [6]

Die Brillanz und bestechende Schärfe der Trotzkischriften über die deutsche Krise ist kaum von irgendeinem Marxisten erreicht, geschweige denn überboten worden, nicht ausgenommen Marx und Lenin. Aber Ideen können nur zu einer bewegenden Macht werden, sozialistische Ideen gewinnen nur an Bedeutung, wenn sie sich in der arbeitenden Klasse verankern können.

Die Kluft zwischen den Schriften Trotzkis und dem wirklichen Stand der deutschen Trotzkisten war schmerzlich. Es gab nur eine Handvoll, und sie waren fast alle sozial unbedeutende Leute, die gänzlich außerhalb der Arbeiterbewegung standen. Die deutsche Opposition, schrieb Trotzki 1932, hatte sogar darin versagt, „zehn einheimische Fabrikarbeiter“ zu rekrutieren. Sie bestand größtenteils aus „individualistischen, kleinbürgerlichen und verlumpten Elementen, die keine Disziplin ertragen konnten“. [7]

Die Macht der Stalinisten hatte die Deutschen – und nicht nur die Deutschen, wie wir sehen werden – in ein politisches Ghetto gedrängt, das ebenfalls seine soziale Bestimmung besaß; die intellektuellen Randgruppen des Kleinbürgertums. Das ist eine einfache und wichtige Tatsache über Trotzkis Anhänger: Sie stammten größtenteils aus einem kleinbürgerlichen Milieu und schafften es nicht, mit wenigen Ausnahmen, auszubrechen. Die politischen Konsequenzen dieser Tatsache wirkten sich tiefgreifend auf ihre weitere Entwicklung aus.

Eine dieser Ausnahmen, zumindest teilweise, war die amerikanische Gruppe. In ihren Reihen befand sich einer der angesehensten nichtrussischen Anhänger Trotzkis. Cannon, ein ehemaliger Führer der Kommunistischen Partei von Arbeiterherkunft und mit einer ansehnlichen Erfahrung in der Arbeiterbewegung und noch einige andere ähnlicher Herkunft wie Dunne, Swabeck, Oehler.

Trotzdem beschrieb Cannon selbst die Mitgliederschaft in den frühen Dreißigern so: „Wir sind dabei, aus Quellen zu rekrutieren, die nicht gerade die gesundesten sind ... Freaks, die immer nach der extremsten Form von Radikalismus Ausschau halten, Außenseiter, Windbeutel, chronische Oppositionisten, die schon aus einem halben Dutzend Organisationen hinausgeworfen wurden ... Viele Leute kamen zu uns, die gegen die KP revoltierten, nicht wegen ihrer schlechten Seiten, sondern wegen der guten Seiten: die Disziplin der Partei, die Unterordnung des Individuums unter die Beschlüsse der Partei in der tagespolitischen Arbeit. Eine Menge dilettanter, kleinbürgerlich gesinnter Leute, die keine Form von Disziplin aushalten konnten; viele der Neuankömmlinge bauten die Demokratie zum Fetisch auf ... Alle Leute dieses Schlages besitzen eine gemeinsame Eigenschaft; sie neigen dazu, über Dinge endlos und ohne zeitliches Limit zu diskutieren, und jede Frage wird letztlich zerredet.“ [8]

Mit milderen Worten, zu mild für den Zustand der französischen Sektion, die eine der schlechtesten war, beschreibt ein Historiker des französischen Trotzkismus die Hauptgruppe in Paris: „Die Pariser Gruppe beherbergte eine große Zahl von Intellektuellen, früheren kommunistischen Kadern, die nun völlig losgelöst von ihrer Basis waren.“ [9]

Der Trotzkismus wurde in dieses Milieu hineingedrängt, und Trotzki war sich im Klaren darüber, dies verändern zu müssen. Objektive Umstände machten das extrem schwierig. Subjektive Faktoren – die soziale Natur der Trotzkisten – waren ein zusätzliches Hindernis. Aber Trotzki vermischte diese Schwierigkeiten. Er brandmarkte die „geschlossenen Zirkel“ die „literarische Arroganz“ die „Selbstüberschätzung und das Über-den-Wolken-Schweben“. Gleichzeitig jedoch bestand er darauf, daß „alle Kader nur geschult werden können, wenn alle Fragen von der gesamten Organisation diskutiert würden ... Fragen über revolutionäre Taktiken und interne Fragen sollten Allgemeinbesitz eines jeden Mitglieds der organisierten Opposition sein.“ [10]

