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Aus: Der Syndikalist vom 15.02.1919.
Überarbeitet nach der Webseite der FAU-Bremen. [1]
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... Die Syndikalisten sind der Meinung, daß der Sozialismus, abgesehen von seiner Bedeutung als allgemeiner Kulturfaktor, in erster Linie eine wirtschaftliche Frage ist. Aus diesem Grunde sehen sie in der wirtschaftlichen Organisation der Arbeiterklasse das wichtigste Instrument zur sozialen Befreiung. Für den Syndikalismus ist die Gewerkschaft nicht eine einfache Körperschaft zur Verteidigung lokaler Fachinteressen, sondern eine von sozialistischem Geiste getragene revolutionäre Klassenorganisation, die durch die Ausübung einer praktischen und natürlichen Solidarität jedem wirtschaftlichen Kampfe einen sozialen Charakter zu geben sucht. Der Syndikalismus ist sich vollständig klar über die gewaltige Bedeutung der ökonomischen Verhältnisse in der geschichtlichen Entwicklung, aber lehnt es ab, in den Menschen lediglich willenlose Organe des jeweiligen Produktionsprozesses zu sehen und auf diese Art die ökonomische Entwicklung zur Grundlage eines pseudowissenschaftlichen Fatalismus zu machen, der ebenso lähmend auf das Handeln der Menschen einwirken muß, wie jeder religiöse Fatalismus. Aus diesem Grunde teilt der Syndikalismus auch nicht den unbegründeten Glauben, daß der Kapitalismus notwendigerweise zum Sozialismus führen muß, er geht vielmehr von dem Grundsatz aus, daß die Verwirklichung des Sozialismus in erster Linie von dem bewußten Willen und der revolutionären Tatkraft der Arbeitermassen abhängig ist. Der Syndikalismus ist auch weit davon entfernt, in der Teilung der Arbeit und der Zentralisation der Industrie die geschichtliche notwendige Vorbedingung zur Verwirklichung des Sozialismus zu erblicken, vielmehr sieht er in diesen Erscheinungen lediglich Vorbedingungen des kapitalistischen Ausbeutungssystems, die gerade im Interesse des Sozialismus mit aller Energie bekämpft werden müssen.
Indem der Syndikalismus im revolutionären Wollen der Menschen einen notwendigen und ausschlaggebenden Faktor jeder Entwicklung zum Sozialismus erblickt, versucht er mit allen Möglichkeiten, die Arbeiter zur revolutionären Tätigkeit zu erziehen und ihren täglichen Kämpfen und Handlungen den Willen zum Sozialismus (Hervorhebung im Original – Anm. d. Tippers) aufzuprägen. Gerade aus diesem Grunde verwirft er die Organisation der Arbeiter zur politischen Partei und sieht in der sozialistischen Gewerkschaft den geeignetsten Sammelpunkt zur Entfaltung des revolutionären Massenkampfes. Für den Syndikalist ist die Gewerkschaft nicht eine Art Provisorium, das nur innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft seine Existenzberechtigung findet, sie ist ihm vielmehr die notwendige Grundlage zum Werdegang der sozialistischen Gesellschaft, die Zelle, aus der sich Sozialismus entwickeln soll.
Der Syndikalismus teilt nicht den alten Aberglauben in die Macht der Staatsdekrete, den der Marxismus als Erbschaft von der bürgerlichen Demokratie und Revolution übernommen hat. Die Sozialisierung läßt sich nur durchführen durch die Arbeiter der verschiedenen Produktionszweige, so daß jeder einzelne Zweig die Organisation und Verwaltung seines Betriebes übernimmt. Sogar der beste und weiseste „sozialistische Übergangsstaat“ wäre unmöglich imstande, auch nur annähernd die intimen Fachkenntnisse zu entwickeln, über die die Arbeiter der einzelnen Betriebe verfügen und die unumgänglich nötig sind, um das große Werk der sozialistischen Umbildung erfolgreich zu gestalten. Eine solche Art der Sozialisierung durch die direkte, revolutionäre Aktion der bewaffneten Massen in jeder Stadt, in jedem Dorf würde ohne Zweifel viel eher imstande sein, jeden Gegendruck der kapitalistischen Reaktion niederzuhalten, wie die Unterdrückung der feindlichen Presse und anderer Maßregeln einer sozialistischen Regierung, die nur allzu leicht sich in ein Werkzeug einer bestimmten machthungrigen Clique verwandeln könnte. Indem die revolutionären Gewerkschaften das Werk der Sozialisierung sofort praktisch in Angriff nehmen würden, wäre dem Kapitalismus so wie so der Giftzahn ausgebrochen, denn seine ganze Widerstandskraft ist doch lediglich das Resultat seiner ökonomischen Macht.
