J.W. Stalin

 

Über die Grundlagen des Leninismus

 

IV
Die Diktatur des Proletariats

Aus diesem Thema greife ich drei Grundfragen heraus:

  1. die Diktatur des Proletariats als Instrument der proletarischen Revolution;
  2. die Diktatur des Proletariats als Herrschaft des Proletariats über die Bourgeoisie;
  3. die Sowjetmacht als Staatsform der Diktatur des Proletariats.
     

1. Die Diktatur des Proletariats als Instrument der proletarischen Revolution. Die Frage der proletarischen Diktatur ist vor allem die Frage nach dem Grundgehalt der proletarischen Revolution. Die proletarische Revolution, ihre Bewegung, ihr Schwung, ihre Errungenschaften erhalten erst durch die Diktatur des Proletariats Form und Gestalt. Die Diktatur des Proletariats ist das Instrument der proletarischen Revolution, ihr Organ, ihr wichtigster Stützpunkt, ins Leben gerufen erstens, um den Widerstand der gestürzten Ausbeuter zu unterdrücken und die eigenen Errungenschaften zu verankern, zweitens, um die proletarische Revolution zu Ende zu führen, die Revolution bis zum vollständigen Sieg des Sozialismus zu führen. Die Bourgeoisie besiegen und ihre Macht niederwerfen, das vermag die Revolution auch ohne die Diktatur des Proletariats. Aber den Widerstand der Bourgeoisie unterdrücken, den Sieg behaupten und weiterschreiten zum endgültigen Sieg des Sozialismus kann die Revolution nicht mehr, wenn sie nicht auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung ein spezielles Organ in Form der Diktatur des Proletariats als ihre wichtigste Stütze schafft.

„Die Frage der Macht ist die Grundfrage jeder Revolution“ (Lenin). Bedeutet das, die Sache sei damit abgetan, dass man die Macht ergreift, sie an sich reißt? Nein, keineswegs. Die Machtergreifung ist nur der Anfang. Die in dem einen Lande gestürzte Bourgeoisie bleibt, aus vielen Gründen, noch lange Zeit stärker als das Proletariat, von dem sie gestürzt wurde. Deshalb kommt alles darauf an, die Macht zu behaupten, sie zu festigen, sie unbesiegbar zu machen. Was ist notwendig, um dieses Ziel zu erreichen? Dazu ist notwendig, zum mindesten drei Hauptaufgaben zu erfüllen, vor die sich die Diktatur des Proletariats „am Tage nach dem Siege“ gestellt sieht:

  1. den Widerstand der durch die Revolution gestürzten und expropriierten Gutsbesitzer und Kapitalisten zu brechen, alle ihre Versuche zur Wiederherstellung der Macht des Kapitals zunichte zu machen;
  2. den Aufbau im Geiste des Zusammenschlusses aller Werktätigen um das Proletariat zu organisieren und diese Arbeit in einer Richtung durchzuführen, die die Liquidierung, die Aufhebung der Klassen vorbereitet;
  3. die Revolution zu bewaffnen, die Armee der Revolution zum Kampf gegen die äußeren Feinde, zum Kampf gegen den Imperialismus zu organisieren.

Die Diktatur des Proletariats ist notwendig, um diese Aufgaben durchzuführen, zu bewältigen.

