Rudolf Rocker

 

Der Nationalismus – eine Gefahrenquelle!


R.R.: Aufsatzsammlung, Bd.2, 1949-1953 Verlag Freie Gesellschaft,1980.
Originaltext von der Webseite der FAU-Bremen.
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Es gab wohl kaum eine Epoche in der Geschichte der Menschheit, in der ein einmütiges und vorurteilsfreies Zusammenwirken aller Völkergruppen so dringend notwendig gewesen wäre wie gerade heute, um den großen Problemen der Zeit zu begegnen, von deren Lösung das Schicksal aller abhängig ist. Alle Probleme, die sich heute vor uns auftürmen, haben sich zu Weltproblemen ausgewachsen, die man weder umgehen noch durch politische Neutralität beseitigen kann. Jeder Versuch einzelner Völker in dieser Richtung muß nur zu neuen Trugschlüssen führen und die Gefahr vergrößern, die uns heute von allen Seiten bedroht. Die meisten Menschen haben auch bereits eine dunkle Vorstellung von der Unhaltbarkeit der heutigen Zustände, doch nur eine kleine Minderheit hat bis jetzt klar erkannt, daß eine neue und vielleicht die größte Katastrophe, von der die Menschheit je befallen wurde, nur durch eine entschlossene Abkehr von den alten Wegen der Machtpolitik der Staaten und der nationalistischen Verblendung der Völker abgewendet werden kann.

Was uns heute Not tut, ist ein ungetrübter und breiterer Ausblick über die gesellschaftlichen Notwendigkeiten der nächsten Zukunft und die klare Erkenntnis, daß die Fragen, zu deren Lösung wir heute gezwungen sind, weit über die politischen Abgrenzungen der Staaten hinausgehen und nicht länger im Sinne nationalistischer Begriffe zu lösen sind. Vor dem deutsch-französischen Kriege 1870/71 und der wachsenden Militarisierung Europas waren die nationalistischen Bestrebungen des „Jungen Europa“ und der Glaube an die Unantastbarkeit der Souveränität kleiner Staaten noch immerhin verständlich; doch das änderte sich gründlich, als die militärischen Bündnisse der großen Staaten einsetzten, die den ganzen Kontinent in feindliche Lager zerklüfteten und durch ständige Rüstungen die Kriegsgefahr zu einem Dauerzustand machten, der nur zu einer sozialen Katastrophe führen konnte und naturgemäß immer neue Katastrophen zum Gefolge haben muß, so lange die Völker sich nicht selbst diesem Zustand widersetzen. Sogar diejenigen Völker, die bis zum Ende des ersten Weltkrieges einem fremden Joch unterworfen waren und seit vielen Jahren ihre nationale Unabhängigkeit erstrebten, die sie nun endlich erreicht hatten, konnten damit nichts gewinnen und gerieten fast alle in eine Lage, die sich für sie wirtschaftlich und politisch noch drückender gestaltete als ihre frühere. Von den neuen Staaten, die sich nach dem ersten Weltkriege im östlichen Teile Europas entwickelten, hatte nur die Tschechoslowakei einen Erfolg zu verzeichnen, die sich aus den früheren österreichischen Provinzen Böhmen, Mähren, Schlesien und einigen kleineren Distrikten zusammensetzte. Die Tschechen waren zwar in diesem neuen Staatswesen die stärkste Volksgruppe, doch bildeten sie noch nicht eine Hälfte der fünfzehn Millionen seiner Bevölkerung, während acht Millionen auf Slowaken, Deutsche, Ungarn, Ruthenen und kleinere Volksgruppen entfielen. Wenn das kleine Land sich trotzdem so rasch emporarbeiten konnte, so hatte es dies hauptsächlich zwei Umständen zu verdanken: Es besaß eine Menge wertvoller Bodenschätze und bildete schon vor seiner errungenen Unabhängigkeit den wichtigsten Industriebezirk Österreichs. Dazu kam noch, daß die Tschechen auf alte demokratische Überlieferungen zurückblicken konnten und in Masaryk einen geistigen Führer gefunden hatten, der nie von panslawistischen Ideengängen noch von den Anschauungen der deutschen Philosophie beeinflußt wurde und seine föderalistischen und liberalen Bestrebungen aus westlichen Quellen geschöpft hatte. Er hatte, in der Tat, sehr viel von dem politischen Ideengut Jeffersons aufgenommen und hatte manche Ähnlichkeit mit Pi y Margall, dem großen Vorkämpfer des Föderalismus in Spanien. Alle anderen Länder aber, die sich damals ihre nationale Unabhängigkeit errungen hatten, machten sowohl wirtschaftlich als politisch einen schlechten Tausch, der ihre Lage wesentlich verschlimmerte, ohne ihnen die geringsten Vorteile zu bringen, die sie so lange erträumt hatten. Jeder dieser neuen Staaten gehörte früher einem bestimmten Wirtschaftsgebiet an und war nun gezwungen, seine eigene Wirtschaft zu organisieren und den neuen politischen Verhältnissen anzupassen. Dies aber war schwierig, da jene Länder im Osten Europas bereits vor ihrer nationalen Befreiung in einer sehr bedrängten wirtschaftlichen Lage zu leben gezwungen waren und ihre allgemeinen Lebensbedingungen auf einer weit tieferen Stufe lagen als an den meisten westlichen Ländern des Kontinents. Unter diesen Umständen, die noch durch die allgemeine Wirtschaftskrise nach dem ersten Weltkriege wesentlich verschärft wurden, waren sie einer Neugestaltung ihres wirtschaftlichen Lebens in keiner Weise gewachsen und gerieten immer tiefer in den Zustand einer chronischen Dauerkrise, die ihre ohnedies schon ärmlichen Lebensbedingungen noch mehr herabdrückte.