Diese Herangehensweise stärkte unvermeidlich die „intellektualistischen“ Tendenzen, denen die kleinbürgerliche Natur der Bewegung noch Auftrieb gab und machte eine wirkungsvolle Verankerung in der Arbeiterklasse noch schwieriger. Sie stärkte damit auch den Trend zur „natürlichen Auslese“ derjenigen, die „ohne Ende diskutieren“ wollten; den Trend hin zu einem „einzigen Diskussionsbrei“, wie Cannon sich beklagte.

Trotzki ermunterte die Sektionen der Opposition zum Kontaktaustausch über die Aktivitäten der verschiedenen Gruppen; er schrieb endlos Rundbriefe und Zirkulare, die erklärten, zum Beispiel an die Belgier, warum die Franzosen sich zerstritten hatten, an die Griechen, warum die deutschen Genossen starke Meinungsverschiedenheiten unter sich hatten; an die Polen, was die Streitpunkte zwischen verschiedenen Strömungen der belgischen oder amerikanischen Opposition waren usw. Er tat dies im Glauben, eine neue Elite von Kadern zu schulen, neue „revolutionäre Kader“ zu trainieren. [11]

Dies war zweifellos unvermeidlich. Es war eine notwendige Konsequenz aus der, zum damaligen Zeitpunkt richtigen, propagandistischen Stellung. Teilweise jedenfalls, aber nicht ganz. Trotzkis Methode legitimierte und bestärkte die Anmaßungen der Leute, die sich für fähig hielten, über politische und taktische Fragen der Weltpolitik zu urteilen, aber nicht mehr als nur ein bloßes Anhängsel ihrer Arbeiterbewegung blieben. Die „Selbstüberschätzung und Realitätsferne“ wurde dadurch ernährt und blieb ein Hindernis für eine ernsthafte politische Arbeit. dies verhalf den Trotzkisten zu einer exotischen Treibhausatmosphäre,die weit entfernt war von der Welt der militanten Arbeiter und bekräftigte weiterhin die kleinbürgerliche Natur der Gruppen. Trotz gänzlich entgegengesetzter Absichten trug Trotzki mit dazu bei. Der Hauptirrtum beruhte auf der Annahme, revolutionäre Kader außerhalb der Klassenkämpfe schulen zu können. Und der unheilvolle Einfluß dieser Tradition sollte noch lange anhalten; sie war Gift im Blutstrom der Bewegung, lange noch, nachdem der Propagandismus als Kampforientierung offiziell abgeschafft wurde.

Ein besonderer Aspekt dieses Übels, das Fraktionierungsunwesen, hatte in der frühen Periode einen starken Einfluß und – ist nie vollständig ausgelöscht worden. Fraktionskämpfe sind eine unvermeidliche Sache für das Wachsen einer revolutionären Organisation. Jedoch permanente, fortdauernde Fraktionierung ist kein notwendiger Preis, sondern eine Krankheit.

Cannon schrieb später dazu: „Ich glaube, es gibt kein größeres Greuel in der politischen Arbeiterbewegung als ständige Spaltungen. Es gibt nichts, das mehr das interne Leben einer Partei demoralisieren kann, als permanente Fraktionierungen.“ [12]

Sicherlich hat Trotzki diese Fraktionierungen nicht leichtsinnig geduldet. Aber seine Herangehensweise an die Ausbildung von Kadern bestärkte exakt diese Tendenz, weil sie es kleinbürgerlichen Gruppen leicht machte, ihre Existenz auf „theoretischen“ Grundlagen zu begründen.