„Der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus“, sagt Lenin, „umfasst eine ganze geschichtliche Epoche. Solange sie nicht abgeschlossen ist, behalten die Ausbeuter unvermeidlich die Hoffnung auf eine Restauration, und diese Hoffnung verwandelt sich in Versuche der Restauration. Und nach der ersten ernsten Niederlage werfen sich die gestürzten Ausbeuter, die ihren Sturz nicht erwartet, an ihn nicht geglaubt, keinen Gedanken an ihn zugelassen haben, mit verzehnfachter Energie, mit rasender Leidenschaft, mit hundertfachem Hass in den Kampf für die Wiedererlangung des ihnen weggenommenen ,Paradieses‘, für ihre Familien, die ein so schönes Leben geführt haben und die jetzt von dem ,gemeinen Pack‘ zu Ruin und Elend (oder zu ,einfacher‘ Arbeit ...) verurteilt werden. Und hinter den kapitalistischen Ausbeutern trottet die breite Masse des Kleinbürgertums einher, von dem Jahrzehnte geschichtlicher Erfahrungen in allen Ländern bezeugen, dass es schwankt und wankt, dass es heute dem Proletariat folgt, morgen vor den Schwierigkeiten der Umwälzung zurückschreckt, bei der ersten Niederlage oder halben Niederlage der Arbeiter in Panik gerät, die Nerven verliert, sich hin und her wirft, flennt, aus einem Lager in das andere überläuft“ (siehe 4. Ausgabe, Bd.28, S.233 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd.II, S.434/435]).

Die Bourgeoisie hat ihre Gründe, Restaurationsversuche zu unternehmen, denn sie bleibt nach ihrem Sturz noch lange Zeit stärker als das Proletariat, von dem sie gestürzt wurde.

„Wenn die Ausbeuter nur in einem Lande geschlagen sind“, sagt Lenin, „- und das ist natürlich der typische Fall, denn eine gleichzeitige Revolution in einer Reihe von Ländern ist eine seltene Ausnahme –, so bleiben sie doch stärker als die Ausgebeuteten“ (ebenda, S.232, russ. [S.434, deutsch]).

Worin besteht die Stärke der gestürzten Bourgeoisie?

Erstens „in der Stärke des internationalen Kapitals, in der Stärke und Festigkeit der internationalen Verbindungen der Bourgeoisie“ (siehe 4. Ausgabe, Bd.31, S.7 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. II, S.672]).

Zweitens darin, dass „die Ausbeuter noch lange Zeit nach dem Umsturz unvermeidlich eine Reihe gewaltiger tatsächlicher Vorteile behalten: Es bleibt ihnen das Geld (die sofortige Abschaffung des Geldes ist unmöglich), es bleiben ihnen gewisse, oft bedeutende Mobilien, die Beziehungen, die Routine der Organisation und Verwaltung, die Kenntnis aller ,Geheimnisse´ (Gebräuche, Methoden, Mittel, Möglichkeiten) der Verwaltung, es bleibt ihnen die höhere Bildung, die nahe Fühlung mit dem (bürgerlich lebenden und denkenden) höheren technischen Personal, es bleibt ihnen die unvergleichlich größere Routine im Militärwesen (das ist sehr wichtig) und so weiter, und so weiter.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd.28, S.232 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd.II, S.433/434].)

Drittens „in der Macht der Gewohnheit, in der Stärke der Kleinproduktion. Denn Kleinproduktion gibt es auf der Welt leider noch sehr, sehr viel; die Kleinproduktion aber erzeugt Kapitalismus und Bourgeoisie unausgesetzt, täglich, stündlich, elementar und im Massenumfang“..., denn „die Klassen aufheben heißt nicht nur die Gutsbesitzer und Kapitalisten vertreiben – das haben wir verhältnismäßig leicht getan –, das heißt auch die kleinen Warenproduzenten beseitigen, diese aber kann man nicht vertreiben, man kann sie nicht unterdrücken, mit ihnen muss man zurechtkommen, sie kann (und muss) man nur durch eine sehr langwierige, langsame, vorsichtige organisatorische Arbeit ummodeln und umerziehen.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd.31, S.718 und 26/27 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. II, S. 672 und 691].)

Deshalb sagt Lenin:

„Die Diktatur des Proletariats ist der aufopferungsvollste und schonungsloseste Krieg der neuen Klasse gegen den mächtigeren Feind, gegen die Bourgeoisie, deren Widerstand sich durch ihren Sturz verzehnfacht.“

„Die Diktatur des Proletariats ist ein zäher Kampf, ein blutiger und unblutiger, gewaltsamer und friedlicher, militärischer und wirtschaftlicher, pädagogischer und administrativer Kampf gegen die Mächte und Traditionen der alten Gesellschaft.“ (Ebenda, S.7 und 27, russ. [S.672 und 691, deutsch].)

Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass die Erfüllung dieser Aufgaben in kurzer Zeit, die Durchführung alles dessen in ein paar Jahren ein Ding der Unmöglichkeit ist. Deshalb darf man die Diktatur des Proletariats, den Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus nicht als eine schnell vorübergehende Periode mit einer Reihe von „hochrevolutionären“ Akten und Dekreten betrachten, sondern man muss sie als eine ganze historische Epoche betrachten, die ausgefüllt ist mit Bürgerkriegen und äußeren Zusammenstößen, hartnäckiger organisatorischer Arbeit und wirtschaftlichem Aufbau, Angriffen und Rückzügen, Siegen und Niederlagen. Diese historische Epoche ist notwendig, nicht nur um die wirtschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen für den vollständigen Sieg des Sozialismus zu schaffen, sondern auch, um dem Proletariat die Möglichkeit zu geben, erstens sich selbst zu erziehen und zu stählen als diejenige Kraft, die fähig ist, das Land zu verwalten, und zweitens, die kleinbürgerlichen Schichten umzuerziehen und umzumodeln in einer Richtung, die die Organisierung der sozialistischen Produktion sicherstellt.

„Ihr habt“, sagte Marx den Arbeitern, „15, 20, 50 Jahre Bürgerkriege und Völkerkämpfe durchzumachen, nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um euch selbst zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen“ (siehe Bd. VIII der Werke von K. Marx und F. Engels, S.506 [deutsch in Karl Marx, Enthüllungen über den Kommunistenprozess zu Köln, Moskau 1940, S.32/33]).

Den Gedanken von Marx fortsetzend und weiterentwickelnd, schreibt Lenin:

„Unter der Diktatur des Proletariats wird man Millionen Bauern und Kleinproduzenten, Hunderttausende Angestellte, Beamte, bürgerliche Intellektuelle umerziehen und sie alle dem proletarischen Staat und der proletarischen Führung unterstellen, in ihnen die bürgerlichen Gewohnheiten und Traditionen besiegen müssen“, ebenso wie es notwendig sein wird, „in langwierigen Kämpfen, auf dem Boden der Diktatur des Proletariats, auch die Proletarier selbst umzuerziehen, die sich von ihren eigenen kleinbürgerlichen Vorurteilen nicht auf einmal, nicht durch ein Wunder, nicht auf Geheiß der Mutter Gottes, nicht auf Geheiß einer Losung, einer Resolution, eines Dekrets befreien, sondern nur in langwierigen und schweren Massenkämpfen gegen den Masseneinfluss des Kleinbürgertums“ (siehe 4. Ausgabe, Bd.31, S.95/96 und 94 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd.II, S.756 und 755]).
 

