Max Stirner

 

Der Einzige und
sein Eigentum

 

Erste Abteilung
Der Mensch

2. Menschen der alten und neuen Zeit

B – Die Neuen

§ 3 – Die Hierarchie

Die geschichtliche Reflexion über Unser Mongolentum, welche Ich an dieser Stelle episodisch einlegen will, gebe Ich nicht mit dem Anspruche auf Gründlichkeit oder auch nur auf Bewährtheit, sondern lediglich darum, weil Mich dünkt, sie könne zur Verdeutlichung des Übrigen beitragen.

Die Weltgeschichte, deren Gestaltung eigentlich ganz dem kaukasischen Menschenstamm angehört, scheint bis jetzt zwei kaukasische Weltalter durchlaufen zu haben, in deren erstem Wir Unsere angeborne Negerhaftigkeit aus- und abzuarbeiten hatten, worauf im zweiten die Mongolenhaftigkeit (das Chinesentum) folgte, dem gleichfalls endlich ein Ende mit Schrecken gemacht werden muß. Die Negerhaftigkeit stellt dar das Altertum, die Zeit der Abhängigkeit von den Dingen (vom Hahnenfraß, Vögelflug, vom Niesen, von Donner und Blitz, vom Rauschen heiliger Bäume usw.); die Mongolenhaftigkeit die Zeit der Abhängigkeit von Gedanken, die christliche. Der Zukunft sind die Worte vorbehalten: Ich bin Eigner der Welt der Dinge, und Ich bin Eigner der Welt des Geistes.

Ins negerhafte Weltalter fallen die Züge des Sesostris und die Bedeutsamkeit Ägyptens und Nordafrikas überhaupt. Dem mongolenhaften Weltalter gehören die Hunnen- und Mongolenzüge an, bis herauf zu den Russen.

Der Wert Meiner kann unmöglich hoch angeschlagen werden, solange der harte Demant des Nicht-Ich so gewaltig im Preise steht, wie dies sowohl mit dem Gotte als mit der Welt der Fall war. Das Nicht-Ich ist noch zu körnig und unbezwinglich, um von mir verzehrt und absorbiert zu werden; vielmehr kriechen die Menschen nur auf diesem Unbeweglichen, d.h. auf dieser Substanz mit außerordentlicher Geschäftigkeit herum, wie Schmarotzertierchen auf einem Leibe, von dessen Säften sie Nahrung ziehen, ohne ihn darum aufzuzehren. Es ist die Geschäftigkeit des Ungeziefers, die Betriebsamkeit der Mongolen. Bei den Chinesen bleibt ja Alles beim Alten, und nichts „Wesentliches“ oder „Substanzielles“ unterliegt einer Veränderung; desto rühriger arbeiten sie an dem Bleibenden, welches den Namen des „Alten“, der „Vorfahren“ usw. führt, herum.

Sonach ist in unserem mongolischen Weltalter alle Veränderung nur eine reformatorische oder ausbessernde, keine destruktive oder verzehrende und vernichtende gewesen. Die Substanz, das Objekt bleibt. All unsere Betriebsamkeit war nur Ameisentätigkeit und Flohsprung, Jongleurkünste auf dem unbeweglichen Seile des Objektiven, Frondienst unter der Herrschaft des Unveränderlichen oder „Ewigen“. Die Chinesen sind wohl das positivste Volk, weil ganz in Satzungen vergraben; aus dem Positiven ist aber auch das christliche Weltalter nicht herausgekommen, d.h. aus der „beschränkten Freiheit“, der Freiheit „innerhalb gewisser Schranken“. Auf der vorgeschrittensten Bildungsstufe verdient diese Tätigkeit den Namen der wissenschaftlichen, des Arbeitens auf einer unbewegten Voraussetzung, einer unumstößlichen Hypothese.

In ihrer ersten und unverständlichsten Form gibt sich die Sittlichkeit als Gewohnheit. Nach seines Landes Sitte und Gewohnheit handeln – heißt da sittlich sein. Darum wird ein reines sittliches Handeln, eine lautere, unverfälschte Sittlichkeit am schlichtesten in China geübt: man bleibt bei der alten Gewohnheit und Sitte, und haßt als todeswürdiges Verbrechen jegliche Neuerung. Denn die Neuerung ist der Todfeind der Gewohnheit, des Alten, der Beharrlichkeit. Es unterliegt auch in der Tat keinem Zweifel, daß der Mensch sich durch Gewohnheit gegen die Zudringlichkeit der Dinge, der Welt, sichert und eine eigene Welt gründet, in welcher er allein heimisch und zu Hause ist, d.h. sich einen Himmel erbaut. Hat ja doch der „Himmel“ keinen andern Sinn, als den, daß er die eigentliche Heimat des Menschen sei, worin ihn nichts Fremdes mehr bestimmt und beherrscht, kein Einfluß des Irdischen mehr ihn selbst entfremdet, kurz worin die Schlacken des Irdischen abgeworfen sind und der Kampf gegen die Welt ein Ende gefunden hat, worin ihm also nichts mehr versagt ist. Der Himmel ist das Ende der Entsagung, er ist der freie Genuß;. Dort versagt sich der Mensch nichts mehr, weil ihm nichts mehr fremd und feindlich ist. Nun ist aber die Gewohnheit eine „andere Natur“, welche den Menschen von seiner ersten und ursprünglichen Natürlichkeit ablöst und befreit, indem sie ihn gegen jede Zufälligkeit derselben sichert. Die ausgebildete Gewohnheit der Chinesen hat für alle Vorfälle gesorgt, und für Alles ist „vorgesehen“; was auch kommen mag, es weiß der Chinese immer, wie er sich zu verhalten hat, und er braucht sich nicht erst nach den Umständen zu bestimmen: aus dem Himmel seiner Ruhe stürzt ihn kein unvorhergesehener Fall. Der sittlich eingewohnte und eingelebte Chinese wird nicht überrascht und überrumpelt: er verhält sich gegen Alles gleichmütig, d.h. mit gleichem Mute oder Gemüte, weil sein Gemüt, durch die Vorsicht seiner althergebrachten Sitte geschützt, nicht außer Fassung kommt. Auf der Stufenleiter der Bildung oder Kultur besteigt die Menschheit mithin durch die Gewohnheit die erste Sprosse, und da sie sich vorstellt, im Erklimmen der Kultur zugleich den Himmel, das Reich der Kultur oder zweiten Natur, zu erklimmen, so besteigt sie wirklich die erste Sprosse der – Himmelsleiter.

Hat das Mongolentum das Dasein geistiger Wesen festgestellt, eine Geisterwelt, einen Himmel geschaffen, so haben die Kaukasier Jahrtausende mit diesen geistigen Wesen gerungen, um ihnen auf den Grund zu kommen. Was taten sie also anders, als daß sie auf mongolischem Grund bauten? Sie haben nicht auf Sand, sondern in der Luft gebaut, haben mit dem Mongolischen gerungen, den mongolischen Himmel, den Thiän, gestürmt. Wann werden sie diesen Himmel endlich vernichten? Wann werden sie endlich wirkliche Kaukasier werden und sich selber finden? Wann wird die „Unsterblichkeit der Seele“, die sich in letzterer Zeit noch mehr zu sichern glaubte, wenn sie sich als „Unsterblichkeit des Geistes“ präsentierte, endlich in die Sterblichkeit des Geistes umschlagen?

Im industriösen Ringen der mongolischen Rasse hatten die Menschen einen Himmel erbaut, als die vom kaukasischen Menschenstamme, solange sie in ihrer mongolischen Färbung es mit dem Himmel zu tun haben, die entgegengesetzte Aufgabe, die Aufgabe, jenen Himmel der Sitte zu stürmen, die himmelstürmende Tätigkeit übernahmen. Alle Menschensatzung zu unterwühlen, um über dem aufgeräumten Bauplatz eine neue und – bessere zu schaffen, alle Sitte zu verderben, um immer neue und – bessere Sitten an die Stelle derselben zu setzen usw., darauf beschränkt sich ihre Tat. Ist sie so aber schon rein und wirklich das, was sie zu sein trachtet, und erreicht sie ihr letztes Absehen? Nein, sie ist in diesem Erschaffen eines „Besseren“ mit dem Mongolentum behaftet. Sie stürmt den Himmel nur, um wieder einen Himmel zu machen, sie stürzt eine alte Gewalt nur, um eine neue Gewalt zu legitimieren, sie – verbessert nur. Gleichwohl ist der Zielpunkt, sooft er auch bei jedem neuen Ansatz aus den Augen verschwinden mag, der wirkliche, vollendete Sturz des Himmels, der Sitte usw., kurz des nur gegen die Welt gesicherten Menschen, der Isolierung oder Innerlichkeit des Menschen. Durch den Himmel der Kultur sucht sich der Mensch von der Welt zu isolieren, ihre feindselige Macht zu brechen. Diese Himmelsisolierung muß aber gleichfalls gebrochen werden, und das wahre Ende des Himmelstürmens ist der – Himmelssturz, die Himmelsvernichtung. Das Verbessern und Reformirren ist das Mongolentum des Kaukasiers, weil er dadurch von neuem wieder setzt, was vorher schon war, nämlich eine Satzung, ein Allgemeines, einen Himmel. Er hegt die unversöhnlichste Feindschaft gegen den Himmel und baut doch täglich neue Himmel: Himmel auf Himmel türmend erdrückt er nur einen durch den andern, der Himmel der Juden zerstört den der Griechen, der der Christen den der Juden, der der Protestanten den der Katholiken usw. – Streifen die himmelstürmenden Menschen des kaukasischen Blutes ihre Mongolenhaut ab, so werden sie den Gemütsmenschen unter dem Schutt der ungeheuren Gemütswelt begraben, den isolierten Menschen unter seiner isolierten Welt, den Verhimmelnden unter seinem Himmel. Und der Himmel ist das Geisterreich, das Reich der Geistesfreiheit.

Das Himmelreich, das Reich der Geister und Gespenster, hat in der spekulativen Philosophie seine rechte Ordnung gefunden. Hier wurde es ausgesprochen als das Reich der Gedanken, Begriffe und Ideen: der Himmel ist von Gedanken und Ideen bevölkert, und dies „Geisterreich“ ist dann die wahre Wirklichkeit.

Dem Geiste Freiheit erwerben wollen, das ist Mongolentum, Geistesfreiheit ist mongolische Freiheit, Gemütsfreiheit, moralische, sittliche Freiheit usw.