Aber auch die politischen und sozialen Rechte und Freiheiten, die man von der nationalen Befreiung erhofft hatte, erwiesen sich sehr bald als eine leere Illusion, die keinen falschen Kreuzer wert war, denn in den meisten Fällen gestaltete sich das eigene Joch, das sich jene Völker durch ihre angebliche nationale Unabhängigkeit selbst auferlegt hatten, noch viel drückender und unerträglicher als das fremde, dem sie kaum entronnen waren. Kein Mensch mit etwas politischer Einsicht wird heute zu behaupten wagen, daß Polen unter der Herrschaft Pilsudskis und der Diktatur der Generäle sich größerer politischer Rechte erfreute als früher unter dem russischen Zarismus und der preussischen und österreichischen Monarchie. Ungarn, das sich infolge der numerischen Stärke seiner Bevölkerung und der revolutionären Überlieferung von 1848/49 unter der Habsburger-Dynastie manche politischen Rechte und Vorteile errungen hatte, verlor unter der nationalen Diktatur von Horthy auch die letzten Reste seiner früheren Freiheiten. Ähnlich gestaltete sich die Lage in Jugoslawien und in den meisten kleineren Ländern, die nach dem ersten Weltkriege in die Reihe selbständiger Staaten aufgerückt waren.

Heute aber sind fast alle jene jungen Staaten, zusammen mit den älteren im Osten Europas, bloß noch Satelliten der Diktatoren im Kreml und haben jede politische Selbständigkeit, die sie früher besaßen, vollständig verloren, so daß sie sich sogar nicht dagegen wehren können, daß periodisch jetzt Tausende ihrer eigenen Einwohner gewaltsam nach Rußland verschleppt werden, um in den Zwangslagern Sklavendienste für den russischen Staat zu verrichten. Wenn es wirklich noch eines Beweises bedurft hätte, daß die vorgebliche nationale Unabhängigkeit kleineren Völkern auch nicht den geringsten Schutz gewährt gegen die Machtpolitik aggressiver stärkerer Nachbarn, so hätte der vergangene Weltkrieg den blinden Glauben an eine solche Möglichkeit gründlich zerstören müssen, wenn die Völker nach den furchtbaren Ergebnissen der großen Katastrophe überhaupt noch Imstande gewesen wären, eine Lehre zu beherzigen, die bis heute leider so wenig verstanden wurde.