2. Die Diktatur des Proletariats als Herrschaft des Proletariats über die Bourgeoisie. Bereits aus dem Gesagten ist ersichtlich, dass die Diktatur des Proletariats nicht ein einfacher Personenwechsel in der Regierung, nicht ein Wechsel des „Kabinetts“ usw. ist, bei dem die alten ökonomischen und politischen Zustände unangetastet bleiben. Für die Menschewiki und Opportunisten aller Länder, die die Diktatur wie das Feuer fürchten und vor Schreck den Begriff Diktatur mit dem Begriff „Machteroberung“ vertauschen, besteht die „Machteroberung“ gewöhnlich in einem Wechsel des „Kabinetts“, darin, dass eine neue Regierung aus Leuten vom Schlage Scheidemanns und Noskes, MacDonalds und Hendersons zur Macht gelangt. Es braucht wohl kaum erklärt zu werden, dass solche und ähnliche Kabinettswechsel mit der Diktatur des Proletariats, mit der Eroberung der wirklichen Macht durch das wirkliche Proletariat nichts gemein haben. Wo die MacDonalds und Scheidemänner an der Macht stehen, die alten bürgerlichen Zustände bestehen bleiben, da können ihre, mit Verlaub zu sagen, Regierungen nichts anderes sein als ein Hilfsapparat in den Händen der Bourgeoisie, als eine Hülle für die Eiterbeulen des Imperialismus, als ein Werkzeug in den Händen der Bourgeoisie gegen die revolutionäre Bewegung der unterdrückten und ausgebeuteten Massen. Das Kapital braucht sie, diese Regierungen, als Kulisse, wenn es ihm unbequem und unvorteilhaft ist, wenn es ihm schwer fällt, die Massen ohne Kulisse zu unterdrücken und auszubeuten. Freilich ist das Aufkommen solcher Regierungen ein Anzeichen dafür, dass es „dort, bei ihnen“ [das heißt bei den Kapitalisten), „am Schipkapass“ („Am Schipkapass alles ruhig“ – russische Redensart, die aus dem Russisch-Türkischen Krieg 1877/78 stammt. In den Kämpfen am Schipkapass erlitten die russischen Truppen große Verluste, doch meldete der russische Generalstab in seinen Heeresberichten: „Am Schipkapass alles ruhig.“ Der Übers.] nicht ruhig ist, aber trotzdem bleiben Regierungen solcher Art unvermeidlich übertünchte Regierungen des Kapitals. Zwischen einer Regierung MacDonalds oder Scheidemanns und der Machteroberung durch das Proletariat besteht ein himmelweiter Unterschied. Die Diktatur des Proletariats ist kein Regierungswechsel, sondern ein neuer Staat, mit neuen Machtorganen in der Hauptstadt und im Lande, ein Staat des Proletariats, der auf den Trümmern des alten Staates, des Staates der Bourgeoisie, entstanden ist.

Die Diktatur des Proletariats entsteht nicht auf der Grundlage der bürgerlichen Zustände, sondern im Verlauf ihrer Zertrümmerung, nach dem Sturz der Bourgeoisie, im Verlauf der Expropriierung der Gutsbesitzer und Kapitalisten, im Verlauf der Sozialisierung der wichtigsten Produktionsinstrumente und -mittel, im Verlauf der gewaltsamen Revolution des Proletariats. Die Diktatur des Proletariats ist eine revolutionäre Macht, die sich auf die Gewaltanwendung gegen die Bourgeoisie stützt.

Der Staat ist eine Maschine in den Händen der herrschenden Klasse zur Unterdrückung des Widerstands ihrer Klassengegner. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Diktatur des Proletariats im Grunde genommen durch nichts von der Diktatur jeder anderen Klasse, denn der proletarische Staat ist eine Maschine zur Niederhaltung der Bourgeoisie. Aber es gibt hier einen wesentlichen Unterschied. Er besteht darin, dass alle Klassenstaaten, die bisher existierten, eine Diktatur der ausbeutenden Minderheit über die ausgebeutete Mehrheit waren, während die Diktatur des Proletariats die Diktatur der ausgebeuteten Mehrheit über die ausbeutende Minderheit ist.

Kurzum: Die Diktatur des Proletariats ist die durch kein Gesetz beschränkte und sich auf Gewalt stützende Herrschaft des Proletariats über die Bourgeoisie – eine Herrschaft, die die Sympathien und die Unterstützung der werktätigen und ausgebeuteten Massen besitzt (Lenin Staat und Revolution).