Man nimmt das Wort „Sittlichkeit“ wohl für gleichbedeutend mit Selbsttätigkeit, Selbstbestimmung. Allein das liegt nicht darin, und es hat sich der Kaukasier vielmehr nur selbsttätig bewiesen trotz seiner mongolischen Sittlichkeit. Der mongolische Himmel oder die Sitte blieb die feste Burg, und nur dadurch, daß der Kaukasier unaufhörlich gegen diese Burg anstürmte, bewies er sich sittlich; hätte er’s gar nicht mehr mit der Sitte zu tun gehabt, hätte er nicht an ihr seinen unbezwinglichen, fortwährenden Feind gehabt, so hörte die Beziehung zur Sitte auf, mithin die Sittlichkeit. Daß also seine Selbsttätigkeit noch eine sittliche ist, das ist eben das Mongolenhafte an ihr, ist ein Zeichen, daß er in derselben nicht zu sich selbst gekommen. Die „sittliche Selbsttätigkeit“ entspricht ganz der „religiösen und rechtgläubigen Philosophie“, der „konstitutionellen Monarchie“, dem „christlichen Staate“, der „Freiheit in gewissen Schranken“, der „beschränkten Preßfreiheit“, oder in einem Bilde dem ans Krankenlager gefesselten Helden.

Erst dann hat der Mensch das Schamanentum und seinen Spuk wirklich überwunden, wenn er nicht bloß den Gespensterglauben, sondern auch den Glauben an den Geist abzulegen die Kraft besitzt, nicht bloß den Geisterglauben, sondern auch den Geistesglauben.

Wer an einen Spuk glaubt, nimmt nicht mehr das „Hereinragen einer höhern Welt“ an, als wer an den Geist glaubt, und beide suchen hinter der sinnlichen Welt eine übersinnliche, kurz sie erzeugen und glauben eine andere Welt, und diese andere Welt, das Erzeugnis ihres Geistes, ist eine geistige Welt: ihre Sinne fassen und wissen ja nichts von einer anderen, unsinnlichen Welt, nur ihr Geist lebt darin. Der Fortgang von diesem mongolischen Glauben an das Dasein geistiger Wesen dahin, daß auch des Menschen eigentliches Wesen sein Geist sei, und daß auf diesen allein, auf sein „Seelenheil“ alle Sorgfalt gerichtet werden müsse, ist nicht schwer. Damit wird die Einwirkung auf den Geist, der sogenannte „moralische Einfluß“ gesichert.

Es springt daher in die Augen, daß das Mongolentum die vollkommene Rechtlosigkeit der Sinnlichkeit, die Unsinnlichkeit und Unnatur repräsentiere, und daß die Sünde und das Sündbewußtsein unsere Jahrtausende lange mongolische Plage war.

Wer aber wird auch den Geist in sein Nichts auflösen? Er, der mittelst des Geistes die Natur als das Nichtige, Endliche, Vergängliche darstellte, er kann allein auch den Geist zu gleicher Nichtigkeit herabsetzen: Ich kann es, es kann es Jeder unter Euch, der als unumschränktes Ich waltet und schafft, es kann’s mit einem Worte der – Egoist.

Vor dem Heiligen verliert man alles Machtgefühl und allen Mut: man verhält sich gegen dasselbe ohnmächtig und demütig. Und doch ist kein Ding durch sich heilig, sondern durch Meine Heiligsprechung, durch Meinen Spruch, Mein Urteil, Mein Kniebeugen, kurz durch Mein – Gewissen.

Heilig ist Alles, was dem Egoisten unnahbar sein soll, unberührbar, außerhalb seiner Gewalt, d.h. über ihm: heilig mit Einem Worte jede – Gewissenssache, denn „dies ist Mir eine Gewissenssache“ heißt eben: „ dies halte Ich heilig“.

Für kleine Kinder, wie für Tiere, existiert nichts Heiliges, weil man, um dieser Vorstellung Raum zu geben, schon so weit zu Verstand gekommen sein muß, daß man Unterschiede wie: „gut und böse, berechtigt und unberechtigt“ usw. machen kann; nur bei solchem Grade der Reflexion oder Verständigkeit – dem eigentlichen Standpunkte der Religion – kann an die Stelle der natürlichen Furcht die unnatürliche (d.h. erst durch Denken hervorgebrachte) Ehrfurcht treten, die „heilige Scheu“. Es gehört dazu, daß man etwas außer sich für mächtiger, größer, berechtigter, besser usw. hält, d.h. daß man die Macht eines Fremden anerkennt, also nicht bloß fühlt, sondern ausdrücklich anerkennt, d.h. einräumt, weicht, sich gefangen gibt, sich binden läßt (Hingebung, Demut, Unterwürfigkeit, Untertänigkeit usw.). Hier spukt die ganze Gespensterschar der „christlichen Tugenden“.

Alles, wovor Ihr einen Respekt oder eine Ehrfurcht hegt, verdient den Namen eines Heiligen; auch sagt Ihr selbst, Ihr trüget eine „heilige Scheu“, es anzutasten. Und selbst dem Unheiligen gebt Ihr diese Farbe (Galgen, Verbrechen usw.). Es graut Euch vor der Berührung desselben. Es liegt etwas Unheimliches, d.h. Unheimisches oder Uneigenes darin.

„Gälte dem Menschen nicht irgend etwas als heilig, so wäre ja der Willkür, der schrankenlosen Subjektivität Tür und Tor geöffnet!“ Furcht macht den Anfang, und dem rohsten Menschen kann man sich fürchterlich machen; also schon ein Damm gegen seine Frechheit. Allein in der Furcht bleibt immer noch der Versuch, sich vom Gefürchteten zu befreien durch List, Betrug, Pfiffe usw. Dagegen ist’s in der Ehrfurcht ganz anders. Hier wird nicht bloß gefürchtet, sondern auch geehrt: das Gefürchtete ist zu einer innerlichen Macht geworden, der Ich Mich nicht mehr entziehen kann; Ich ehre dasselbe, bin davon eingenommen, ihm zugetan und angehörig: durch die Ehre, welche Ich ihm zolle, bin Ich vollständig in seiner Gewalt, und versuche die Befreiung nicht einmal mehr. Nun hänge ich mit der ganzen Kraft des Glaubens daran, Ich glaube. Ich und das Gefürchtete sind Eins: „nicht Ich lebe, sondern das Respektierte lebt in Mir!“ Weil der Geist, das Unendliche, kein Ende nehmen läßt, darum ist er stationär: er fürchtet das Sterben, er kann von seinem Jesulein nicht lassen, die Größe der Endlichkeit wird von seinem geblendeten Auge nicht mehr erkannt: das nun zur Verehrung gesteigerte Gefürchtete darf nicht mehr angetastet werden: die Ehrfurcht wird verewigt, das Respektierte wird vergöttert. Der Mensch ist nun nicht mehr schaffend, sondern lernend (wissend, forschend usw.), d.h. beschäftigt mit einem festen Gegenstande, sich vertiefend in ihn, ohne Rückkehr zu sich selber. Das Verhältnis zu diesem Gegenstande ist das des Wissens, des Ergründens und Begründens usw., nicht das des Auflösens (Abschaffens usw.). „Religiös soll der Mensch sein“, das steht fest; daher beschäftigt man sich nur mit der Frage, wie dies zu erreichen, welches der rechte Sinn der Religiosität usw. Ganz anders, wenn man das Axiom selbst fraglich macht und in Zweifel zieht, und sollte es auch über den Haufen stürzen. Sittlichkeit ist auch solch eine heilige Vorstellung: sittlich müsse man sein, und müsse nur das rechte Wie, die rechte Art es zu sein, aufsuchen. An die Sittlichkeit selbst wagt man sich nicht mit der Frage, ob sie nicht selbst ein Truggebilde sei: sie bleibt über allem Zweifel erhaben, unwandelbar. Und so geht es fort mit dem Heiligen, Stufe für Stufe, vom „Heiligen“ bis zum „Hochheiligen“.

Man teilt mitunter die Menschen in zwei Klassen, in Gebildete und Ungebildete. Die ersteren beschäftigten sich, soweit sie ihres Namens würdig waren, mit Gedanken, mit dem Geiste, und forderten, weil sie in der nachchristlichen Zeit, deren Prinzip eben der Gedanke ist, die Herrschenden waren, für die von ihnen anerkannten Gedanken einen unterwürfigen Respekt. Staat, Kaiser, Kirche, Gott, Sittlichkeit, Ordnung usw. sind solche Gedanken oder Geister, die nur für den Geist sind. Ein bloß lebendiges Wesen, ein Tier, kümmert sich um sie so wenig als ein Kind. Allein die Ungebildeten sind wirklich nichts als Kinder, und wer nur seinen Lebensbedürfnissen nachhängt, ist gleichgültig gegen jene Geister; weil er aber auch schwach gegen dieselben ist, so unterliegt er ihrer Macht, und wird beherrscht von – Gedanken. Dies ist der Sinn der Hierarchie.

Hierarchie ist Gedankenherrschaft, Herrschaft des Geistes!

Hierarchisch sind Wir bis auf den heutigen Tag, unterdrückt von denen, welche sich auf Gedanken stützen. Gedanken sind das Heilige.

Immer aber stoßen Beide aneinander, der Gebildete an den Ungebildeten, wie umgekehrt, und zwar nicht bloß im Anrennen zweier Menschen, sondern in ein und demselben Menschen. Denn kein Gebildeter ist so gebildet, daß er nicht auch an den Dingen Freude fände, mithin ungebildet wäre, und kein Ungebildeter ist ganz ohne Gedanken. Bei Hegel kommt endlich zu Tage, welche Sehnsucht gerade der Gebildetste nach den Dingen hat, und welchen Abscheu er vor jeder „hohlen Theorie“ hegt. Da soll dem Gedanken ganz und gar die Wirklichkeit, die Welt der Dinge, entsprechen und kein Begriff ohne Realität sein. Dies verschaffte Hegels System den Namen des objektivsten, als feierten darin Gedanke und Ding ihre Vereinigung. Aber es war dies eben nur die äußerste Gewaltsamkeit des Denkens, die höchste Despotie und Alleinherrschaft desselben, der Triumph des Geistes, und mit ihm der Triumph der Philosophie. Höheres kann die Philosophie nicht mehr leisten, denn ihr Höchstes ist die Allgewalt des Geistes, die Allmacht des Geistes. [17]

Die geistlichen Menschen haben sich Etwas in den Kopf gesetzt, was realisiert werden soll. Sie haben Begriffe von Liebe, Güte u. dergl., die sie verwirklicht sehen möchten; darum wollen sie ein Reich der Liebe auf Erden errichten, worin Keiner mehr aus Eigennutz, sondern Jeder „aus Liebe“ handelt. Die Liebe soll herrschen. Was sie sich in den Kopf gesetzt haben, wie soll man das anders nennen, als – fixe Idee? Es „spukt ja in ihrem Kopfe“. Der beklemmendste Spuk ist der Mensch. Man denke des Sprichwortes: „Der Weg zum Verderben ist mit guten Vorsätzen gepflastert.“ Der Vorsatz, die Menschlichkeit ganz in sich zu verwirklichen, ganz Mensch zu werden, ist von so verderblicher Art; dahin gehören die Vorsätze, gut, edel, liebevoll usw. zu werden.