Auch die Tschechoslowakei, konnte ihrem Schicksal nicht entgehen, obgleich sie von den Umständen mehr begünstigt wurde als alle anderen der neueren Staaten. Nachdem sie von den Großmächten schmählich preisgegeben wurde und Hitler dieselben nationalistischen Bestrebungen, denen der tschechische Staat seine Existenz zu verdanken hatte, nunmehr dazu benutzte, die deutschen, slowakischen und andere Minderheiten desselben Staates gegen Prag aufzuwiegeln, indem er ihnen ihre nationale Befreiung in Aussicht stellte, um sie umso besser für seine eigenen machtpolitischen Pläne mißbrauchen zu können, war das Schicksal der Tschechen besiegelt. Sogar die Niederlage Hitlers konnte ihnen später nicht mehr helfen, da sie nur einen Rollenwechsel herbeiführte und Stalin erlaubte, nur gründlicher fortzusetzen, was Hitler begonnen hatte. Der indische Philosoph Rablndarath Tagore sagte einst: „Die Nation ist eines der wirksamsten Betäubungsmittel, die der Mensch erfunden hat. Unter dem Einfluß seiner Dünste kann ein ganzes Volk systemathisch sein Programm unverhüllter Selbstsucht ausführen, ohne sich im geringsten seiner moralischen Verderbtheit bewußt zu werden.“ – Tagore nannte den Nationalismus eine Lehre des „organisierten“ Egoismus und traf damit den Nagel auf den Kopf; denn unter dem Deckmantel des Nationalismus läßt sich alles verbergen. Die nationale Fahne deckt jedes Unrecht, jede Unmenschlichkeit, jede Lüge und, wenn es sein muß, jedes Verbrechen. Die kollektive Verantwortlichkeit der Nation erstickt jedes Gerechtigkeitsgefühl des Einzelwesens und bringt den Menschen so weit, daß er begangenes Unrecht vollständig übersieht und sogar als patriotische Tugend preist, wenn es im Interesse der Nation begangen wird. Da die Anhänger nationalistischer Anschauungen stets bestrebt sind, nur das zu sehen, was sie von anderen trennt, so vergessen sie zwar nie ein Unrecht, das an ihnen selbst begangen wurde, sind aber stets bereit, dasselbe Unrecht anderen zuzufügen, wenn es ihren eigenen Bestrebungen Vorteil bringt. Es ist diese Engherzigkeit des Denkens, die allen nationalistischen Bestrebungen eigen ist und ihre Anhänger stets dazu verleitet, jede Erscheinung des Weltgeschehens vom Standpunkt ihrer kleinen Interessengemeinschaft zu beurteilen, da sie sich selbst jeden breiteren Ausblick verstellt haben. Diese beschränkte geistige Einstellung macht sie nicht nur völlig unfähig, große Fragen, die für alle Völker die gleiche Bedeutung haben, ohne Vorurteil zu bewerten; sie ist auch die Ursache, weshalb gerade nationale Bewegungen kleinerer Völker so häufig von den Machthabern großer Staaten mißbraucht werden konnten, um ihre eigenen machtpolitischen Interessen durch Vorspieglung falscher Tatsachen zu fördern. Schon Napoleon I. versuchte mit gutem Erfolg die nationalen Bestrebungen unterdrückter Völker seinen eigenen Machtplänen dienstbar zu machen. Die Außenpolitik Lord Palmerstons zur Aufrechterhaltung des „politischen Gleichgewichts“ auf dem Kontinent stützte sich wesentlich auf seine angebliche Sympathie für die Sache der nationalen Minderheiten unter fremdem Joch, was