Daraus ergeben sich zwei grundlegende Schlussfolgerungen:

Erste Schlussfolgerung. Die Diktatur des Proletariats kann keine „vollständige“ Demokratie, keine Demokratie für alle, sowohl für die Reichen als auch für die Armen, sein – die Diktatur des Proletariats „muss ein Staat sein, auf neue Art demokratisch (fürs die Proletarier und überhaupt für die Besitzlosen) und auf neue Art diktatorisch (gegen die Bourgeoisie)“ (siehe 4. Ausgabe, Bd.25, S.384 [deutsch in Ausgewählte Werke“ in zwei Bänden, Bd.II, S.183]). Das Gerede der Kautsky und Konsorten über allgemeine Gleichheit, über „reine“ Demokratie, über „vollkommene“ Demokratie usw. ist eine bürgerliche Verschleierung der unzweifelhaften Tatsache, dass eine Gleichheit zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern unmöglich ist. Die Theorie der „reinen“ Demokratie ist die Theorie der Oberschicht der Arbeiterklasse, die von den imperialistischen Räubern gezähmt wurde und gefüttert wird. Sie wurde geschaffen, um die Eiterbeulen des Kapitalismus zu verdecken, den Imperialismus zu übertünchen und ihm moralische Kraft im Kampf gegen die ausgebeuteten Massen zu verleihen. Unter dem Kapitalismus gibt es und kann es keine wirklichen „Freiheiten“ für die Ausgebeuteten geben, schon aus dem Grunde, weil die Räumlichkeiten, Druckereien, Papierlager usw., die notwendig sind, um von den „Freiheiten“ Gebrauch machen zu können, ein Privileg der Ausbeuter bilden. Unter dem Kapitalismus gibt es und kann es keine wirkliche Beteiligung der ausgebeuteten Massen an der Verwaltung des Landes geben, schon aus dem Grunde, weil selbst bei demokratischsten Zuständen unter den Verhältnissen des Kapitalismus die Regierungen nicht vom Volk, sondern von den Rothschild und Stinnes, den Rockefeller und Morgan eingesetzt werden. Die Demokratie unter dem Kapitalismus ist eine kapitalistische Demokratie, eine Demokratie der ausbeutenden Minderheit, die auf Beschränkung der Rechte der ausgebeuteten Mehrheit beruht und gegen diese Mehrheit gerichtet ist. Nur unter der proletarischen Diktatur sind wirkliche Freiheiten für die Ausgebeuteten und eine wirkliche Beteiligung der Proletarier und der Bauern an der Verwaltung des Landes möglich. Die Demokratie unter der Diktatur des Proletariats ist eine proletarische Demokratie, eine Demokratie der ausgebeuteten Mehrheit, die auf Beschränkung der Rechte der ausbeutenden Minderheit beruht und gegen diese Minderheit gerichtet ist.

Zweite Schlussfolgerung. Die Diktatur des Proletariats kann nicht entstehen als Resultat der friedlichen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und der bürgerlichen Demokratie, sie kann nur entstehen im Gefolge der Zertrümmerung der bürgerlichen Staatsmaschine, der bürgerlichen Armee, des bürgerlichen Beamtenapparats, der bürgerlichen Polizei.

„Die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen“, sagen Marx und Engels im Vorwort zum Kommunistischen Manifest. Die Aufgabe der proletarischen Revolution ist es, „...nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andre zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen, und dies ist die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent“, sagt Marx in einem Brief an Kugelmama vom Jahre 1871. [15]

Marx’ einschränkende Worte vom Kontinent gaben den Opportunisten und Menschewiki aller Länder Anlass, mit Geschrei zu behaupten, Marx habe also die Möglichkeit einer friedlichen Entwicklung der bürgerlichen Demokratie zur proletarischen Demokratie eingeräumt, zum mindesten für einige Länder, die nicht zum europäischen Kontinent gehören (England, Amerika). Marx hatte wirklich eine solche Möglichkeit eingeräumt, und er hatte Grund dazu, dies für das England und Amerika der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zu tun, als es noch keinen Monopolkapitalismus, keinen Imperialismus gab und in diesen Ländern infolge ihrer besonderen Entwicklungsbedingungen noch kein entwickelter Militarismus und Bürokratismus bestand. So war die Lage vor dem Aufkommen des entwickelten Imperialismus. Später aber, nach 30 bis 40 Jahren, als sich die Lage der Dinge in diesen Ländern von Grund aus geändert, als der Imperialismus sich entwickelt und alle kapitalistischen Länder ohne Ausnahme erfasst hatte, als der Militarismus und Bürokratismus auch in England und Amerika aufgekommen, als die besonderen Bedingungen einer friedlichen Entwicklung Englands und Amerikas verschwunden waren – da musste die Einschränkung für diese Länder von selbst fortfallen.