In dem sechsten Hefte der Denkwürdigkeiten S.7 sagt Br. Bauer: „Jene Bürgerklasse, die für die neuere Geschichte ein so furchtbares Gewicht erhalten sollte, ist keiner aufopfernden Handlung, keiner Begeisterung für eine Idee, keiner Erhebung fähig: sie gibt sich für nichts hin, als für das Interesse ihrer Mittelmäßigkeit, d.h. sie bleibt immer auf sich selbst beschränkt und siegt endlich nur durch ihre Massenhaftigkeit, mit welcher sie die Anstrengungen der Leidenschaft, der Begeisterung, der Konsequenz zu ermüden wußte, durch ihre Oberfläche, in welche sie einen Teil der neuen Ideen einsaugt.“ [18] Und S.6: „Sie hat die revolutionären Ideen, für welche nicht sie, sondern uneigennützige oder leidenschaftliche Männer sich aufopferten, sich allein zu Gute kommen lassen, den Geist in Geld verwandelt. – Freilich nachdem sie jenen Ideen die Spitze, die Konsequenz, den zerstörenden und gegen allen Egoismus fanatischen Ernst genommen hatte.“ Diese Leute sind also nicht aufopfernd, nicht begeistert, nicht ideal, nicht konsequent, keine Enthusiasten; sie sind im gewöhnlichen Verstande Egoisten, Eigennützige, auf ihren Vorteil bedacht, nüchtern, berechnend usw.

Wer ist denn „aufopfernd“? Vollständig doch wohl derjenige, der an Eins, Einen Zweck, Einen Willen, Eine Leidenschaft usw. alles Andere setzt. Ist der Liebende, der Vater und Mutter verläßt, der alle Gefahren und Entbehrungen besteht, um zu seinem Ziele zu kommen, nicht aufopfernd? Oder der Ehrgeizige, der alle Begierden, Wünsche und Befriedigungen der einzigen Leidenschaft darbringt, oder der Geizige, der sich Alles versagt, um Schätze zu sammeln, oder der Vergnügungssüchtige usw.? Ihn beherrscht eine Leidenschaft, der er die übrigen zum Opfer bringt.

Und sind diese Aufopfernden etwa nicht eigennützig, nicht Egoisten? Da sie nur Eine herrschende Leidenschaft haben, sorgen sie auch nur für Eine Befriedigung, aber für diese um desto eifriger: sie gehen in ihr auf. Egoistisch ist ihr ganzes Tun und Treiben, aber es ist ein einseitiger, unaufgeschlossener, bornierter Egoismus: es ist Besessenheit.

„Das sind ja kleinliche Leidenschaften, von denen sich im Gegenteil der Mensch nicht knechten lassen soll. Für eine große Idee, eine große Sache muß der Mensch Opfer bringen!“ Eine „große Idee“, eine „gute Sache“ ist etwa die Ehre Gottes, für die Unzählige in den Tod gingen, das Christentum, das seine bereitwilligen Märtyrer gefunden hat, die alleinseligmachende Kirche, die sich Ketzeropfer gierig gelangt hat; die Freiheit und Gleichheit, der blutige Guillotinen zu Diensten standen.

Wer für eine große Idee, eine gute Sache, eine Lehre, ein System, einen erhabenen Beruf lebt, der darf kein weltliches Gelüste, kein selbstsüchtiges Interesse in sich aufkommen lassen. Hier haben Wir den Begriff des Pfaffentums, oder wie es in seiner pädagogischen Wirksamkeit auch genannt werden kann, der Schulmeisterlichkeit; denn die Idealen schulmeistern Uns. Der Geistliche ist recht eigentlich berufen, der Idee zu leben und für die Idee, die wahrhaft gute Sache, zu wirken. Deshalb fühlt das Volk, wie wenig es ihm anstehe, einen weltlichen Hochmut zu zeigen, ein Wohlleben zu begehren, Vergnügen, wie Tanz und Spiel, mitzumachen, kurz ein anderes als ein „heiliges Interesse“ zu haben. Daher schreibt sich wohl auch die dürftige Besoldung der Lehrer, die sich allein durch die Heiligkeit ihres Berufes belohnt fühlen und sonstigen Genüssen „entsagen“ sollen.

Auch an einer Rangliste der heiligen Ideen, deren eine oder mehrere der Mensch als seinen Beruf ansehen soll, fehlt es nicht. Familie, Vaterland, Wissenschaft u. dergl. kann an Mir einen berufstreuen Diener finden.

Da stoßen Wir auf den uralten Wahn der Welt, die des Pfaffentums noch nicht entraten gelernt hat. Für eine Idee leben und schaffen, das sei der Beruf des Menschen, und nach der Treue seiner Erfüllung messe sich sein menschlicher Wert.

Dies ist die Herrschaft der Idee oder das Pfaffentum. Robespierre z.B., St. Just usw. waren durch und durch Pfaffen, begeistert von der Idee, Enthusiasten, konsequente Rüstzeuge dieser Idee, ideale Menschen. So ruft St. Just in einer Rede aus: „Es gibt etwas Schreckliches in der heiligen Liebe zum Vaterlande; sie ist so ausschließend, daß sie Alles ohne Erbarmen, ohne Furcht, ohne menschliche Beachtung dem öffentlichen Interesse opfert. Sie stürzt Manlius in den Abgrund; sie opfert ihre Privatneigungen; sie führt Regulus nach Karthago, wirft einen Römer in den Schlund, und setzt Marat als Opfer seiner Hingebung, ins Pantheon.“ [19] Diesen Vertretern idealer oder heiliger Interessen steht nun eine Welt zahlloser „persönlicher“ profaner Interessen gegenüber. Keine Idee, kein System, keine heilige Sache ist so groß, daß sie nie von diesen persönlichen Interessen überboten und modifiziert werden sollte. Wenn sie auch augenblicklich und in Zeiten der Rage und des Fanatismus schweigen, so kommen sie doch durch „den gesunden Sinn des Volkes“ bald wieder obenauf. Jene Ideen siegen erst dann vollkommen, wenn sie nicht mehr gegen die persönlichen Interessen feindlich sind, d.h. wenn sie den Egoismus befriedigen.

Der Mann, der eben vor meinem Fenster Bücklinge zum Verkauf ausruft, hat ein persönliches Interesse an gutem Absatz, und wenn sein Weib oder wer sonst ihm desgleichen wünschen, so bleibt dies gleichwohl ein persönliches Interesse. Entwendete ihm hingegen ein Dieb seinen Korb, so entstünde sogleich ein Interesse Vieler, der ganzen Stadt, des ganzen Landes, oder mit Einem Worte Aller, welche den Diebstahl verabscheuen: ein Interesse, wobei die Person des Bücklinghändlers gleichgültig würde, und an ihrer Statt die Kategorie des „Bestohlenen“ in den Vordergrund träte. Aber auch hier könnte noch alles auf ein persönliches Interesse hinauslaufen, indem jeder Teilnehmende bedächte, daß er der Bestrafung des Diebes deshalb beitreten müsse, weil sonst das straflose Stehlen allgemein werden und auch ihn um das Seinige bringen könnte. Eine solche Berechnung läßt sich indes schwerlich bei Vielen voraussetzen, und man wird vielmehr den Ausruf hören: der Dieb sei ein „Verbrecher“. Da haben Wir ein Urteil vor Uns, indem die Handlung des Diebes ihren Ausdruck erhält in dem Begriffe „Verbrechen“. Nun stellt sich die Sache so: Wenn ein Verbrechen auch weder Mir, noch irgend einem derjenigen, an welchen Ich Anteil nehme, den geringsten Schaden brächte, so würde Ich dennoch gegen dasselbe eifern. Warum? Weil Ich für die Sittlichkeit begeistert, von der Idee der Sittlichkeit erfüllt bin; was ihr feindlich ist, das verfolge Ich. Weil ihm der Diebstahl ohne alle Frage für verabscheuungswürdig gilt, darum glaubt z.B. Proudhon schon mit dem Satze: „Das Eigentum ist ein Diebstahl“ dieses gebrandmarkt zu haben. Im Sinne der Pfäffischen ist er allemal ein Verbrechen oder mindestens Vergehen.

Hier hat das persönliche Interesse ein Ende. Diese bestimmte Person, die den Korb gestohlen hat, ist meiner Person völlig gleichgültig; nur an dem Diebe, diesem Begriffe, von welchem jene Person ein Exemplar darstellt, nehme Ich ein Interesse. Der Dieb und der Mensch sind in meinem Geiste unversöhnliche Gegensätze; denn man ist nicht wahrhaft Mensch, wenn man Dieb ist; man entwürdigt in sich den Menschen, oder die „Menschheit“, wenn man stiehlt. Aus dem persönlichen Anteil herausfallend, gerät man in den Philanthropismus, die Menschenfreundlichkeit, die gewöhnlich so mißverstanden wird, als sei sie eine Liebe zu den Menschen, zu jedem Einzelnen, während sie nichts als eine Liebe des Menschen, des unwirklichen Begriffs, des Spuks ist. Nicht toùs anthrópous [13*], die Menschen, sondern tòn anthropon [14*], den Menschen, schließt der Philanthrop in sein Herz. Allerdings bekümmert er sich um jeden Einzelnen, aber nur deswegen, weil er sein geliebtes Ideal überall verwirklicht sehen möchte.

Also von der Sorge um Mich, Dich, Uns ist hier keine Rede: das wäre persönliches Interesse und gehört in das Kapitel von der „weltlichen Liebe“. Der Philanthropismus ist eine himmlische, geistige, eine – pfäffische Liebe. Der Mensch muß in Uns hergestellt werden, und gingen Wir armen Teufel darüber auch zu Grunde. Es ist derselbe pfäffische Grundsatz wie jenes berühmte fiat justitia, pereat mundus [15*]: Mensch und Gerechtigkeit sind Ideen, Gespenster, denen zu Liebe alles geopfert wird: darum sind die pfäffischen Geister die „aufopfernden“.