ihn aber durchaus nicht verhinderte, sie schnöde im Stich zu lassen, wenn sie seine Hilfe am nötigsten gebrauchten. Napoleon III., der sich mit Vorliebe als Befürworter der nationalen Einheit Italiens aufspielte, blieb trotzdem ein guter Sachwalter seiner eigenen Interessen und zögerte keinen Augenblick, mit beiden Händen zuzugreifen, um Savoyen und Nizza Frankreich einzuverleiben, als der günstige Moment dazu gekommen war. Hitler folgte nur den Spuren seiner älteren Vorgänger, wenn er den Nationalismus als Köder benutzte, um andere in die Falle zu locken, die dumm genug waren, seinen Beteuerungen zu glauben. Nach seinem Sturz blieb Stalin der lachende Erbe, der heute dasselbe Trugspiel fortsetzt, um blinde Massen auf den Leim zu führen, die ebensowenig etwas gelernt haben wie so viele andere vor ihnen. Das Beschämendste ist, daß dieser Falschspielertrick berechneter Verlogenheit und infamer Heuchelei noch immer zugkräftig ist, um aufgepeitschte Massen zu betören, die da glauben, ihren eigenen Interessen zu dienen und keine Ahnung haben, daß sie nur als Schachfiguren für ein anderes Spiel mißbraucht werden. Wer in der Tat die außenpolitischen Bestrebungen Stalins und der Männer im Kreml lediglich nach den Resolutionen künstlich organisierter Friedenskongresse und den Beteuerungen der internationalen kommunistischen Presse beurteilt, könnte wirklich glauben, daß es den russischen Machthabern um weiter nichts zu tun ist, als die Völker Asiens und Afrikas von den letzten Resten des „westlichen Imperialismus“ zu befreien und ihnen ihre nationale Unabhängigkeit zu sichern. Gegen ein so lobenswertes Unterfangen wäre gewiß nichts einzuwenden, denn die Epoche der Kolonialpolitik war gewiß kein Ruhmesblatt und gehört zweifellos zu den dunkelsten Kapiteln zeitgenössischer Geschichte. Doch nur wenige fragen sich, weshalb Stalin und seine Gefolgsmänner dasselbe Rezept, das sie so freigebig anderen verschreiben, nicht auf Rußland selber anwenden oder, was von dem mächtigen russischen Staate, der über ein Sechstel der ganzen Erdoberfläche einnimmt, noch übrig bliebe, wenn man seine Expansionspolitik mit demselben Maßstab messen würde wie die des westlichen Imperialismus. Das kleine Fürstentum Moskau, das sich im 13. Jahrhundert entwickelte und aus dem später der heutige russische Staat hervorgegangen ist, war ein recht bescheidener Anfang. Allein dieser kleine Staat hat im Laufe von vier Jahrhunderten nicht nur die ganzen baltischen Länder, die Gebiete vom Nördlichen Eismeer bis zum Schwarzen Meer, Polen, das Fürstentum Kiew und die Ukraine und die Regionen des Kaukasus unter seine Botmäßigkeit gebracht; er hat auch nach und nach große Teile von Zentralasien und die ganze ungeheuere Landfläche vom Ural bis zum Stillen Ozean annektiert, obgleich die meisten der unterworfenen Völkerschaften, sowohl ihrer Sprache als ihrer Abstammung nach, mit dem eigentlichen russischen Volke ebensowenig Verwandtschaft hatten wie die Völker Indiens, Burmas, Indochinas, Milanesiens und der ganzen arabischen Welt in Asien und Nordafrika mit England, Frankreich, Italien oder Holland.

