MIA > Deutsch > Referenz > Rocker
Aus: Der Syndikalist, Nr.41, 1924.
Heruntergeladen mit Dank von der webseite anarchie.at.
Originaltext von der Webseite der FAU-Bremen.
Heruntergeladen mit Dank von der Webseite www.anarchismus.at.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Der revolutionäre Syndikalismus ist eine Klassenbewegung und steht als solche auf dem Boden des revolutionären Klassenkampfes und der direkten Aktion. Seine Aufgabe ist eine doppelte: Er ist einerseits bestrebt, die Lage der Arbeiter innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung so günstig wie möglich zu gestalten und durch die Anwendung revolutionärer Kampfmittel wie Streiks, Boykott, Sabotage usw. die Arbeit gegen die Anschläge der Ausbeuter und des Staates zu schützen. Andererseits betrachtet er es als seine vornehmste Aufgabe, eine neue soziale Ordnung der Dinge anzubahnen und praktisch in die Wege zu leiten, in welche die Verwaltung des gesamten wirtschaftlichen und sozialen Lebens in den Händen des werktätigen Volkes selbst ruhen wird. Es ist diese Aufgabe, welche dem revolutionären Syndikalismus sein besonderes Gepräge und seine geschichtliche Bedeutung für die Zukunft gibt. Denn nur in der vom revolutionären Geiste erfüllten Wirtschaftsorganisation der Arbeiter kann sich die Reorganisation der Gesellschaft vorbereiten und im gegebenen Moment feste Gestalt annehmen. Sie ist Interessengemeinschaft und Ideengemeinschaft in derselben Zeit und verwirft prinzipiell jeden Dualismus in der Arbeiterbewegung, welcher die geistigen Bestrebungen der Arbeiter und die Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen in besondere organisatorische Formen zu kleiden bestrebt ist.
Was die Kämpfe des Alltags anbelangt, die sich fortgesetzt zwischen Kapital und Arbeit abspielen, so ist es klar, dass dieselben nur von den Wirtschaftsorganisationen des Proletariats und nicht von politischen Parteien geführt werden können. Die soziale Bedeutung dieser Kämpfe, welche durch das kapitalistische Wirtschaftssystem bedingt sind, darf man durchaus nicht unterschätzen, wie dies seitens der parteipolitisch eingestellten Arbeiterschaft häufig geschieht. Es ist eine ganz irrige Auffassung, wenn man behauptet, dass die sogenannten Lohnkämpfe im Grunde genommen ihren Zweck nicht erfüllen, indem man den Anbietern durch Erhöhung der Preise usw. stets das wieder aus der Tasche nehme, was sie als Produzenten dem Unternehmertum abringen.
Wenn es auch wahr ist, dass der moderne Proletarier als Lohnarbeiter niemals genug erwerben kann, um aus seiner sozialen Stellung herauszukommen, so ist es aber nicht minder wahr, dass die Durchschnittskurve der proletarischen Lebenshaltung sehr verschieden sein kann. Es besteht ein großer Unterschied zwischen der allgemeinen Lebenslage des Proletariats aus der Frühzeit des Kapitalismus und der Lebenslage des Arbeiters von heute. Der Arbeiter jener Zeiten war vierzehn und sechzehn Stunden täglich in der Fron und verdiente kaum das Notwendigste, um sein kärgliches Dasein fristen zu können; während der Arbeiter unserer Tage ganz andere Bedürfnisse hat, die man früher gar nicht kannte, und auch folglich ganz andere Anforderungen an das Leben stellt. Und nur seinen wirtschaftlichen Organisationen hat er es zu verdanken, wenn er seine allgemeine Lebenslage unter fortgesetzten Kämpfen auf ein höheres Niveau emporheben konnte. Jede gewonnene Position musste und muß in diesem Kampfe ununterbrochen verteidigt werden gegen die versteckten und offenen Angriffe des Unternehmertums, das stets bestrebt ist, das Lebensniveau des Proletariats auf die tiefste Stufe herabzudrücken. Ein lebendiges Beispiel dafür bietet die gegenwärtige verzweifelte Lebenslage der deutschen Arbeiterschaft, die tief unter den Bedingungen der Vorkriegszeit steht. Während das industrielle und das agrarische Unternehmertum von keinerlei Skrupel beeinflusst, jede Gelegenheit ausnutzt, um während und nach dem Kriege ungeheuerliche Profite auf die Kosten der Allgemeinheit des deutschen Volkes zu erzielen, verführte sozialdemokratische Ideologie die deutsche Arbeiterschaft zu dem törichten Wahn, dass man angesichts der durch den verlorenen Krieg geschaffenen kritischen Lage jede Verbesserung der proletarischen Lebenshaltung möglichst vermeiden müsse, um die wirtschaftliche Gesundung des Landes nicht zu gefährden. Die Folge war, dass man fast kampflos jede Position dem Unternehmertum gegenüber preisgab und den deutschen Arbeiter zum gewöhnlichen Kuli degradierte.