Wer für den Menschen schwärmt, der läßt, soweit jene Schwärmerei sich erstreckt, die Personen außer Acht und schwimmt in einem idealen, heiligen Interesse. Der Mensch ist ja keine Person, sondern ein Ideal, ein Spuk.

Zu dem Menschen kann nun das Allerverschiedenste gehören und gerechnet werden. Findet man das Haupterfordernis desselben in der Frömmigkeit, so entsteht das religiöse Pfaffentum; sieht man’s in der Sittlichkeit, so erhebt das sittliche Pfaffentum sein Haupt. Die pfäffischen Geister unserer Tage möchten deshalb aus Allem eine „Religion“ machen; eine „Religion der Freiheit, Religion der Gleichheit usw.“, und alle Ideen werden ihnen zu einer „heiligen Sache“, z.B. selbst das Staatsbürgertum, die Politik, die Öffentlichkeit, Preßfreiheit, Schwurgericht usw.

Was heißt nun in diesem Sinne „Uneigennützigkeit“? Nur ein ideales Interesse haben, vor welchem kein Ansehen der Person gilt!

Dem widersetzt sich der starre Kopf des weltlichen Menschen, ist aber Jahrtausende lang immer soweit wenigstens erlegen, daß er den widerspenstigen Nacken beugen und „die höhere Macht verehren“ mußte: das Pfaffentum drückte ihn nieder. Hatte der weltliche Egoist Eine höhere Macht abgeschüttelt, z.B. das Alttestamentliche Gesetz, den römischen Papst usw., so war gleich eine siebenfach höhere wieder über ihm, z.B. der Glaube an der Stelle des Gesetzes, die Umwandlung aller Laien in Geistliche an Stelle des beschränkten Clerus usw. Es ging ihm wie dem Besessenen, in den sieben Teufel fuhren, als er von dem einen sich befreit zu haben glaubte.

In der oben angeführten Stelle wird der Bürgerklasse alle Idealität usw. abgesprochen. Sie machinierte allerdings gegen die ideale Konsequenz, mit welcher Robespierre das Prinzip ausführen wollte. Der Instinkt ihres Interesses sagte ihr, daß diese Konsequenz mit dem, wonach ihr der Sinn stände, zu wenig harmoniere, und daß es gegen sich selbst handeln hieße, wollte sie der prinzipiellen Begeisterung Vorschub leisten. Sollte sie etwa sich so uneigennützig benehmen, alle ihre Zwecke fahren zu lassen, um eine herbe Theorie zum Triumphe zu führen? Es sagt das freilich den Pfaffen trefflich zu, wenn die Leute ihrem Aufrufe Gehör geben: „Wirf alles von Dir und folge mir nach,“ oder: „Verkaufe alles, was Du hast, und gib es den Armen, so wirst Du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach.“ [16*] Einige entschiedene Idealisten gehorchen diesem Rufe; die Meisten hingegen handeln wie Ananias und Sapphira, indem sie halb pfäffisch oder religiös und halb weltlich sich betragen, Gott und dem Mammon dienen.

Ich verdenke es der Bürgerklasse nicht, daß sie sich durch Robespierre nicht um ihre Zwecke bringen lassen mochte, d.h. daß sie bei ihrem Egoismus anfragte, wie weit sie den revolutionären Idee Raum geben dürfe. Aber denen könnte man’s verdenken (wenn überhaupt ein Verdenken hier angebracht wäre), die durch die Interessen der Bürgerklasse sich um ihre eigenen bringen ließen. Indes werden sie sich nicht über kurz oder lang gleichfalls auf ihren Vorteil verstehen lernen? August Becker sagt: „Die Produzenten (Proletarier) zu gewinnen, genügt eine Negation der hergebrachten Rechtsbegriffe keineswegs. Die Leute kümmern sich leider wenig um den theoretischen Sieg der Idee. Man muß ihnen ad oculos [17*] demonstrieren, wie dieser Sieg praktisch fürs Leben benutzt werden könne.“ [20] Und S.32: „Ihr müßt die Leute bei ihren wirklichen Interessen anpacken, wenn Ihr auf sie wirken wollt.“ Gleich darauf zeigt er, wie unter unsern Bauern schon eine recht artige Sittenlosigkeit um sich greift, weil sie ihr wirkliches Interesse lieber verfolgen, als die Gebote der Sittlichkeit.

Weil die revolutionären Pfaffen oder Schulmeister dem Menschen dienten, darum schnitten sie den Menschen die Hälse ab. Die revolutionären Laien oder Profanen trugen nicht etwa eine größere Scheu vor dem Halsabschneiden, waren aber weniger um die Menschenrechte, d.h. die Rechte des Menschen besorgt, als um die ihrigen.

Wie kommt es indessen, daß der Egoismus derer, welche das persönliche Interesse behaupten und bei ihm alle Zeit anfragen, dennoch immer wieder einem pfäffischen oder schulmeisterlichen, d.h. einem idealen Interesse unterliegt? Ihre Person kommt ihnen selbst zu klein, zu unbedeutend vor, und ist es in der Tat auch, um Alles in Anspruch zu nehmen und sich vollständig durchsetzen zu können. Ein sicheres Zeichen dafür liegt darin, daß sie sich selbst in zwei Personen, eine ewige und eine zeitliche, zerteilen, und jedesmal nur entweder für die eine oder für die andere sorgen, am Sonntage für die ewige, am Werkeltage für die zeitliche, im Gebet für jene, in der Arbeit für diese. Sie haben den Pfaffen in sich, darum werden sie ihn nicht los, und hören sich sonntäglich in ihrem Innern abgekanzelt.

Wie haben die Menschen gerungen und gerechnet, um diese dualistischen Wesen zu ermitteln. Idee folgte auf Idee, Prinzip auf Prinzip, System auf System, und keines wußte den Widerspruch des „weltlichen“ Menschen, des sogenannten „Egoisten“ auf die Dauer niederzuhalten. Beweist dies nicht, daß alle jene Ideen zu ohnmächtig waren, Meinen ganzen Willen in sich aufzunehmen und ihm genugzutun? Sie waren und blieben Mir feindlich, wenn auch die Feindschaft längere Zeit verhüllt lag. Wird es mit der Eigenheit ebenso sein? Ist auch sie nur ein Vermittlungsversuch? Zu welchem Prinzipe Ich Mich wendete, wie etwa zu dem der Vernunft, Ich mußte mich immer wieder von ihm abwenden. Oder kann Ich immer vernünftig sein, in Allem Mein Leben nach der Vernunft einrichten? Nach der Vernünftigkeit streben kann Ich wohl, Ich kann sie lieben, wie eben Gott und jede andere Idee auch: Ich kann Philosoph sein, ein Liebhaber der Weisheit, wie Ich Gott lieb habe. Aber was Ich liebe, wonach Ich strebe, das ist nur in Meiner Idee, Meiner Vorstellung, Meinen Gedanken: es ist in Meinem Herzen, Meinem Kopfe, es ist in Mir wie das Herz, aber es ist nicht Ich, Ich bin es nicht.

Zur Wirksamkeit pfäffischer Geister gehört besonders das, was man häufig „moralischen Einfluß;“ nennen hört.

Der moralische Einfluß nimmt da seinen Anfang, wo die Demütigung beginnt, ja er ist nichts anderes, als diese Demütigung selbst, die Brechung und Beugung des Mutes zur Demut herab. Wenn Ich Jemand zurufe, bei Sprengung eines Felsens aus dessen Nähe zu gehen, so übe Ich keinen moralischen Einfluß durch diese Zumutung; wenn Ich dem Kinde sage, Du wirst hungern, willst Du nicht essen, was aufgetischt wird, so ist dies kein moralischer Einfluß. Sage Ich ihm aber: Du wirst beten, die Eltern ehren, das Kruzifix respektieren, die Wahrheit reden usw., denn dies gehört zum Menschen und ist der Beruf des Menschen, oder gar, dies ist Gottes Wille, so ist der moralische Einfluß fertig: ein Mensch soll sich da beugen vor dem Beruf des Menschen, soll folgsam sein, demütig werden, soll seinen Willen aufgeben gegen einen fremden, der als Regel und Gesetz aufgestellt wird; er soll sich erniedrigen vor einem Höheren: Selbsterniedrigung. „Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöhet werden.“ [18*] Ja, ja, die Kinder müssen bei Zeiten zur Frömmigkeit, Gottseligkeit und Ehrbarkeit angehalten werden; ein Mensch von guter Erziehung ist Einer, dem „gute Grundsätze“ beigebracht und eingeprägt, eingetrichtert, eingebläut und eingepredigt worden sind.

Zuckt man hierüber die Achseln, gleich ringen die Guten verzweiflungsvoll die Hände und rufen: „Aber um’s Himmels willen, wenn man den Kindern keine guten Lehren geben soll, so laufen sie ja gerades Weges der Sünde in den Rachen, und werden nichtsnutzige Rangen!“ Gemach, Ihr Unheilspropheten. Nichtsnutzige in eurem Sinne werden sie allerdings werden; aber Euer Sinn ist eben ein sehr nichtsnutziger Sinn. Die frechen Buben werden sich von Euch nichts mehr einschwatzen und vorgreinen lassen und kein Mitgefühl für all die Torheiten haben, für welche Ihr seit Menschengedenken schwärmt und faselt: sie werden das Erbrecht aufheben, d.h. sie werden Eure Dummheiten nicht erben wollen, wie Ihr sie von den Vätern geerbt habt; sie vertilgen die Erbsünde. Wenn Ihr ihnen befehlt: Beuge Dich vor dem Höchsten – so werden sie antworten: Wenn er Uns beugen will, so komme er selbst und tue es; Wir wenigstens wollen Uns nicht von freien Stücken beugen. Und wenn Ihr ihnen mit seinem Zorn und seinen Strafen droht, so werden sie’s nehmen, wie ein Drohen mit dem Wauwau. Glückt es Euch nicht mehr, ihnen Gespensterfurcht einzujagen, so ist die Herrschaft der Gespenster zu Ende, und die Ammenmärchen finden keinen – Glauben.

Und sind es nicht gerade wieder die Liberalen, die auf eine gute Erziehung und Verbesserung des Erziehungswesens dringen? Denn wie könnte auch ihr Liberalismus, ihre „Freiheit in den Grenzen des Gesetzes“ ohne Zucht zustande kommen? Erziehen sie auch nicht gerade zur Gottesfurcht, so fordern sie doch um so strenger Menschenfurcht, d.h. Furcht vor dem Menschen, und wecken durch Zucht die „Begeisterung für den wahrhaft menschlichen Beruf“.