Wenn alle Völker, die heute dem russischen Staat zwangsläufig unterworfen sind, die freie Wahl besäßen, sich von der UdSSR zu trennen, so würde wohl von diesem mächtigen politischen Gebilde sehr wenig übrig bleiben. Doch das ist nicht alles: Als nach dem Ausbruch der Russischen Revolution und besonders nach dem Staatsstreich der Bolschewiki im November 1917 unter den von Rußland unterworfenen Völkerschaften sich starke Unabhängigkeitsbestrebungen bemerkbar machten, war die damals noch schwache Regierung Lenins gezwungen, die nationale Unabhängigkeit verschiedener dieser Völker anzuerkennen und feierlich zu bestätigen. So lesen wir in dem am 2. Februar 1920 abgeschlossenen Vertrag von Tartu zwischen Estland und der Sowjetunion: „Nach dem Grundsatz, daß jedes Volk das Recht besitzt, über sein eigenes Schicksal zu bestimmen und sogar sich vollständig von dem Staate zu trennen, dem es bisher verpflichtet war, erklärt die Föderalistische Sozialistische Sowjet-Republik, daß Rußland, ohne Vorbehalt die Unabhängigkeit und Autonomie des Staates Estland anerkennt und freiwillig und für immer alle seine früheren Rechte der Souveränität über das estische Volk und Territorium aufgibt; und daß alle solche Rechte, die auf Grund einer gewesenen legalen Situation und auf Grund internationaler Verträge in Kraft waren, von heute ab keine Gültigkeit mehr besitzen.“ Auch die Verträge mit Lettland im November 1917 und mit Litauen 1918 waren fast im selben Wortlaut abgefaßt. Heute wissen wir, daß alle diese Verträge nicht das Papier wert waren, auf dem sie feierlich beschworen wurden. Estland, Lettland und Litauen sind heute unter sowjetischer Herrschaft mehr versklavt, als sie es je unter dem Zarismus gewesen sind. Die Sozialistische Kaukasische Republik wurde bald im Anfang mit Waffengewalt unterdrückt; Finnland lebt heute im Schatten russischer Bajonette; die größere Hälfte Polens wurde Rußland wieder einverleibt und die kleinere Hälfte wird wie eine russische Provinz regiert, wie alle Satellitenstaaten im Osten Europas. Alle Verträge, die in dieser Hinsicht von der Sowjet-Union geschlossen würden, wurden der Reihe nach von Stalin gebrochen. Rußland hat nicht nur nach dem zweiten Weltkriege einen beträchtlichen Gebietszuwachs erhalten und ist heute größer als es unter dem Zarismus je gewesen ist; es hat auch einen mächtigen Vorstoß nach Westen gemacht, wie er keinem russischen Zaren gelungen ist, nicht zu reden von dem gewaltigen Einfluß, den es sich in Asien errungen hatte. Man sollte denken, daß ein Land, das sich im Laufe seiner Geschichte auf die Kosten, fremder Völker zum größten Staatswesen der Welt entwickeln konnte, am allerletzten dazu berufen wäre, sich zum Anwalt für die nationale Befreiung unterdrückter Nationen aufzuspielen. Doch die Männer im Kreml wissen ganz genau, was sie der heutigen chaotischen Welt bieten dürfen, und ihre unermüdliche Propagandamaschine findet stets neue Schlagworte, um unwissende Massen zu benebeln und ihnen ihre wahren Absichten zu verschleiern. Der ganze Taumel, der heute die islamitische Welt von Iran bis Marokko erfaßt hat, ist ein schlagendes Beispiel, wie solche Vorkommnisse durch fremde Einflüsterungen künstlich erzeugt werden können. Wenn es sich in diesem Falle wirklich um einen Aufstand unterdrückter Völker handeln würde, die von einer günstigen Gelegenheit Gebrauch machen, wenn schon nicht, um ihre soziale Befreiung zu erkämpfen – dazu gehören ganz andere geistige Voraussetzungen, die bis jetzt in der islamitischen Welt nicht zu finden sind – so doch wenigstens, um eine bessere Lebenslage für sich selbst zu gewinnen, so könnte man ihnen nur Glück dazu wünschen. Dach davon ist leider nicht die Rede. Der ganze arabische Nationalismus war von Anfang an ein künstliches Gebilde, dessen Entstehung viel mehr der auswärtigen Politik rivalisierender europäischer Großmächte zu verdanken ist als den eigentlichen Bestrebungen der zahlreichen arabischen Völkerschaften. Den Beduinenstämmen, die in manchen arabischen Staaten einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung bilden, war der Begriff des Nationalismus schon deshalb fremd, weil sie als Nomaden überhaupt keine festen Wohnstätten besitzen. Die meisten arabischen Völker waren vor dem ersten Weltkriege dem türkischen Staat unterworfen. Als die Türkei aber beim Ausbruch des Krieges sich auf die Seite Deutschlands und Österreichs stellte, trat im Oktober 1915 Sir Henry Macmahon im Auftrag der britischen Regierung mit dem Emir Hussein, dem Sharif von Mekka, in Verbindung und erklärte ihm, daß seine Regierung bereit sei, sich für die nationale Unabhängigkeit aller arabischen Völker von der Roten See bis zum Mittelländischen Meer; d.h. für Arabien, Syrien und Mesopotamien, mit der Ausnahme einiger kleineren Landesteile, einzusetzen. Dies war der eigentliche Anfang der panarabischen Bewegung und der Arabischen Liga. Bei all diesen Vorgängen wurden die Völker selbst nicht zu Rat gezogen, deren große Mehrheit überhaupt kein Verständnis für die inneren Zusammenhänge des Spieles hatte, in dem ihnen lediglich die Rolle stummer Mitspieler zugedacht war wie den Statisten auf einer Theaterbühne. Es waren Verhandlungen zwischen einer europäischen Großmacht und einer handvoll kleiner orientalischer Potentaten, die ihre Völkerschaften gewiß nicht besser behandelten als irgendein Fremdherrscher.