Aber die fortgesetzten Kämpfe für die Eroberung des täglichen Brotes und die Verbesserung der allgemeinen Lebenslage haben auch noch eine andere Bedeutung, welche ihnen einen hohen ethischen Wert verleihen. Sie sind die beste Erziehungsschule für die Arbeiter, für die praktische Anwendung und Vertiefung ihrer sozialen Empfindungen und ihrer persönlichen Initiative im Rahmen der gegenseitigen Hilfe und des solidarischen Zusammenwirkens. So wird die Gewerkschaft Erziehungsstätte für die stete Entwicklung der geistigen und sittlichen Fähigkeiten des Proletariats und Betätigungsfeld für die Entfaltung seiner besten sozialen und individuellen Eigenschaften. Die wirtschaftliche Kampforganisation wird ihm auf diese Weise zum Hebel in seinem fortgesetzten Kampfe gegen die Mächte der Ausbeutung und Unterdrückung und in derselben Zeit zur Brücke, auf welcher die Arbeiter aus der Hölle des kapitalistischen Staatssystems in das Reich des Sozialismus und der Freiheit gelangen werden.
Denn auch für die Reorganisation der Gesellschaft im Sinne des Sozialismus ist die wirtschaftliche Kampforganisation die einzig gegebene Basis, während die Partei sich gerade auf diesem Gebiete als völlig bedeutungslos und unfähig erweisen muß. Die gewaltigen Ereignisse, die sich im Laufe der letzten fünf Jahre in Russland und Mitteleuropa abgespielt haben, legen beredtes Zeugnis dafür ab, dass politische Parteien, beherrscht von den alten Überlieferungen der bürgerlichen Revolutionen, zwar imstande sind, die staatliche Macht zu erobern, dass ihnen aber zu einer wirtschaftlichen und sozialen Reorganisation des gesellschaftlichen Organismus nicht weniger als alles fehlt. Soziale Bewegungen und Neuschöpfungen der Gesellschaft werden eben nicht gemacht durch Staatsdekrete und gesetzliche Verordnungen von oben; sie entwickeln sich vielleicht aus dem Schoße der Massen, aus der freien Auswirkung aller schöpferischen Kräfte im Volke, welche durch die auf Schablonenarbeit und totes Mechanisieren eingestellte Routine einer Regierung, wie revolutionär sie sich immer gebärden möge, in ihrer natürlichen Entfaltung gehemmt und allmählich ganz erstickt werden.
Gerade Russland hat in dieser Hinsicht ein mahnendes Beispiel gegeben, dessen unheilvolle Konsequenzen für die gesamte internationale Arbeiterschaft in ihren Einzelheiten heute noch gar nicht zu übersehen sind. Indem dort die sogenannte Diktatur einer bestimmten Partei alle natürlichen Organe des gesellschaftlichen Wiederaufbaus entweder gewaltsam zerstört hat, wie dies mit dem großen Netz der Genossenschaften der Fall war, oder andere, wie die Gewerkschaften und die Sowjets, in einfache Institutionen des neuen Staates umgestaltete, hat sie ein derselben Zeit alle Vorbedingungen zur Verwirklichung des Sozialismus künstlich unterbunden und ist heute mehr und mehr gezwungen, sich auf den Weg der kapitalistischen Wirtschaftsweise zurückzugehen. Die Diktatur war zwar imstande, ein politisches Unterdrückungssystem zu entwickeln, welches den Despotismus des zaristischen Regimes weit in den Schatten stellte, aber sie erwies sich vollständig unbrauchbar und versagte völlig, als es sich um eine schöpferische Umgestaltung der Wirtschaft handelte.
Gegen die Politik des Staates und der Parteien setzt der revolutionäre Syndikalismus die Wirtschaftspolitik der organisierten Arbeit gegen die zersetzende Tätigkeit der Berufspolitiker die konstruktive Verwaltungstätigkeit der wirtschaftlichen Organisationen. In diesem Sinne gilt es schon heute die ganze sozialistische Erziehung der Massen einzustellen. Es kann sich nicht darum handeln, den Arbeitern die Mittel und Wege beizubringen, die man als zweckdienlich und notwendig erachtet, eine gewisse politische Partei in den Besitz der Staatsgewalt zu setzen, sondern darum, sie zu lehren, wie man die Betreibe verwaltet, die Produktion nach neuen Gesichtspunkten reorganisiert und die bestehenden Gegensätze zwischen Industrie und Landwirtschaft aus dem Wege räumt. Mit einem Wort: Nicht um die Eroberung der Betriebe und des Grund und Bodens.
Die revolutionären Syndikalisten sind der Meinung, dass jede neue Wirtschaftsform auch eine neue Form der politischen Organisation nach sich zieht, ja, dass sie sich nur innerhalb dieser neuen politischen Form des gesellschaftlichen Lebens durchsetzen und entwickeln kann. So fand das Gildensystem des Mittelalters seinen politischen Ausdruck in der Freien Stadt, der Feudalismus und das System der Hörigkeit im absoluten Königtum, die Wirtschaftsform des Kapitalismus im modernen Vertretungsstaat. Es ist daher klar, dass auch die sozialistische Wirtschaftsordnung ihre besondere politische Organisationsform auswirken und entwickeln muß, wenn sie nicht von Anfang an zur Unfruchtbarkeit verdammt sein will. Aber diese neue Form der politischen Organisation der Zukunft kann weder der Vergangenheit entlehnt, noch der Gegenwart willkürlich nachgeahmt werden. Sie muß vielmehr das unmittelbare Ergebnis der Neueinteilung des gesamten Wirtschaftslebens sein und in diesem ihre natürliche Begründung und Stütze finden. Zusammen mit dem System der wirtschaftlichen Monopole und der Ausbeutung der Massen muß auch das System der politischen Bevormundung und Beherrschung verschwinden, das durch jenes bedingt ist, oder – um mit Saint-Simon zu sprechen – die Kunst, Menschen zu regieren, muß durch die Kunst, Dinge zu verwalten, ersetzt werden.
Zuletzt aktualisiert am 17.10.2004