Eine lange Zeit verfloß, in welcher man sich mit dem Wahne begnügte, die Wahrheit zu haben, ohne daß man daran ernstlich dachte, ob man selber vielleicht wahr sein müsse, um die Wahrheit zu besitzen. Diese Zeit war das Mittelalter. Mit dem gemeinen, d.h. dem dinglichen Bewußtsein, demjenigen Bewußtsein, welches nur für Dinge oder Sinnliches und Sinnfälliges Empfänglichkeit hat, gedachte man das Undingliche, Unsinnliche zu fassen. Wie man freilich auch sein Auge anstrengt, um das Entfernte zu sehen, oder seine Hand mühsam übt, bis sie Fingerfertigkeit genug erlangt hat, um die Tasten kunstgerecht zu greifen: so kasteite man sich selbst auf die mannigfachste Weise, damit man fähig würde, das Übersinnliche ganz in sich aufzunehmen. Allein, was man kasteite, war doch nur der sinnliche Mensch, das gemeine Bewußtsein, das sogenannte endliche oder gegenständliche Denken. Da dieses Denken jedoch, dieser Verstand, welchen Luther unter den Namen der Vernunft „anpfuit“, der Auffassung des Göttlichen unfähig ist, so trug seine Kasteiung gerade so viel dazu bei, die Wahrheit zu begreifen, als wenn man die Füße Jahr aus und Jahr ein im Tanzen übte und hoffte, sie würden auf diesem Wege endlich Flöten blasen lernen. – Erst Luther, mit welchem das sogenannte Mittelalter endet, begriff, daß der Mensch selber ein anderer werden müsse, wenn er die Wahrheit auffassen wolle, nämlich ebenso wahr, als die Wahrheit selbst. Nur wer die Wahrheit schon im Glauben hat, nur wer an sie glaubt, kann ihrer teilhaftig werden, d.h. nur der Gläubige findet sie zugänglich und ergründet die Tiefen derselben. Nur dasjenige Organ des Menschen, welches überhaupt aus den Lungen zu blasen vermag, kann auch das Flötenblasen erreichen, und nur derjenige Mensch kann der Wahrheit teilhaftig werden, der für sie das rechte Organ hat. Wer nur Sinnliches, Gegenständliches, Dingliches zu denken imstande ist, der stellt sich auch in der Wahrheit nur Dingliches vor. Die Wahrheit ist aber Geist, durchaus Unsinnliches, daher nur für das „höhere Bewußtsein“, nicht für das „irdisch gesinnte“.

Demnach geht mit Luther die Erkenntnis auf, daß die Wahrheit, weil sie Gedanke ist, nur für den denkenden Menschen sei. Und dies heißt, daß der Mensch fortan einen schlechthin anderen Standpunkt einnehmen müsse, nämlich den himmlischen, gläubigen, wissenschaftlichen, oder den Standpunkt des Denkens gegenüber seinem Gegenstande dem – Gedanken, den Standpunkt des Geistes gegenüber dem Geiste. Also: Nur der Gleiche erkennt den Gleichen! „Du gleichst dem Geist, den Du begreifst.“

Weil der Protestantismus die mittelalterliche Hierarchie knickte, konnte die Meinung Wurzel fassen, es sei die Hierarchie überhaupt durch ihn gebrochen worden, und gänzlich übersehen werden, daß er gerade eine „Reformation“ war, also eine Auffrischung der veralteten Hierarchie. Jene mittelalterliche war nur eine schwächliche Hierarchie gewesen, da sie alle mögliche Barbarei des Profanen unbezwungen neben sich hergehen lassen mußte, und erst die Reformation stählte die Kraft der Hierarchie. Wenn Bruno Bauer meint: „Wie die Reformation hauptsächlich die abstrakte Losreißung des religiösen Prinzips von Kunst, Staat und Wissenschaft, also die Befreiung desselben von jenen Mächten war, mit denen es sich im Altertum der Kirche und in der Hierarchie des Mittelalters verbunden hatte, so sind auch die theologischen und kirchlichen Richtungen, welche aus der Reformation hervorgingen, nur die konsequente Durchführung dieser Abstraktion des religiösen Prinzips von den andern Mächten der Menschheit“ [21]: so sehe Ich gerade in dem Gegenteil das Richtige und meine, die Geisterherrschaft oder Geistesfreiheit – was auf Eins hinauskommt – sei nie zuvor so umfassend und allmächtig gewesen, weil die jetzige, statt das religiöse Prinzip von Kunst, Staat und Wissenschaft loszureißen, vielmehr diese ganz aus der Wertigkeit in das „Reich des Geistes“ erhob und religiös machte.

Man stellte passend Luther und Cartesius zusammen in dem „Wer glaubt, ist ein Gott“ und „Ich denke, also bin Ich“ (cogito, ergo sum). Der Himmel des Menschen ist das Denken, der – Geist. Alles kann ihm entrissen werden, das Denken nicht, nicht der Glaube. Bestimmter Glaube, wie Glaube an Zeus, Astarte, Jehova, Allah usw. kann zerstört werden, der Glaube selbst hingegen ist unzerstörbar. Im Denken ist Freiheit. Was Ich brauche und wonach Ich Hunger habe, das wird Mir durch keine Gnade mehr gewährt, durch die Jungfrau Maria, durch Fürsprache der Heiligen, oder durch die lösende und bindende Kirche, sondern Ich verschaffe Mir’s selber. Kurz Mein Sein (das sum) ist ein Leben im Himmel des Denkens, des Geistes, ein cogitare. Ich selber aber bin nichts anderes als Geist, als denkender (nach Cartesius), als Gläubiger (nach Luther). Mein Leib, das bin Ich nicht; Mein Fleisch mag leiden von Gelüsten oder Qualen. Ich bin nicht Mein Fleisch, sondern Ich bin Geist, nur Geist.

Dieser Gedanke durchzieht die Reformationsgeschichte bis heute.

Erst die neuere Philosophie seit Cartesius hat Ernst damit gemacht, das Christentum zu vollendeter Wirksamkeit zu bringen, indem sie das „wissenschaftliche Bewußtsein“ zum allein wahren und geltenden erhob. Daher beginnt sie mit dem absoluten Zweifel, dem dubitare, mit der „Zerknirschung“ des gemeinen Bewußtseins, mit der Abwendung von Allem, was nicht durch den „Geist“, das „Denken“ legitimiert wird. Nichts gilt ihr die Natur, nichts die Meinung der Menschen, ihre „Menschensatzungen“, und sie ruht nicht, bis sie in Alles Vernunft gebracht hat und sagen kann „das Wirkliche ist das Vernünftige und nur das Vernünftige ist das Wirkliche“. So hat sie endlich den Geist, die Vernunft zum Siege geführt, und Alles ist Geist, weil Alles vernünftig ist, die ganze Natur so gut als selbst die verkehrtesten Meinungen der Menschen Vernunft enthalten: denn „es muß ja Alles zum Besten dienen“, d.h. zum Siege der Vernunft führen.

Das dubitare des Cartesius enthält den entschiedenen Ausspruch, daß nur das cogitare, das Denken, der Geist – sei. Ein vollkommener Bruch mit dem „gemeinen“ Bewußtsein, welches den unvernünftigen Dingen Wirklichkeit zuschreibt! Nur das Vernünftige ist, nur der Geist ist! Dies ist das Prinzip der neueren Philosophie, das echt christliche. Scharf schied schon Cartesius den Körper vom Geiste, und „der Geist ist’s, der sich den Körper baut“ sagt Goethe.

Aber diese Philosophie selbst, die christliche, wird doch das Vernünftige nicht los und eifert darum gegen das „bloß Subjektive“, gegen die „Einfälle, Zufälligkeiten, Willkür“ usw. Sie will ja, daß das Göttliche in Allem sichtbar werden soll, und alles Bewußtsein ein Wissen des Göttlichen werde und der Mensch Gott überall schaue; aber Gott ist eben nie ohne den Teufel.

Ein Philosoph ist eben darum Derjenige nicht zu nennen, welcher zwar offene Augen für die Dinge der Welt, einen klaren und unverblendeten Blick, ein richtiges Urteil über die Welt hat, aber in der Welt eben nur die Welt, in den Gegenständen nur die Gegenstände, kurz Alles prosaisch, wie es ist, sieht, sondern ein Philosoph ist allein Derjenige, welcher in der Welt den Himmel, in dem Irdischen das Überirdische, in dem Weltlichen das – Göttliche sieht und nachweist oder beweist. Jener mag noch so verständig sein, es bleibt doch dabei: Was kein Verstand der Verständigen sieht, das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt. Dies kindliche Gemüt macht erst den Philosophen, dieses Auge für das Göttliche. Jener hat nur ein „gemeines“ Bewußtsein, wer aber das Göttliche weiß und zu sagen weiß, der hat ein „wissenschaftliches“. Aus diesem Grunde verwies man den Baco aus dem Reiche der Philosophen. Und weiter scheint allerdings Dasjenige, was man englische Philosophie nennt, es nicht gebracht zu haben, als zu den Entdeckungen sogenannter „offener Köpfe“, wie Bacon und Hume waren. Die Einfalt des kindlichen Gemütes wußten die Engländer nicht zu philosophischer Bedeutung zu erheben, wußten nicht aus kindlichen Gemütern – Philosophen zu machen. Dies heißt so viel als: ihre Philosophie vermochte nicht, theologisch oder Theologie zu werden, und doch kann sie nur als Theologie sich wirklich ausleben, sich vollenden. In der Theologie ist die Wahlstatt ihres Todeskampfes. Bacon bekümmerte sich nicht um die theologischen Fragen und Kardinalpunkte.

Am Leben hat das Erkennen seinen Gegenstand. Das deutsche Denken sucht mehr als das der Übrigen zu den Anfängen und Quellpunkten des Lebens zu gelangen, und sieht im Erkennen selbst erst das Leben. Cartesius’ cogito, ergo sum hat den Sinn: Man lebt nur, wenn man denkt. Denkendes Leben heißt: „geistiges Leben“! Es lebt nur der Geist, sein Leben ist das wahre Leben. Ebenso sind dann in der Natur nur die „ewigen Gesetze“, der Geist oder die Vernunft der Natur das wahre Leben derselben. Nur der Gedanke, im Menschen, wie in der Natur, lebt; alles Andere ist tot! Zu dieser Abstraktion, zum Leben der Allgemeinheiten oder des Leblosen muß es mit der Geschichte des Geistes kommen. Gott, welcher Geist ist, lebt allein. Es lebt nichts als das Gespenst.