Man darf überhaupt nie vergessen, daß der gesamte arabische Nationalismus seine ganze Existenz nur einer kleinen intellektuellen Schichte zu verdanken hatte und von den kleinen arabischen Machthabern unterstützt wurde, weil sie glaubten, ihre dynastischen Interessen damit fördern zu können, wobei die größeren von ihnen stets von dem Wunsch besessen waren, die neue Idee von der Arabischen Bruderschaft früher oder später dazu benutzen zu können, um die Hegemonie über die arabische Welt zu erringen. Die Völker spielten dabei überhaupt keine Rolle. Tatsache ist, daß in allen neueren arabischen Staaten, trotz ihrer angeblichen Unabhängigkeit, sich die geistige und materielle Lage der breiten Massen des Volkes in keiner Weise geändert hat.

Nach dem ersten Weltkriege aber wurden von den englischen Versprechungen nur wenige eingehalten. Bei den Friedensverhandlungen wurde Großbritannien mit dem Mandat über Irak, Palästina und Transjordanien betraut, während das Mandat über Syrien Frankreich zufiel. Die Folge war, daß die sogenannte panarabische Bewegung, die zuerst ausgesprochen pro-britisch war, nunmehr immer offensichtlicher ins anti-britische und anti-französische Lager umschwenkte. Das zeigte sich besonders deutlich, als Mussolini in seiner bekannten Rede sich als Protektor der islamitischen Welt vorstellte und durch Rundfunkpropaganda aus Rom die Araber für seine Interessen zu ködern versuchte. Er hatte auch Erfolg, denn die kleinen arabischen Machthaber liebäugelten damals mit dem faschistischen Italien, wie sie heute mit Stalin liebäugeln. Es ist dies eine der schwächsten und gefährlichsten Seiten jedes Nationalismus, welchen Namen er immer tragen mag. In ihrer blinden Verbohrtheit, die stets an die engsten Interessen einer bestimmten Menschengruppe gebunden ist, sind seine Träger stets bereit, sich irgendeinem politischen Abenteurer in die Arme zu werfen, der ihnen durch verlogene Versprechungen falsche Hoffnungen vorgaukelt, ohne sich im geringsten darum zu kümmern, daß sie damit häufig die brutalste Reaktion fördern helfen, die nicht nur der ganzen Menschheit, sondern auch ihren eigenen Bestrebungen zum Verderben ausschlagen muß. Das zeigte sich gerade in diesem Falle mit unverhüllter Deutlichkeit. War die Stellung der arabischen Kleinherrscher der Sache der Alliierten im zweiten Weltkriege durchaus nicht günstig, so verwandelte sie sich später nach der Gründung des Jüdischen Staates in Palästina in unversöhnliche Feindschaft, die sich heute immer mehr zu einem ungezügelten, fanatischen Haß gegen alle Fremden auswächst. Das ist aber gerade, was wir in der heutigen gefährlichen Lage am wenigsten brauchen können, denn blinder Fanatismus unterbindet nicht nur jede Möglichkeit einer gegenseitigen Verständigung, er kann bei den heutigen Zuständen auch sehr leicht eine neue Katastrophe heraufbeschwören, deren Tragweite gar nicht zu ermessen ist. In der Tat ist heute im Nahen Orient ein Zustand entstanden wie früher im Balkan, der jahrzehntelang ein offenes Pulverfaß gewesen ist, das jeden Augenblick durch innere und äußere politische Intrigen explodieren konnte, was endlich auch wirklich geschehen ist.

Wir sind heute an einer Grenzscheide unserer Geschichte angelangt, wo uns engstirniger Nationalismus nicht mehr weiter helfen kann, weil er vollständig unfähig ist, der heutigen Situation zu begegnen. Er kann nur durch seine fanatische Verblendung der Machtpolitik neues Wasser auf die Mühlen liefern und das alte Spiel fortsetzen, in dem es nur betrogene Betrüger und geprellte Völker gibt.

 


Zuletzt aktualisiert am 16.10.2004