 

 

Entrismus und seine Folgen

Eine Periode, in der marxistische Zirkel existieren, beinhaltet auch, daß knöcherne Gewohnheiten entstehen, auf abstraktem Wege über die Probleme der Arbeiterbewegung zu diskutieren. Derjenige, der nicht fähig ist, zur rechten Zelt über die Grenzen seiner eigenen beschränkten Existenz hinauszuschreiten, verwandelt sich sehr bald in einen konservativen Sektierer ... In der Hand des Marxisten ist die Diskussion ein wichtiges, als auch ein funktionelles Instrument des Klassenkampfes. Für den Sektierer bedeutet Diskussion ein Eigentor. [13]

Nachdem Hitler an die Macht kam, schaffte Trotzki die reformistische Orientierung auf die Kommunistischen Parteien ab. Angesichts des völligen Versagens der Kommunistischen Parteien, die nicht mal ernsthaft den Versuch unternahmen, sich gegen die Nazis zu wehren, war es notwendig geworden, neue revolutionäre Parteien zu gründen. Um dieses politische Urteil konnte man sich nicht herumdrücken. Innerhalb von zwei Jahren hatte die Komintern einen Schwenk von der ultralinken, pseudoradikalen „Dritten Periode“ zur Volksfront gemacht. – Kollaboration mit den Sozialdemokraten und „progressiven“ bürgerlichen Parteien zur „Verteidigung der Demokratie“. Der Kampf für den Sozialismus wurde dadurch zum Fenster hinausgeworfen.

Wie konnten nun neue revolutionäre Parteien (und eine neue Internationale) geschaffen werden? Dies war und bleibt immer eine immens schwierige Aufgabe. Die Sozialdemokratie war im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entstanden, gewissermaßen in einem Vakuum, als es keine rivalisierenden Arbeiterparteien von Bedeutung gab. Die kommunistischen Parteien entstanden aus Abspaltungen der Sozialdemokratie in einer Phase des revolutionären Aufschwungs.

In den 30er Jahren existierte keine dieser Bedingungen. Zur gleichen Zeit erreichte die von Moskau dirigierte antitrotzkistische Kampagne ihren Höhepunkt. Trotzki war ein Agent Hitlers und des japanischen Kaisers – das war die Version in der Phase der Moskauer Prozesse. Die Trotzkisten waren faschistische Agenten in der Arbeiterbewegung.

Eine gründliche, realistische Einschätzung über die Ursachen ihres gescheiterten Versuchs, aus der Isolation herauszubrechen, kann definitiv nur vor dem Hintergrund der tief unglücklichen Situation der Trotzkisten gegeben werden.

Am Vorabend des Krieges, nach vielen Fehlschlägen resümierte Trotzki freimütig: „Wir sind politisch nicht vorwärtsgekommen. Ja, diese Tatsache ist Ausdruck des Verfalls der Arbeiterbewegung in den letzten 15 Jahren. Das ist eine prinzipielle Frage. Wenn die revolutionäre Bewegung im Zerfall begriffen ist, wenn eine Niederlage der anderen folgt, wenn der Faschismus weltweit seine Klauen ausstreckt, wenn der offizielle ‚Marxismus‘ die mächtigste Organisation ist, um die Arbeiter zu betrügen, und so fort, ist es unvermeidlich, daß die revolutionären Elemente gegen den allgemeinen politischen Gang der Geschichte arbeiten müssen, trotz der Exaktheit und politischen Weisheit unserer Ideen und Konzepte. Aber die Massen sind nicht durch vorausschauende, theoretische Konzepte geschult, sondern durch die Erfahrungen in ihrem Leben. Um es auf einen einfachen Nenner zu bringen – die Situation ist gegen uns.“ [14]

Dies war offensichtlich richtig. Die Fehler der Trotzkisten sind unter diesen Umständen nur insofern von Bedeutung, als sie sich auch in späteren Generationen eingenistet haben. Drei Fragen, die sich aus dieser Periode ergaben, sind heute noch von Bedeutung.

Um es noch einmal zu formulieren; die Gruppen waren schwach, kleinbürgerlich und standen mehr oder weniger außerhalb der Arbeiterbewegung. Die Frage war, den Weg zu finden, aus dem Ghetto auszubrechen, den Trotzkismus zu proletarisieren und bedeutende Schichten von Arbeitern in neue kommunistische Parteien zu bringen.