Wie kann man von der neueren Philosophie oder Zeit behaupten wollen, sie habe es zur Freiheit gebracht, da sie Uns von der Gewalt der Gegenständlichkeit nicht befreite? Oder bin Ich etwa frei vom Despoten, wenn Ich mich zwar vor dem persönlichen Machthaber nicht fürchte, aber vor jeder Verletzung der Pietät, welche Ich ihm zu schulden wähne? Nicht anders verhält es sich mit der neueren Zeit. Sie verwandelte nur die existierenden Objekte, den wirklichen Gewalthaber usw. in vorgestellte, d.h. in Begriffe, vor denen der alte Respekt sich nicht nur nicht verlor, sondern an Intensität zunahm. Schlug man auch Gott und dem Teufel in ihrer vormaligen krassen Wirklichkeit ein Schnippchen, so widmete man nur um so größere Aufmerksamkeit ihren Begriffen. „Den Bösen sind sie los, das Böse ist geblieben.“ Den bestehenden Staat zu revoltieren, die bestehenden Gesetze umzustürzen, trug man wenig Bedenken, da man einmal entschlossen war, sich von dem Vorhandenen und Handgreiflichen nicht länger imponieren zu lassen; allein gegen den Begriff des Staates zu sündigen, dem Begriffe des Gesetzes sich nicht zu unterwerfen, wer hätte das gewagt? So blieb man „Staatsbürger“ und ein „gesetzlicher“, loyaler Mensch; ja man dünkte sich nur um so gesetzlicher zu sein, je rationalistischer man das vorige mangelhafte Gesetz abschaffte, um dem „Geiste des Gesetzes“ zu huldigen. In alledem hatten nur die Objekte eine Umgestaltung erlitten, waren aber in ihrer Übermacht und Oberhoheit verblieben; kurz, man steckte noch in Gehorsam und Besessenheit, lebte in der Reflexion, und hatte einen Gegenstand, auf welchen man reflektierte, den man respektierte, und vor dem man Ehrfurcht und Furcht empfand. Man hatte nichts anderes getan, als daß man die Dinge in Vorstellungen von den Dingen, in Gedanken und Begriffe verwandelte, und die Abhängigkeit um so inniger und unauflöslicher wurde. So hält es z.B. nicht schwer, von den Geboten der Eltern sich zu emanzipieren, oder den Ermahnungen des Onkels und der Tante, den Bitten des Bruders und der Schwester sich zu entziehen; allein der aufgekündigte Gehorsam fährt einem leicht ins Gewissen, und je weniger man auch den einzelnen Zumutungen nachgibt, weil man sie rationalistisch aus eigener Vernunft für unvernünftig erkennt, desto gewissenhafter hält man die Pietät, die Familienliebe fest, und vergibt sich um so schwerer eine Versündigung gegen die Vorstellung, welche man von der Familienliebe und der Pietätspflicht gefaßt hat. Von der Abhängigkeit gegen die existierende Familie erlöst, fällt man in die bindendere Abhängigkeit von dem Familienbegriff: man wird (106) vom Familiengeiste beherrscht. Die aus Hans und Grete usw. bestehende Familie, deren Herrschaft machtlos geworden, ist nur verinnerlicht, indem sie als „Familie“ überhaupt übrig bleibt, auf welche man eben nur anwendet den alten Spruch: Man muß Gott mehr gehorchen als dem Menschen, dessen Bedeutung hier diese ist: Ich kann zwar Euren unsinnigen Anforderungen Mich nicht fügen, aber als meine „Familie“ bleibt Ihr doch der Gegenstand meiner Liebe und Sorge; denn „die Familie“ ist ein heiliger Begriff, den der Einzelne nie beleidigen darf. – Und diese zu einem Gedanken, einer Vorstellung, verinnerlichte und entsinnlichte Familie gilt nun als das „Heilige“, dessen Despotie noch zehnmal ärger ist, weil sie in meinem Gewissen rumort. Diese Despotie wird nur gebrochen, wenn auch die vorgestellte Familie Mir zu einem Nichts wird. Die christlichen Sätze: „Weib, was habe Ich mit Dir zu schaffen?“ [22] „Ich bin kommen, den Menschen zu erregen wider seinen Vater und die Tochter wider ihre Mutter“ [23] und andere werden von der Verweisung auf die himmlische oder eigentliche Familie begleitet, und bedeuten nicht mehr, als die Forderung des Staates, bei einer Kollision zwischen ihm und der Familie, seinen Geboten zu gehorchen.

Ähnlich, wie mit der Familie, verhält sich’s mit der Sittlichkeit. Von der Sitte sagt sich Mancher los, von der Vorstellung „Sittlichkeit“ sehr schwer. Die Sittlichkeit ist die „Idee“ der Sitte, ihre geistige Macht, ihre Macht über die Gewissen; dagegen die Sitte zu materiell ist, um den Geist zu beherrschen, und einen „geistigen“ Menschen, einen sogenannten Unabhängigen, einen „Freigeist“ nicht fesselt.

Der Protestant mag es anstellen, wie er will, heilig bleibt ihm doch die „heilige Schrift“, das „Wort Gottes“. Wem dies nicht mehr „heilig“ ist, der hat aufgehört ein – Protestant zu sein. Hiermit bleibt ihm aber auch heilig, was in ihr „verordnet“ ist, die von Gott eingerichtete Obrigkeit usw. Diese Dinge bleiben ihm unauflöslich, unnahbar, „über allem Zweifel erhaben“, und da der Zweifel, der in der Praxis ein Rütteln wird, des Menschen Eigenstes ist, so bleiben diese Dinge über ihm selbst „erhaben“. Wer nicht davon loskommen kann, der wird – glauben; denn daran glauben heißt daran gebunden sein. Dadurch, daß im Protestantismus der Glaube ein innerlicherer wurde, ist auch die Knechtschaft eine innerlichere geworden: man hat jene Heiligkeiten in sich aufgenommen, sie mit seinem ganzen Dichten und Trachten verflochten, sie zur „Gewissenssache“ gemacht, sich eine „heilige Pflicht“ aus ihnen bereitet. Darum ist dem Protestanten heilig das, wovon sein Gewissen nicht loskommen kann, und die Gewissenhaftigkeit bezeichnet am deutlichsten seinen Charakter.

Der Protestantismus hat den Menschen recht eigentlich zu einem „Geheimen-Polizei-Staat“ gemacht. Der Spion und Laurer „Gewissen“ überwacht jede Regung des Geistes, und alles Tun und Denken ist ihm eine „Gewissenssache“, d.h. Polizeisache. In dieser Zerrissenheit des Menschen in „Naturtrieb“ und „Gewissen“ (innerer Pöbel und innere Polizei) besteht der Protestant. Die Vernunft der Bibel (an Stelle der katholischen „Vernunft der Kirche“) gilt als heilig, und dies Gefühl und Bewußtsein, daß das Bibelwort heilig sei, heißt – Gewissen. Damit ist denn die Heiligkeit einem „ins Gewissen geschoben“. Befreit man sich nicht vom Gewissen, dem Bewußtsein des Heiligen, so kann man zwar ungewissenhaft, niemals aber gewissenlos handeln.

Der Katholik findet sich befriedigt, wenn er den Befehl vollzieht; der Protestant handelt nach „bestem Wissen und Gewissen“. Der Katholik ist ja nur Laie, der Protestant ist selbst Geistlicher. Das eben ist der Fortschritt über das Mittelalter und zugleich der Fluch der Reformationsperiode, daß das Geistliche vollständig wurde.

Was war die jesuitische Moral anders, als eine Fortsetzung des Ablaßkrames, nur daß der seiner Sünden Entlastete nunmehr auch eine Einsicht in den Sündenerlaß gewann und sich überzeugte, wie wirklich seine Sünde von ihm genommen werde, da es ja in diesem oder jenem bestimmten Falle (Kasuisten) gar keine Sünde sei, was er begehe. Der Ablaßkram hatte alle Sünden und Vergehen zulässig gemacht und jede Gewissensregung zum Schweigen gebracht. Die ganze Sinnlichkeit durfte walten, wenn sie nur der Kirche abgekauft wurde. Diese Begünstigung der Sinnlichkeit wurde von den Jesuiten fortgesetzt, während die sittenstrengen, finstern, fanatischen, bußfertigen, zerknirschten, betenden Protestanten allerdings als die wahren Vollender des Christentums, den geistigen und geistlichen Menschen allein gelten ließen. Der Katholizismus, besonders die Jesuiten leisteten auf diese Weise dem Egoismus Vorschub, fanden innerhalb des Protestantismus selbst einen unfreiwilligen und unbewußten Anhang und retteten Uns vor dem Verkommen und Untergang der Sinnlichkeit. Gleichwohl breitet der protestantische Geist seine Herrschaft immer weiter aus, und da das Jesuitische neben ihm, dem „Göttlichen“, nur das von allem Göttlichen untrennbare „Teuflische“ darstellt, so kann es nirgends sich allein behaupten, sondern muß zusehen, wie z.B. in Frankreich endlich das Philistertum des Protestantismus siegt und der Geist obenauf ist.