„Jetzt“, sagt Lenin, „im Jahre 1917, in der Epoche des ersten großen imperialistischen Krieges, fällt diese Einschränkung von Marx fort. Sowohl England als auch Amerika, die größten und letzten Vertreter angelsächsischer ,Freiheit‘ in der Welt, im Sinne des Fehlens von Militarismus und Bürokratismus, sind vollständig in den allgemeinen europäischen, schmutzigen, blutigen Sumpf der bürokratisch-militärischen Institutionen hinab gesunken, die sich alles unterordnen, die alles erdrücken. Jetzt bildet sowohl für England als auch für Amerika die Zerbrechung, die Zerstörung der ‚fertigen Staatsmaschine‘ (die dort in den Jahren 1914 bis 1917 die ‚europäische‘ allgemein-imperialistische Vollkommenheit erreicht hat) die ‚Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution‘.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd.25, S.387 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd.II, S.186].)

Mit anderen Worten, das Gesetz von der gewaltsamen Revolution des Proletariats, das Gesetz von der Zertrümmerung der bürgerlichen Staatsmaschine als Vorbedingung dieser Revolution ist ein unumgängliches Gesetz der revolutionären Bewegung der imperialistischen Länder der Welt.

In ferner Zukunft, wenn das Proletariat in den wichtigsten kapitalistischen Ländern gesiegt und die gegenwärtige kapitalistische Umwelt einer sozialistischen Umwelt Platz gemacht haben wird, ist natürlich ein „friedlicher“ Entwicklungsweg für manche kapitalistischen Länder durchaus möglich, deren Kapitalisten infolge der „ungünstigen“ internationalen Lage es für zweckmäßig halten werden, „freiwillig“ dem Proletariat ernsthafte Zugeständnisse zu machen. Aber diese Annahme betrifft nur eine ferne und mögliche Zukunft. Für die nächste Zukunft gibt es für diese Annahme keinen, rein gar keinen Grund.

Deshalb hat Lenin Recht, wenn er sagt:

„Die proletarische Revolution ist unmöglich ohne gewaltsame Zerstörung der bürgerlichen Staatsmaschinerie und ohne ihre Ersetzung durch eine neue“ (siehe 4. Ausgabe, Bd.28, S.217 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd.II, S.419]).
 

3. Die Sowjetmacht als Staatsform der Diktatur des Proletariats. Der Sieg der Diktatur des Proletariats bedeutet die Unterdrückung der Bourgeoisie, die Zertrümmerung der bürgerlichen Staatsmaschine, die Ersetzung der bürgerlichen Demokratie durch die proletarische Demokratie. Das ist klar. Aber welcher Art sind die Organisationen, mit deren Hilfe diese kolossale Arbeit geleistet werden kann? dass die alten Formen der Organisation des Proletariats, die auf dem Boden des bürgerlichen Parlamentarismus entstanden sind, für diese Arbeit unzureichend sind, unterliegt wohl keinem Zweifel. Welcher Art sind aber die neuen Formen der Organisation des Proletariats, die imstande sind, die Rolle des Totengräbers der bürgerlichen Staatsmaschine zu spielen, die imstande sind, nicht nur diese Maschine zu zerbrechen und nicht nur die bürgerliche Demokratie durch die proletarische Demokratie zu ersetzen, sondern auch zur Grundlage der proletarischen Staatsmacht zu werden?

Diese neue Form der Organisation des Proletariats sind die Sowjets. Worin besteht die Stärke der Sowjets im Vergleich mit den alten Organisationsformen?