Nach anfänglichen Versuchen, sich mit verschiedenen linkssozialdemokratischen/zentristischen Formationen zusammenzutun (was meistens erfolglos war), schlug Trotzki vor, in die Sozialdemokratischen Parteien einzutreten. Er sagte ganz klar, diese Taktik sei nur in bestimmten Fällen anwendbar – wie in Frankreich –, aber sie wurde allgemein zur Praxis, mit dem Argument, daß sich die Sozialdemokratie allgemein nach links bewege und so ein besseres Klima für revolutionäre Arbeit schaffe. Neue Arbeiterschichten könnten dadurch erreicht werden; und es sei eine unvergleichbar proletarischere Umgebung, als die, die die Propagandagruppen dem Trotzkismus verliehen hatten.

Die Taktik war als kurzfristige Sache gedacht; ein scharfer, harter Kampf mit den Reformisten und Zentristen, um die potentiell revolutionären Kräfte zu einigen, dann zu spalten und eine neue Partei zu gründen. „Der Entrismus in eine reformistische Partei hat keine langfristige Perspektive, sondern kann unter bestimmten Bedingungen zeitweilig eingesetzt werden.“ [15]

Der erste Punkt war die interne Demokratie der trotzkistischen Gruppen. Das ist ein wichtiger Punkt, da in vielen, wenn nicht in den meisten Sektionen die Gegner der „französischen Wende“ (Entrismus) die Mehrheit hatten. Demokratischer Zentralismus war Teil ihrer Forderungen. Aber was war nun damit gemeint? Ein offenes, wechselseitiges Verhältnis zwischen der revolutionären Partei und seiner Basis in der Arbeiterklasse, ein Verhältnis, das ein offenes, entsprechendes Parteiregime fordert? Dies sollte man eigentlich annehmen, aber offensichtlich traf dies bei den trotzkistischen Gruppen nicht zu. Sie waren keine Parteien und sie waren nicht Teil der Arbeiterklasse. Oder bedeutete dies nur eine Verpflichtung, sich der Mehrheitstendenz einer kleinbürgerlichen Gruppe zu unterwerfen?

In der Praxis griff Trotzki äußerst rücksichtslos durch. Während er richtigerweise auf der am weitest möglichen Demokratie bestand, bestand er auf Säuberungsaktionen und Spaltungen mit jenen Kadern, die tief mit dem intellektuellen Milieu verwurzelt waren. „Eine revolutionäre Organisation kann sich ohne Eigensäuberungen nicht entwickeln, besonders unter den Bedingungen legaler Arbeit, wo nicht selten fremde und degenerierte Elemente sich unter dem Banner der Revolution versammeln.“ [16] Und, „die [französische] Liga steht in einer ersten Krise, unter klaren revolutionären Vorzeichen. Unter diesen Bedingungen würde eine Abspaltung eines Teils der Sektion einen großen Schritt vorwärts bedeuten. Sie würde alle ungesunden, verkrüppelten, unfähigen Einflüsse ausmerzen; es wäre eine Lehre für die schwankenden und unentschlossenen Elemente; sie würde die bessere Sektion der Jugend festigen und stärken ...“ [17]

Diese Einsicht wurde von verschiedenen Opponenten als undemokratisch, autoritär und ähnliches denunziert. Im Grunde genommen zeigten diese Opponenten nur ihren Unwillen, sich aus ihrem intellektuellen Milieu zu lösen. Weil letzten Endes der Entrismus sein strategisches Ziel verfehlte und vieles in der marxistischen Bewegung kleinbürgerlich geblieben ist, treten diese Bestrebungen, einen „Fetisch aus der Demokratie zu machen“ ohne Klassenanalyse und politischen Inhalt, auch heute wieder auf.