Dem Protestantismus pflegt das Kompliment gemacht zu werden, daß er das Weltliche wieder zu Ehren gebracht habe, z.B. die Ehe, den Staat usw. Ihm aber ist gerade das Weltliche als Weltliches, das Profane, noch viel gleichgültiger als dem Katholizismus, der die profane Welt bestehen, ja sich ihre Genüsse schmecken läßt, während der vernünftige, konsequente Protestant das Weltliche ganz und gar zu vernichten sich anschickt, und zwar einfach dadurch, daß er es heiligt. So ist die Ehe um ihre Natürlichkeit gebracht worden, indem sie heilig wurde, nicht im Sinne des katholischen Sakramentes, wo sie nur von der Kirche ihre Weihe empfängt, also im Grunde unheilig ist, sondern in dem Sinne, daß sie fortan etwas durch sich Heiliges ist, ein heiliges Verhältnis. Ebenso der Staat usw. Früher gab der Papst ihm und seinen Fürsten die Weihe und seinen Segen; jetzt ist der Staat von Haus aus heilig, die Majestät ist es, ohne des Priestersegens zu bedürfen. Überhaupt wurde die Ordnung der Natur oder das Naturrecht als „Gottesordnung“ geheiligt. Daher heißt es z.B. in der Augsburgischen Konfession Art.11: „So bleiben wir nun billig bei dem Spruch, wie die Jurisconsulti weislich und recht gesagt haben: daß Mann und Weib beieinander sein, ist natürlich Recht. Ist’s nun natürlich Recht, so ist es Gottes Ordnung, also in der Natur gepflanzt und also auch göttlich Recht.“ Und ist es etwa mehr als aufgeklärter Protestantismus, wenn Feuerbach die sittlichen Verhältnisse zwar nicht als Gottes Ordnung, dafür aber um des ihnen inwohnenden Geistes willen heilig spricht? „Aber die Ehe – natürlich als freier Bund der Liebe – ist durch sich selbst, durch die Natur der Verbindung, die hier geschlossen wird, heilig. Nur die Ehe ist eine religiöse, die eine wahre ist, die dem Wesen der Ehe, der Liebe entspricht. Und so ist es mit allen sittlichen Verhältnissen. Sie sind da nur moralische, sie werden nur da mit sittlichem Sinne gepflogen, wo sie durch sich selbst als religiöse gelten. Wahrhafte Freundschaft ist nur da, wo die Grenzen der Freundschaft mit religiöser Gewissenhaftigkeit bewahrt werden, mit derselben Gewissenhaftigkeit, mit welcher der Gläubige die Dignität [19*] seines Gottes wahrt. Heilig ist und sei Dir die Freundschaft, heilig das Eigentum, heilig die Ehe, heilig das Wohl jedes Menschen, aber heilig an und für sich selbst.“ [24] Das ist ein sehr wesentliches Moment. Im Katholizismus kann das Weltliche zwar geweiht werden oder geheiligt, ist aber nicht ohne diesen priesterlichen Segen heilig; dagegen im Protestantismus sind weltliche Verhältnisse durch sich selbst heilig, heilig durch ihre bloße Existenz. Mit der Weihe, durch welche Heiligkeit verliehen wird, hängt genau die jesuitische Maxime zusammen: „Der Zweck heiligt die Mittel.“ Kein Mittel ist für sich heilig oder unheilig, sondern seine Beziehung zur Kirche, sein Nutzen für die Kirche, heiligt das Mittel. Königsmord wurde als ein solches angegeben; ward er zum Frommen der Kirche vollführt, so konnte er ihrer, wenn auch nicht offen ausgesprochenen Heiligung gewiß sein. Dem Protestanten gilt die Majestät für heilig, dem Katholiken könnte nur die durch den Oberpriester geweihte dafür gelten, und gilt ihm auch nur deshalb dafür, weil der Papst diese Heiligkeit ihr, wenn auch ohne besonderen Akt, ein für allemal erteilt. Zöge er seine Weihe zurück, so bliebe der König dem Katholiken nur ein „Weltmensch oder Laie“, ein „Ungeweihter“.

Sucht der Protestant im Sinnlichen selbst eine Heiligkeit zu entdecken, um dann nur an Heiligem zu hängen, so strebt der Katholik vielmehr, das Sinnliche von sich weg in ein besonderes Gebiet zu verweisen, wo es wie die übrige Natur seinen Wert für sich behält. Die katholische Kirche schied aus ihrem geweihten Stande die weltliche Ehe aus und entzog die Ihrigen der weltlichen Familie; die protestantische erklärte die Ehe und das Familienband für heilig und darum nicht unpassend für ihre Geistlichen.

Ein Jesuit darf als guter Katholik alles heiligen. Er braucht sich z.B. nur zu sagen: Ich als Priester bin der Kirche notwendig, diene ihr aber eifriger, wenn Ich meine Begierden gehörig stille; folglich will Ich dies Mädchen verführen, meinen Feind dort vergiften lassen usw.; Mein Zweck ist heilig, weil der eines Priesters, folglich heiligt er das Mittel. Es geschieht ja am letzten Ende doch zum Nutzen der Kirche. Warum sollte der katholische Priester sich scheuen, dem Kaiser Heinrich VII. die vergiftete Hostie zu reichen zum – Heil der Kirche?

Die echt – kirchlichen Protestanten eiferten gegen jedes „unschuldige Vergnügen“, weil unschuldig nur das Heilige, das Geistige sein konnte. Worin sie nicht den heiligen Geist nachweisen konnten, das mußten die Protestanten verwerfen: Tanz, Theater, Prunk (z.B. in der Kirche) u. dergl.

Gegen diesen puritanischen Calvinismus ist wieder das Luthertum mehr auf dem religiösen, d.h. geistigen Wege, ist radikaler. Jener nämlich schließt flugs eine Menge Dinge als sinnlich und weltlich aus und purifiziert [20*] die Kirche; das Luthertum hingegen sucht womöglich in alle Dinge Geist zu bringen, den heiligen Geist in Allem als Wesen zu erkennen, und so alles Weltliche zu heiligen. („Einen Kuß in Ehren kann niemand wehren.“ Der Geist der Ehrbarkeit heiligt ihn.) Daher gelang auch dem Lutheraner Hegel (er erklärt sich an irgend einer Stelle dafür: „er wolle Lutheraner bleiben“) die vollständige Durchführung des Begriffs durch Alles. In allem ist Vernunft, d.h. heiliger Geist, oder „das Wirkliche ist vernünftig“. Das Wirkliche ist nämlich in der Tat Alles, da in Jedem, z.B. jeder Lüge die Wahrheit aufgedeckt werden kann: es gibt keine absolute Lüge, kein absolut Böses u. dergl.

Große „Geisteswerke“ wurden fast nur von Protestanten geschaffen, da sie allein die wahren Jünger und Vollbringer des Geistes waren.

Wie weniges vermag der Mensch zu bezwingen! Er muß die Sonne ihre Bahn ziehen, das Meer seine Wellen treiben, die Berge zum Himmel ragen lassen. So steht er machtlos vor dem Unbezwinglichen. Kann er sich des Eindruckes erwehren, daß er gegen diese riesenhafte Welt ohnmächtig sei? Sie ist ein festes Gesetz, dem er sich unterwerfen muß, sie bestimmt sein Schicksal. Wohin arbeitete nun die vorchristliche Menschheit? Dahin, das Einstürmen der Geschicke loszuwerden, sich durch sie nicht alterieren [21*] zu lassen. Die Stoiker erreichten dies in der Apathie, indem sie die Angriffe der Natur für gleichgültig erklärten, und sich nicht dadurch affizieren [22*] ließen. Horaz spricht das berühmte Nil admirari [23*] aus, wodurch er gleichfalls die Gleichgültigkeit des Andern, der Welt, bekundet: sie soll auf Uns nicht einwirken, Unser Staunen nicht erregen. Und jenes impavidum ferient ruinae [24*] drückt ebendieselbe Unerschütterlichkeit aus, wie Psalm 46, 3: „Wir fürchten Uns nicht, wenngleich die Welt unterginge.“ In alledem ist für den christlichen Satz, daß die Welt eitel sei, für die christliche Weltverachtung der Raum geöffnet.

Der unerschütterliche Geist „des Weisen“, mit welchem die alte Welt ihrem Schlusse vorarbeitete, erfuhr nun eine innere Erschütterung, gegen welche ihn keine Ataraxie, kein stoischer Mut zu schützen vermochte. Der Geist, vor allem Einflusse der Welt gesichert, gegen ihre Stöße unempfindlich und über ihre Angriffe erhaben, nichts bewundernd, durch keinen Einsturz der Welt aus seiner Fassung zu bringen, – er schäumte unaufhaltsam wieder über, weil in seinem eigenen Innern Gase (Geister) sich entwickelten, und, nachdem der mechanische Stoß;, der von außen kommt, unwirksam geworden, chemische Spannungen, die im Innern erregen, ihr wunderbares Spiel zu treiben begannen.

In der Tat schließt die alte Geschichte damit, daß Ich an der Welt mein Eigentum errungen habe. „Alle Dinge sind Mir übergeben von Meinem Vater.“ (Matth. 11, 27.) Sie hat aufgehört, gegen Mich übermächtig, unnahbar, heilig, göttlich usw. zu sein, sie ist „entgöttert“, und Ich behandle sie nun so sehr nach Meinem Wohlgefallen, daß, läge Mir daran, Ich alle Wunderkraft, d.h. Macht des Geistes, an ihr ausüben, Berge versetzen, Maulbeerbäumen befehlen, daß sie sich selbst ausreißen und ins Meer versetzen (Luk. 17, 6), und alles Mögliche, d.h. Denkbare könnte: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubet.“ [25] Ich bin der Herr der Welt, Mein ist die „Herrlichkeit“. Die Welt ist prosaisch geworden, denn das Göttliche ist aus ihr verschwunden: sie ist Mein Eigentum, mit dem ich schalte und walte, wie Mir’s (nämlich dem Geiste) beliebt.

Als Ich Mich dazu erhoben hatte, der Eigner der Welt zu sein, da hatte der Egoismus seinen ersten vollständigen Sieg errungen, hatte die Welt überwunden, war weltlos geworden, und legte den Erwerb eines langen Weltalters unter Schloß und Riegel.

Das erste Eigentum, die erste „Herrlichkeit“ ist erworben!

Doch der Herr der Welt ist noch nicht Herr seiner Gedanken, seiner Gefühle, seines Willens: er ist nicht Herr und Eigner des Geistes, denn der Geist ist noch heilig, der „heilige Geist“, und der „weltlose“ Christ vermag nicht „gottlos“ zu werden. War der antike Kampf ein Kampf gegen die Welt, so ist der mittelalterliche (christliche) ein Kampf gegen sich, den Geist, jenes gegen die Außenwelt, dieses gegen die innerliche Welt. Der Mittelalterliche ist der „in sich Gekehrte“, der Sinnende, Sinnige.

Alle Weisheit der Alten ist Weltweisheit, alle Weisheit der Neuen ist Gottesgelahrtheit.

Mit der Welt wurden die Heiden (auch Juden hierunter) fertig; aber nun kam es darauf an, auch mit sich, dem Geiste, fertig, d.h. geistlos oder gottlos zu werden.