Darin, dass die Sowjets die umfassendsten, die alles umfassenden Massenorganisationen des Proletariats sind, denn sie und nur sie allein erfassen alle Arbeiter ohne Ausnahme.

Darin, dass die Sowjets die einzigen Massenorganisationen sind, die alle Unterdrückten und Ausgebeuteten, Arbeiter und Bauern, Soldaten und Matrosen, zusammenschließen und wo infolgedessen die politische Führung des Kampfes der Massen durch die Avantgarde der Massen, durch das Proletariat, am leichtesten und am vollständigsten verwirklicht werden kann.

Darin, dass die Sowjets die mächtigsten Organe des revolutionären Kampfes der Massen, der politischen Aktionen der Massen, des Aufstands der Massen sind, Organe, die fähig sind, die Allmacht des Finanzkapitals und seiner politischen Anhängsel zu brechen.

Darin, dass die Sowjets die unmittelbaren Organisationen der Massen selbst sind, das heißt die demokratischsten und deshalb auch autoritativsten Organisationen der Massen, die ihnen die Beteiligung an der Einrichtung des neuen Staates und an seiner Verwaltung maximal erleichtern und die revolutionäre Energie, die Initiative, die schöpferischen Fähigkeiten der Massen im Kampf für die Zerstörung der alten Ordnung, im Kampf für die neue, proletarische Ordnung maximal zur Entfaltung bringen.

Die Sowjetmacht ist die Vereinigung und Konstituierung der örtlichen Sowjets zu einer gesamtstaatlichen Organisation, zur Staatsorganisation des Proletariats als der Avantgarde der unterdrückten und ausgebeuteten Massen und als der herrschenden Klasse – die Vereinigung zur Republik der Sowjets.

Das Wesen der Sowjetmacht besteht darin, dass die die breitesten Massen erfassenden und revolutionärsten Organisationen gerade derjenigen Klassen, die von den Kapitalisten und Gutsbesitzern unterdrückt wurden, jetzt „die ständige und einzige Grundlage der gesamten Staatsmacht, des gesamten Staatsapparats“ sind, dass „gerade diejenigen Massen, die selbst in den demokratischsten bürgerlichen Republiken“ dem Gesetz nach zwar gleichberechtigt, aber „in der Tat durch tausenderlei Mittel und Kniffe von der Beteiligung am politischen Leben und vom Gebrauch der demokratischen Rechte und Freiheiten ferngehalten wurden, jetzt zur ständigen, unbedingten und dabei entscheidenden Beteiligung an der demokratischen Verwaltung des Staates herangezogen werden“ (siehe Lenin, 4. Ausgabe, Bd.28, S.443, russ.).

Deshalb ist die Sowjetmacht eine neue Form der Staatsorganisation, die sich von der alten, bürgerlich-demokratischen und parlamentarischen Form grundsätzlich unterscheidet, ein neuer Typus des Staates, der nicht den Aufgaben der Ausbeutung und Unterdrückung der werktätigen Massen angepasst ist, sondern den Aufgaben ihrer völligen Befreiung von jeder Unterdrückung und Ausbeutung, den Aufgaben der Diktatur des Proletariats.

Lenin hat recht, wenn er sagt, dass mit dem Aufkommen der Sowjetmacht „die Epoche des bürgerlich-demokratischen Parlamentarismus beendet ist und ein neues Kapitel der Weltgeschichte begonnen hat: die Epoche der proletarischen Diktatur“.

Worin bestehen die charakteristischen Züge der Sowjetmacht?

Darin, dass die Sowjetmacht, solange es Klassen gibt, den ausgeprägtesten Massencharakter trägt und die demokratischste Staatsorganisation von allen erdenklichen Staatsorganisationen darstellt, denn dadurch, dass sie die Arena für den Zusammenschluss und die Zusammenarbeit der Arbeiter mit den ausgebeuteten Bauern im Kampf gegen die Ausbeuter abgibt und dass sie sich in ihrem Wirken auf diesen Zusammenschluss und diese Zusammenarbeit stützt, ist sie die Macht der Mehrheit der Bevölkerung über die Minderheit, der Staat dieser Mehrheit, der Ausdruck ihrer Diktatur.