Die zweite Frage war das Wiederaufleben des Propagandismus unter einer neuen Maske – dem Programmfetischismus, das Argument, mit denen Reformisten und Zentristen die Trotzkisten dazu zwangen, die Grundlagen des Kommunismus zu verteidigen, statt sie in aktuellen Klassenkämpfen anzuwenden. Die Verteidigung des „Programms“ gewinnt damit eine übergroße Bedeutung und wird für einige sogar zu einer Art Mysterium. Einige von Trotzkis eigenen Formulierungen (obwohl sie nicht seiner praktischen Arbeit entsprachen) färbten auf diese Abweichung ab. Aber der Marxismus ist eine Synthese von Theorie und Praxis. Kein Programm ist damit von Wert, solange es nicht zu praktischer Aktivität führt, die notwendig für das gesteckte Ziel ist. Es muß noch einmal betont werden, daß die äußeren Umstände auf die trotzkistischen Gruppen einen gewissen Maß an Programmfetischismus zwang. Aber dieser Fetischismus – einem leblosen Körper aus theoretischen Schriften wird eine unabhängige Kraft zugeschrieben – verschwand auch nicht, als die Bedingungen verschwanden, die ihn nährten. Dieser Fetischismus ist heute noch bei einigen trotzkistischen Gruppen vorhanden.

Besonders ein Dokument, Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale, das Übergangsprogramm von 1938, wurde in den Augen vieler Trotzkisten zu einer Art Heiliger Schrift.

Dieses Programm ist eine Mischung aus konkreten politischen Analysen, die sich in einer Reihe von wichtigen Empfehlungen, wie taktischen Anleitungen für Analysen, Geschichte und grundsätzlichen kommunistischen Ideen, als fehlerhaft erwiesen hat. Daß es ein unzuverlässiger Führer war, ist weniger interessant als die Tatsache, daß die meisten Anhänger Trotzkis sich unfähig zeigten, eine kritische Neubeurteilung der Lage vorzunehmen. Sie hatten nicht von Trotzki gelernt, wie er kurzerhand eigene Positionen, die er lange vertreten hatte, zurückwies, als sie nicht mehr vertretbar waren.

Natürlich hat auch der Fetischismus seine materiellen Wurzeln. Zurückgedrängt in die soziale Umgebung, aus der sie kamen, ohne Einfluß auf den Kurs der Ereignisse, erlagen einige dem quasi-religiösen Glauben an das, was man als Programmfetischismus bezeichnet, egal wie lautstark seine Anhänger ihren Atheismus verkündeten.

Die dritte Frage war Parasitentum. Der Entrist operiert in einem fremden Körper. Ein gewisser Grad von Anpassung an die Normen des Körpers ist damit unvermeidlich, nicht nur in Sprache usw., sondern vor allem in der politischen Betonung. Schon in der ursprünglichen Situation, dem „kurzfristigen Entrismus“ in Frankreich kam dies vor. Trotzki schrieb von „denen (in R. Moliniers Gruppe), die von anfänglichen Erfolgen ermutigt, eine langfristige Perspektive vorwegnahmen, um ungestört Aktivitäten innerhalb der reformistischen Parteien entfalten zu können. Und es waren genau diese Elemente, die sich auf Verbündete oder Halbverbündete rechts von uns stützen. Diese Leute beginnen mit der Zeit einen immer größer werdenden Einfluß auf die politische Linie unserer Gruppe auszuüben.“ [18]

Dann in den 50er Jahren, als der langfristige Entrismus, der sogenannte „Entrismus sui generis“ oder „tiefe Entrismus“ von bestimmten trotzkistischen Gruppen angenommen wurde, war die Anpassung des Parasiten an seinen Wirt schon weit fortgeschritten. Es wurde schwer, den Entristen von seiner Beute zu trennen. Diese Entwicklung wurde von einer anderen Art von Mystizismus begleitet, dem Glauben an die grundsätzlich bewegenden, historischen Kräfte für den Sozialismus, unabhängig von wirklichen Aktionen der Arbeiterklasse.

Hier ein Beispiel aus einer Resolution des „Weltkongresses“ der Pablo-Mandel-Tendenz aus dem Jahre 1957: „Die fundamentale Veränderung der internationalen Situation und der inneren Situation in der UdSSR, die auf der einen Seite von einem weltweiten Aufschwung der revolutionären Kräfte seit 1943 und besonders seit dem Sieg der Chinesischen Revolution gekennzeichnet ist, und auf der anderen Seite die Sowjetunion durch spektakuläre Erfolge im Planungssystem zur 2. Weltmacht machte, zerstörte die objektiven Grundlagen für die uneingeschränkte Macht und Herrschaft der Sowjetbürokratie. Die Entwicklung von Kräften zugunsten der antikapitalistischen Sphäre wird gleichzeitig begleitet von der Entwicklung von Kräften innerhalb der UdSSR zugunsten des Proletariats und auf Kosten der Bürokratie.“ [19] – Und die Schlußfolgerung?