Fast zweitausend Jahre arbeiten Wir daran, den heiligen Geist Uns zu unterwerfen, und manches Stück Heiligkeit haben Wir allgemach losgerissen und unter die Füße getreten; aber der riesige Gegner erhebt sich immer von Neuem unter veränderter Gestalt und Namen. Der Geist ist noch nicht entgöttert, entheiligt, entweiht. Zwar flattert er längst nicht mehr als eine Taube über unsern Häuptern, zwar beglückt er nicht allein mehr seine Heiligen, sondern läßt sich auch von den Laien fangen usw., aber als Geist der Menschheit, als Menschengeist, d.h. Geist des Menschen, bleibt er Mir, Dir, immer noch ein fremder Geist, noch fern davon, Unser unbeschränktes Eigentum zu werden, mit welchem Wir schalten und walten nach Unserm Wohlgefallen. Indes Eines geschah gewiß und leitete sichtlich den Hergang der nachchristlichen Geschichte: dies Eine war das Streben, den heiligen Geist menschlicher zu machen, und ihn den Menschen oder die Menschen ihm zu nähern. Dadurch kam es, daß er zuletzt als der „Geist der Menschheit“ gefaßt werden konnte und unter verschiedenen Ausdrücken, wie „Idee der Menschheit, Menschentum, Humanität, allgemeine Menschenliebe“ usw. ansprechender, vertrauter und zugänglicher erschien.

Sollte man nicht meinen, jetzt könnte Jeder den heiligen Geist besitzen, die Idee der Menschheit in sich aufnehmen, das Menschentum in sich zur Gestalt und Existenz bringen?

Nein, der Geist ist nicht seiner Heiligkeit entkleidet und seiner Unnahbarkeit beraubt, ist Uns nicht erreichbar, nicht Unser Eigentum; denn der Geist der Menschheit ist nicht Mein Geist. Mein Ideal kann er sein, und als Gedanken nenne Ich ihn Mein: der Gedanke der Menschheit ist Mein Eigentum, und ich beweise dies zur Genüge dadurch, daß Ich ihn ganz nach Meinem Sinne aufstelle und heute so, morgen anders gestalte: Wir stellen ihn Uns auf die mannigfaltigste Weise vor. Aber er ist zugleich ein Fideikommiß [25*], das Ich nicht veräußern noch loswerden kann.

Unter mancherlei Wandlungen wurde aus dem heiligen Geiste mit der Zeit die „absolute Idee“, welche wieder in mannigfaltigen Brechungen zu den verschiedenen Ideen der Menschenliebe, Vernünftigkeit, Bürgertugend usw. auseinander schlug.

Kann Ich die Idee aber mein Eigentum nennen, wenn sie Idee der Menschheit ist, und kann Ich den Geist für überwunden halten, wenn Ich ihm dienen, ihm „Mich opfern“ soll? Das endende Altertum hatte an der Welt erst dann sein Eigentum gewonnen, als es ihre Übermacht und „Göttlichkeit“ gebrochen, ihre Ohnmacht und „Eitelkeit“ erkannt hatte.

Entsprechend verhält es sich mit dem Geiste. Wenn Ich ihn zu einem Spuk und seine Gewalt über Mich zu einem Sparren herabgesetzt habe, dann ist er für entweiht, entheiligt, entgöttert anzusehen, und dann gebrauche Ich ihn, wie man die Natur unbedenklich nach Gefallen gebraucht.

Die „Natur der Sache“, der „Begriff des Verhältnisses“ soll Mich in Behandlung derselben oder Schließung desselben leiten. Als ob ein Begriff der Sache für sich existierte und nicht vielmehr der Begriff wäre, welchen man sich von der Sache macht! Als ob ein Verhältnis, welches Wir eingehen, nicht durch die Einzigkeit der Eingehenden selbst einzig wäre! Als ob es davon abhinge, wie Andere es rubrizieren [26*]! Wie man aber das „Wesen des Menschen“ vom wirklichen Menschen trennte und diesen nach jenem beurteilte, so trennt man auch seine Handlung von ihm und veranschlagt sie nach dem „menschlichen Werte“. Begriffe sollen überall entscheiden, Begriffe das Leben regeln, Begriffe herrschen. Das ist die religiöse Welt, welcher Hegel einen systematischen Ausdruck gab, indem er Methode in den Unsinn brachte und die Begriffssatzungen zur runden, festgegründeten Dogmatik vollendete. Nach Begriffen wird Alles abgeleiert, und der wirkliche Mensch, d.h. Ich werde nach diesen Begriffsgesetzen zu leben gezwungen. Kann es eine ärgere Gesetzesherrschaft geben, und hat nicht das Christentum gleich im Beginne zugestanden, daß es die Gesetzesherrschaft des Judentums nur schärfer anziehen wolle? („Nicht ein Buchstabe des Gesetzes soll verloren gehen!“)

Durch den Liberalismus wurden nur andere Begriffe aufs Tapet gebracht, nämlich statt der göttlichen menschliche, statt der kirchlichen staatliche, statt der gläubigen „wissenschaftliche“ oder allgemeiner statt der „rohen Sätze“ und Satzungen wirkliche Begriffe und ewige Gesetze.

Jetzt herrscht in der Welt nichts als der Geist. Eine unzählige Menge von Begriffen schwirren in den Köpfen umher, und was tun die Weiterstrebenden? Sie negieren diese Begriffe, um neue an deren Stelle zu bringen! Sie sagen: Ihr macht Euch einen falschen Begriff vom Rechte, vom Staate, vom Menschen, von der Freiheit, von der Wahrheit, von der Ehe usw.; der Begriff des Rechts usw. ist vielmehr derjenige, den Wir jetzt aufstellen. So schreitet die Begriffsverwirrung vorwärts.

Die Weltgeschichte ist mit Uns grausam umgegangen, und der Geist hat eine allmächtige Gewalt errungen. Du mußt Meine elenden Schuhe achten, die Deinen nackten Fuß schützen könnten, mein Salz, wodurch Deine Kartoffeln genießbar würden, und meine Prunkkarosse, deren Besitz Dir alle Not auf einmal abnähme: Du darfst nicht darnach langen. Von alledem und unzähligem Anderen soll der Mensch die Selbständigkeit anerkennen, es soll ihm für unergreifbar und unnahbar gelten, soll ihm entzogen sein. Er muß es achten, respektieren; wehe ihm, wenn er begehrend seine Finger ausstreckt: Wir nennen das „lange Finger machen“!

Wie so bettelhaft wenig ist Uns verblieben, ja wie so gar nichts! Alles ist entrückt worden, an nichts dürfen Wir Uns wagen, wenn es Uns nicht gegeben wird: Wir leben nur noch von der Gnade des Gebers. Nicht eine Nadel darfst Du aufheben, es sei denn, Du habest Dir die Erlaubnis geholt, daß Du es dürfest. Und geholt von wem? Vom Respekte! Nur wenn er sie Dir überläßt als Eigentum, nur wenn Du sie als Eigentum respektieren kannst, nur dann darfst Du sie nehmen. Und wiederum sollst Du keinen Gedanken fassen, keine Silbe sprechen, keine Handlung begehen, die ihre Gewähr allein in Dir hätten, statt sie von der Sittlichkeit oder der Vernunft oder der Menschlichkeit zu empfangen. Glückliche Unbefangenheit des begehrlichen Menschen, wie unbarmherzig hat man Dich an dem Altare der Befangenheit zu schlachten gesucht!

Um den Altar aber wölbt sich eine Kirche, und ihre Mauern rücken immer weiter hinaus. Was sie einschließen, ist – heilig. Du kannst nicht mehr dazu gelangen, kannst es nicht mehr berühren. Aufschreiend in verzehrendem Hunger schweifst Du um diese Mauern herum, das wenige Profane aufzusuchen, und immer ausgedehnter werden die Kreise Deines Laufes. Bald umspannt jene Kirche die ganze Erde, und Du bist zum äußersten Rande hinausgetrieben; noch ein Schritt, und die Welt des Heiligen hat gesiegt: Du versinkst in den Abgrund. Darum ermanne Dich, dieweil es noch Zeit ist, irre nicht länger umher im abgegrasten Profanen, wage den Sprung und stürze hinein durch die Pforten in das Heiligtum selber. Wenn Du das Heilige verzehrst, hast Du’s zum Eigenen gemacht! Verdaue die Hostie und Du bist sie los!

 

 

Anmerkungen

17. Rousseau, die Philanthropen und Andere feindeten die Bildung und Intelligenz an, aber sie übersahen, daß diese in allen Christenmenschen stecke, und zogen nur gegen die gelehrte und verfeinerte Bildung los.

18. [Bruno Bauer: Die Septembertage 1792 und die ersten Kämpfe der Parteien der Republik in Frankreich, 1. Abteilung. Charlottenburg 1844. (Denkwürdigkeiten zur Geschichte der neueren Zeit seit der Französischen Revolution. Nach den Quellen und Original-Memoiren bearbeitet und hrsg. von Bruno Bauer und Edgar Bauer.)]

19. [St. Just: Reden gegen Danton, gehalten am 31. März 1794 im National-Konvent. In: Bibliothek politischer Reden aus dem 18. und 19. Jahrhundert, Hrsg. von Adolf Rutenberg. Bd.3. Berlin 1844. S.146.]

20. August Becker: Die Volksphilosophie unserer Tage, Neumünster bei Zürich 1843. S. 22.

21. Bruno Bauer (Rez.): Theodor Kliefoth: Einleitung in die Dogmengeschichte, Parchim und Ludwigslust 1839. In: Anektoda zur neuesten deutschen Philosophie und Publizistik, Hrsg. von Arnold Ruge, Bd.2, Zürich und Winterthur 1843. S.152/153.

22. Joh. 2, 4.

23. Matth. 10, 35.

24. Das Wesen des Christentums, 2., vermehrte Aufl., Leipzig 1843, S.403.

25. Mark. 9, 23.

 

 

Fußnoten
(der Redaktion)

13*. [Übertragung in das lateinische Alphabet: toùs anthrópous] die Menschen

14*. [Übertragung in das lateinische Alphabet: tòn anthropon] der Mensch

15*. Es werde Gerechtigkeit, und wenn die Welt darüber zugrunde ginge [„ohne Rücksicht auf Verluste“].

16*. Matth. 19, 21; Mark. 10, 21; Luk. 18, 22.

17*. vor Augen führen, klar darlegen

18*. Matth. 23, 12; Luk. 14, 11; 18, 14.

19*. mit Jurisdiktion in eigenen Namen verbundenes Kirchenamt

20*. reinigen; säubern; läutern

21*. verändern, ändern; erregen, aufregen; ärgern

22*. reizen, krankhaft verändern

23*. nichts bewundern; nicht verehren; sich über nichts wundern

24*. Alles Unglück wird stets auf einen Unerschrockenen treffen [kein Unglück wird mich schrecken].

25*. unveräußerliches adliges Familienvermögen

26*. überschreiben; einordnen, einstufen

 


Zuletzt aktualisiert am 16.10.2004