Darin, dass die Sowjetmacht die internationalistischste aller Staatsorganisationen der Klassengesellschaft ist, denn dadurch, dass sie jede nationale Unterdrückung beseitigt und dass sie sich auf die Zusammenarbeit der werktätigen Massen der verschiedenen Nationalitäten stützt, erleichtert sie die Vereinigung dieser Massen in einem einheitlichen Staatsverband.

Darin, dass die Sowjetmacht infolge ihrer ganzen Struktur es der Avantgarde dieser Massen, dem Proletariat, als dem geschlossensten und klassenbewusstesten Kern der Sowjets, erleichtert, die unterdrückten und ausgebeuteten Massen zu führen.

„Die Erfahrungen aller Revolutionen und aller Bewegungen der unterdrückten Klassen, die Erfahrungen der sozialistischen Bewegung in der ganzen Welt lehren uns“, sagt Lenin, „dass nur das Proletariat imstande ist, die zersplitterten und rückständigen Schichten der werktätigen und ausgebeuteten Bevölkerung zu vereinigen und zu führen.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd.28, S.444, russ.) Es handelt sich darum, dass die Struktur der Sowjetmacht es erleichtert, die aus diesen Erfahrungen hervorgehenden Lehren zu verwirklichen.

Darin, dass die Sowjetmacht, indem sie die gesetzgebende und vollziehende Gewalt in einer einheitlichen Staatsorganisation vereinigt und die territorialen Wahlkreise durch Produktionseinheiten, durch Werke und Fabriken, ersetzt, die Arbeiter und die werktätigen Massen überhaupt unmittelbar mit dem staatlichen Verwaltungsapparat verknüpft und sie das Land verwalten lehrt.

Darin, dass nur die Sowjetmacht imstande ist, die Armee von der Unterordnung unter die bürgerliche Kommandogewalt zu befreien und sie aus einem Werkzeug der Unterdrückung des Volkes, das sie in der bürgerlichen Ordnung ist, in ein Werkzeug der Befreiung des Volkes vom Joch der Bourgeoisie, der eigenen und der fremden, zu verwandeln.

Darin, dass „nur die Sowjetorganisation des Staates imstande ist, den alten, das heißt den bürgerlichen, Beamten- und Justizapparat wirklich mit einem Schlag zu zerbrechen und endgültig zu zerstören“ (ebenda).

Darin, dass nur die Sowjetform des Staates, die die Massenorganisationen der Werktätigen und Ausgebeuteten zur ständigen und unbedingten Teilnahme an der Verwaltung des Staates heranzieht, imstande ist, das Absterben des Staates vorzubereiten, das eins der grundlegenden Elemente der zukünftigen staatslosen, kommunistischen Gesellschaft ist.

Die Republik der Sowjets ist also jene gesuchte und endlich gefundene politische Form, in deren Rahmen die ökonomische Befreiung des Proletariats, der vollständige Sieg des Sozialismus erreicht werden muss.

Die Pariser Kommune war die Keimzelle dieser Form. Die Sowjetmacht ist ihre Entwicklung und Vollendung.

Deshalb sagt Lenin:

„Die Republik der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten ist nicht nur eine Form demokratischer Einrichtungen von höherem Typus ..., sondern sie ist auch die einzige´ Form, die imstande ist, den schmerzlosesten Übergang zum Sozialismus zu sichern.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd.26, S.340 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd.II, S.279].)

 

 

Anmerkung

15. Siehe K. Marx und F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, 1939, S.10, und Ausgewählte Briefe, 1947, S.263 [deutsch in Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd.I, S.16 und Bd.II, S.435].

 


Zuletzt aktualisiert am 16.9.2004