Rudolf Rocker

 

Das Prinzip des Föderalismus im Gegensatz zum Zentralismus

„Resolution zum Punkt 4 des 14. Kongresses“

(November 1922)


Rede beim 14. Kongress der FAUD, gehalten in Erfurt 19.-22. November 1922.
Aus: Der Syndikalist, 4. Jg. (1922), Nr.44.
Überarbeitet nach der Webseite der FAU-Bremen.
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Ausgehend von der Erkenntnis, dass der Sozialismus dem Volke nicht von oben her durch irgend eine politische Zwangseinrichtung künstlich aufgezwungen werden kann, sondern sich vielmehr organisch aus den schöpferischen Instinkten und Bestregungen der Allgemeinheit entwickeln muß, vertritt der Kongreß den Standpunkt, dass die sozialistische Arbeiterbewegung organisatorisch schon heute derart gestaltet sein muß, dass sie den Geist der Selbständigkeit und des sozialen Zusammenwirkens im Sinne dieser Bestrebungen in jeder Weise vorantreibt und fördert.

Aus diesem Grunde ist die dem Staate und der Kirche abgelauschte und geistlos nachgeahmte Form des Zentralismus grundsätzlich zu verwerfen, da dieser im Grunde genommen Bestrebungen verfolgt, welche dem eigentlichen Ziele der Arbeiterbewegung – der Befreiung des Menschen vom Fluche der kapitalistischen Leibeigenschaft und der staatlichen Bevormundung – direkt zuwiderlaufen und notwendigerweise die unentbehrlichen Grundlagen für stets neue Formen der Ausbeutung und der politischen Unterdrückung schaffen hilft. Indem der Zentralismus die Wahrnehmung der allgemeinen Interessen einigen wenigen in Bausch und Bogen überträgt, führt er letzten Endes zur Erdrosselung jeder selbständigen Initiative und jedes persönlichen Verantwortlichkeitsgefühls, deren Ausschaltung in der toten Mechanisierung jeder zentralistische organisierten Bewegung ihren unvermeidlichen Ausdruck findet.

Der Kongreß gibt der Meinung Ausdruck, dass die einzig wirksame und zweckmäßige Form einer sozialen Bewegung, die auf die Reorganisation des gesamten gesellschaftlichen Lebens im Sinne des freiheitlichen Sozialismus abzielt, nur im Föderalismus, d.h. in einer organischen Zusammenfassung selbständiger gesellschaftlicher Körperschaften zur Erreichung eines gemeinschaftlichen Zieles auf der Basis freier Vereinbarungen, gefunden werden kann.

Aus diesem Grunde bedeutet Föderalismus nicht Zersplitterung der Kräfte, sondern planmäßiges und natürliches Zusammenlaufen aller aktiven Bestrebungen, die sich von der gesellschaftlichen Peripherie aus nach gemeinschaftlichen Mittelpunkten bewegen, in denen sich die Gemeinschaftlichkeit der Interessen und der Überzeugungen kristallisiert; im Gegensatz zum Zentralismus, der von einem künstlich geschaffenen Mittelpunkte aus den lokalen und territorialen Gruppierungen dieselben gleich abgestimmten Betätigungsformen aufzwingt und durch diese willkürliche Schablonisierung der Kräfte jede besondere Initiative lähmt und in ihrer natürlichen Entfaltung verhindert.

Föderalismus ist das gemeinschaftliche Zusammenwirken selbständiger Kräfte, welche durch gemeinsame Interessen und Überzeugungen verbunden sind, wie die einzelnen Glieder eines Körpers, die jedes durch seine besondere Funktion zur Betätigung des allgemeinen Lebensprozesses beitragen, ja diesen bedingen und aufrechterhalten.

Ebenso wie der Föderalismus jede Form der zentralistischen Mechanisierung von oben nach unten prinzipiell verwirft, weil dieselbe im Namen eines angeblichen Gesamtwohls jede selbständige Regung und Betätigung des einzelnen systematisch ausschaltet, so verwirft er auch alle partikularistischen Bestrebungen, die im Namen einer eingebildeten „Selbständigkeit“ einzelner Glieder die Interessen des Ganzen willkürlich preisgeben und so bewusst oder unbewusst auf die innere Zersetzung des Gesamtorganismus hinarbeiten. Wie der Zentralismus in der Arbeiterbewegung nur eine sklavische Nachahmung staatlicher Mechanisierung ist, so ist der Partikularismus nur eine Karikatur des Föderalismus, der mit diesem nichts gemein hat.

Der Kongreß ist daher der Meinung, dass Zentralismus und Partikularismus für eine gedeihliche Entwicklung der Arbeiterbewegung gleich schädlich und hinderlich sind und erblickt im Föderalismus die einzige Organisationsform, in welcher der individuelle Betätigungstrieb und das Gefühl der gesellschaftlichen Zusammengehörigkeit sich harmonisch zusammenfinden und gegenseitig ergänzen.

Rudolf Rocker

 


Zuletzt aktualisiert am 17.10.2004