„Der konkrete Marsch der Weltrevolution durch die Welt nach dem II. Weltkrieg machte die Chinesische Revolution und die kolonialen Revolutionen zu dem treibenden Motor, der Weltrevolution. Und wenn die revolutionäre Welle die Sowjetunion und die Länder erreicht hat, die von der Sowjetbürokratie beherrscht sind, dann wird sie die politische Revolution gegen diese Bürokratie zu einem weiteren höchst mächtigen Motor der Weltrevolution machen.“ [20] Große historische Kräfte sind sehr tröstende Dinge! Diese Deformation ist heute noch in verschiedenen Trotzkismen vorhanden.

 

 

Das Erbe

Nach allem, was gesagt wurde, bleibt noch eines zu bemerken, nämlich daß der Kampf, den Trotzki und seine Anhänger führten (mit all seinen Schwächen), eine authentische kommunistische Lösung bewahrt hatte; zwar war sie nicht in der Arbeiterklasse, aber zumindest doch in ihren Randgruppen vorhanden. Die Vierte Internationale war, als sie gegründet wurde, ein ernsthafter Versuch. Aber den Grad an Kontinuität aus der revolutionären Periode der Komintern fand sie nicht, dazu war sie zusehr mit fast unüberwindlichen Schwierigkeiten konfrontiert. Wir sind heute Teil dieser Kontinuität; die Tradition, für die Trotzki kämpfte, ist unsere Tradition.

Traditioneller Trotzkismus, der von Trotzki selbst, wurde teilweise in der gleichen Weise irrelevant wie Lenins „Demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ 1917 irrelevant wurde. Die verschiedenen Trotzkismen heute sind in verschiedener Weise deformiert und in den meisten Fällen kaum einer positiven Entwicklung fähig. Aber der revolutionäre Gehalt der trotzkischen Politik lebt weiter und das ist wichtig.

 

 

Anmerkungen

1. Nkrumah: in den 60-Jahren linksgerichteter Staatschef von Ghana, von der UdSSR und Kuba unterstützt, 1966 gestürzt – Anm. des Übersetzers [s. Tony Cliff [2*], Rede über revolutionäre Traditionen 1967].

2. Trotsky, Writings, 1932–3, S.51–2.

3. Trotsky, Writings 1930-1, S.225 (Hervorhebung im Original).

4. Trotsky, The Groupings in the Communist Opposition, 1929.

5. Deutscher, The Prophet Outcast, S.143.

6. Deutscher, ebenda, S.206.

7. Trotsky, Writings 1930, S.293.

8. Cannon, History of American Trotskyism, S.92–3.

9. Craipeau, Le Mouvement Trotskiste en France, S.39

10. Trotsky, Writings 1930, S.297.

11. Deutscher, ebenda, S.60.

12. Cannon, Speeches to the Party, S.185.

13. Trotsky, Sectarianism, Centrism and the Fourth International, 1935.

14. Trotsky, Writings 1938–9, S.251–2.

15. Trotsky, Writings 1935–36, S.31.

16. Trotsky, Writings 1933–34, S.90.

17. Trotsky, ebenda, S.91.

18. Trotsky, Writings 1935–36, S.31.

19. SWP (US), The Development and Disintegration of World Stalinism, S.28.

20. ebenda, S.47.

 

 

Fußnoten

1*. gegenüber dem Stalinismus (Anm. des Übersetzers).

2*. Tony Cliff (1917-2000) war Mitbegründer der International Socialists, aus denen die Socialist Workers Party in Großbritannien entstanden ist, und Autor einer Reihe wichtiger marxistischer Werke, darunter Staatskapitalismus in Rußland sowie mehrbändige Biographien von Lenin und Trotzki.

 


Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003