Daß die Syndikalisten sich damit begnügen würden, den Arbeitern einfach die Produktionsmittel, den Grund und Boden zu übergeben und damit ihre Aufgabe als erledigt ansehen würden, ist eine so tolle Behauptung, daß man nur darüber lächeln kann. Die Syndikalisten wollen ebenfalls die Produktionsmittel usw. in den Dienst der Allgemeinheit stellen, aber das ist nur möglich, wenn die Produktionsgruppen in den einzelnen Kommunen die Verwaltung und Verantwortlichkeit für die Maschinen, Werkzeuge usw. an Ort und Stelle übernehmen. Und da die Menschen einer sozialistischen Gesellschaft durch dieselben gemeinschaftlichen Interessen und sozialen Bedürfnisse vereinigt sind, so ist jede einseitige Betonung lokaler Sonderinteressen zum Schaden der Allgemeinheit schlechterdings ausgeschlossen, da jede Produktionsgruppe und Kommune mit allen übrigen föderativ verbunden ist. Ein tolles Draufloswirtschaften der einzelnen Genossenschaften „gleichgültig auf die vorhandenen Rohstoffe“ etc., wie der Kommunist (Organ der KPD-Bremen – Anm. d. Tippers) befürchtet, wäre vielleicht in einer Gesellschaft von Irrsinnigen möglich, nie und nimmer aber in einer föderativen Gemeinschaft vernünftiger Menschen, die durch dieselben sozialen Interessen verbunden sind.
Daß aber auch die Syndikalisten vollständig begreifen, daß die gesamte Produktion vorerst auf Bedarfswirtschaft eingestellt werden muß und deshalb die schulmeisterliche Belehrung des Kommunist durchaus entbehren können, dafür folgendes Beispiel: Als vor ungefähr zwölf Jahren die Voix du Peuple, das offizielle Organ der französischen Arbeiterföderation an jedes einzelne Syndikat die Frage stellte, wie sich seine Mitglieder die sozialistische Reorganisation ihres Berufs nach einer siegreichen Revolution vorstellten, da waren es die Luxusarbeiter, die sofort erklärten, daß sie in diesem Falle anderen Berufen beitreten würden, da die Produktion in der ersten Zeit nur auf die Bedarfswirtschaft eingestellt werden müsse.
Aber die sonderbare Furcht unserer Marxisten den syndikalistischen Produktionsgruppen der Zukunft gegenüber, läßt sich einfach erklären durch ihre prinzipielle Abneigung gegen jeden Föderalismus. Wie jede große wirkliche Volksbewegung ist auch der Syndikalismus seinem Wesen nach föderalistisch, weil der Föderalismus eben die einzige Organisationsform ist, die den Individuellen und kollektiven Entwicklungsfähigkeiten Spielraum gibt, und so das gesellschaftliche Leben vor innerer Erstarrung und geistiger Stagnation behütet. Der Marxismus aber, der in seinem ganzen Wesen nur die bis auf die Spitze getriebene Zentralisationsidee des modernen Staates verkörpert, muß logischerweise dem Föderalismus feindlich gegenüberstehen, da ihm jeder wahrhaft freiheitliche Sinn abgeht. Die öde Beamtenhierarchie, die er überall in seinen politischen und gewerkschaftlichen Organisationen entwickelt hat, ist das unvermeidliche Produkt seiner zentralistischen und freiheitsfeindlichen Dogmatik.
Hie Sozialismus! – Hie Staatskapitalismus!
Hie Föderalismus! – Hie Zentralismus!
Das sind die Devisen, unter denen sich die nächsten Kämpfe der Zukunft abspielen werden.
1. Zum Thema Syndikalismus: Diesmal von Rudolf Rocker, einem der Mitbegründer der anarcho-syndikalistischen Theorie. Rocker (1873-1958) war Sekretär der Geschäftskommission der FAUD und somit Mitherausgeber und Dauerpublizist des FAUD-Organs Der Syndikalist und zudem Mitbegründer der 1922 wiederbelebten „Internationalen Arbeiter Association“ (IAA). Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Leitartikel Wir und die „Marxisten“, erschienen im Syndikalist vom 15.02.1919.
Zuletzt aktualisiert am 16.10.2004