Rudolf Rocker

 

Sozialdemokratie und Anarchismus

(1918)


Überarbeiteter Auszug aus einer Reihe in der Zeitschrift Arbeiter Freund, London 1899/1900. [1]
Verlag: Der freie Arbeiter, Berlin O. Bödikerstr.
Heruntergeladen mit Dank von der Webseite www.anarchismus.at.
Originaltext auf der Webseite der FAU-Bremen.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Der Unterschied zwischen Sozialdemokratie und Anarchismus ist nicht nur in der Verschiedenheit ihrer taktischen Methoden begründet, sondern muß in erster Linie auf prinzipielle Gegensätze zurückgeführt werden. Es handelt sich hier um zwei verschiedene Auffassungen über die Stellung des Menschen in der Gesellschaft, um zwei verschiedene Auffassungen des Sozialismus. Aus diesem Unterschiede in den theoretischen Voraussetzungen ergibt sich von selbst die Verschiedenartigkeit in der Wahl der taktischen Mittel.

Die Sozialdemokratie, hauptsächlich in den germanischen Ländern und Rußland, nennt sich mit Vorliebe die Partei des „Wissenschaftlichen Sozialismus“ und bekennt sich zur marxistischen Lehre, die ihrem Programm als theoretische Unterlage dient. Ihre Vertreter gehen von dem Standpunkt aus, daß der Werdegang der gesellschaftlichen Entwicklung als eine unendliche Reihe geschichtlicher Notwendigkeiten betrachtet werden muß, deren Ursachen in den jeweiligen Produktionsverhältnissen zu suchen sind. In den fortwährenden Kämpfen der durch verschiedene ökonomische Interessen in feindliche Lager gespaltene Klassen finden diese Notwendigkeiten ihren praktischen Ausdruck. Die ökonomischen Verhältnisse, d.h. die Art und Weise wie die Menschen produzieren und ihre Produkte zum Austausch bringen, bilden die eherne Grundlage aller anderen gesellschaftlichen Erscheinungsformen oder um mit Marx zu reden: „Die ökonomische Struktur der Gesellschaft ist die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen.“ – Religiöse Vorstellungen, Ideen, Moralanschauungen, Rechtsbegriffe, menschliche Willensäußerungen usw. sind lediglich Resultate der jeweiligen Produktionsbedingungen, denn es ist „die Produktionsweise des materiellen Lebens, die den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt bedingt.“ Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das die Verhältnisse, unter denen sie leben, formt, sondern umgekehrt, es sind die ökonomischen Verhältnisse, die ihr Bewußtsein bestimmt.

Somit ist der Sozialismus nicht eine Erfindung geistreicher Köpfe, sondern das logische und unvermeidliche Produkt der kapitalistischen Entwicklung. Der Kapitalismus mußte zuerst die Produktionsbedingungen schaffen – die Arbeitsteilung und die Zentralisation der Industrie – unter denen der Sozialismus verwirklicht werden kann. Seine Verwirklichung ist nicht abhängig von dem Willen der Menschen, sondern lediglich von einem bestimmten Entwicklungsgrad der Produktionsverhältnisse. Der Kapitalismus ist die notwendige und unvermeidliche Vorbedingung, die zum Sozialismus führen muß; seine revolutionäre Bedeutung besteht gerade darin, daß er von Anfang an den Keim seines eigenen Untergangs in sich trägt. Die moderne Bourgeoisie, die Trägerin des kapitalistischen Systems, mußte das moderne Proletariat ins Leben rufen, um ihre Herrschaft zu begründen und schuf damit ihren eigenen Totengräber. Denn die Entwicklung des Kapitalismus vollzieht sich mit naturgesetzlicher Notwendigkeit in ganz bestimmten Bahnen, aus denen kein Entrinnen möglich ist. Es liegt eben im Wesen dieser Entwicklung, die kleinen und mittleren industrielle Unternehmungen aufzusaugen und an deren Stelle immer größere Betriebe zu erzeugen, so daß die sozialen Reichtümer sich in immer wenigeren Händen konzentrieren. Hand in Hand mit diesem Prozeß schreitet die Proletarisierung der Gesellschaft unaufhaltsam vorwärts, bis zuletzt ein Moment eintreten muß, wo eine ungeheure Mehrheit besitzloser Lohnsklaven einer verschwindend kleinen Minderheit kapitalistischer Unternehmer gegenübersteht. Und da der Kapitalismus bis dahin schon längst zu einem Hindernis der Produktion geworden ist, so muß notwendigerweise eine Periode sozialer Umwälzungen eintreten, in der „die Expropriation der Expropriateure“ vollzogen werden kann.

Damit das Proletariat imstande sei, die Übernahme des Grund und Bodens und der Produktionsmittel durchzuführen, muß es sich früher in den Besitz der Staatsgewalt setzen, die nach einer gewissen Übergangsperiode, d.h. nach der vollständigen Abschaffung der Klassen nach und nach absterben wird. Die Eroberung der Macht ist daher die vornehmste Aufgabe der Arbeiterklasse, und die Lösung dieses Problems vorzubereiten, ist es notwendig, daß sich die Arbeiter als selbständige politische Partei organisieren und als solche den politischen Kampf gegen die Bourgeoisie führen. Aus diesem Grunde hat die Sozialdemokratie die parlamentarische Tätigkeit zum Mittelpunkt ihrer Propaganda gemacht und ihr jede andere Form der Betätigung untergeordnet. Unter dem Einfluß der deutschen Sozialdemokratie haben die meisten ihrer Schwesterparteien in den anderen Ländern, mehr oder weniger ausgeprägt, denselben Charakter angenommen. Im Verlaufe der letzten fünfzig Jahre ist es ihr gelungen, Millionen Arbeiter in ihren Reihen zu organisieren, in allen gesetzgebenden Körperschaften des modernen Klassenstaates Fuß zu fassen und in zahlreichen Fällen sogar direkt in die Regierung einzudringen. Eine stark entwickelte Presse und Propagandaliteratur haben den sozialdemokratischen Ideen immer weitere Kreise in der Arbeiterwelt und dem Mittelstande erschlossen. Dieses Werk wird noch unterstützt durch eine ganze Armee fest angestellter Agitatoren und Parteibeamten, die im Interesse ihrer respektiven Organisation werben und wirken. Durch den Ausschluß der Anarchisten und anderer Richtungen, die die parlamentarische Tätigkeit ablehnen, war es der deutschen Sozialdemokratie gelungen, auf den internationalen sozialistischen Kongressen jede wirkliche Opposition systematisch auszumerzen. So entwickelte sich diese Partei überall, wo ihr größere Massen der Arbeiterschaft Heeresfolge leisteten, als ein Staat im Staate, und für lange Jahre war sie imstande, jede andere sozialistische Richtung mit planmäßiger und skrupelloser Rücksichtslosigkeit am Aufkommen zu verhindern. Erst die schauerliche Katastrophe im August 1914 enthüllte den eigentlichen Charakter der Sozialdemokratie, vernichtete ihr internationales Prestige und legte Bresche in ein Organisationsgebäude, das auf unabsehbare Zeit hinaus jedem feindlichen Angriff gewachsen schien.

Der Anarchismus, d.h. diejenige Richtung in der Gedankenwelt des Sozialismus, die der Sozialdemokratie am unversöhnlichsten gegenübersteht, geht in seinen Anschauungen über die gesellschaftlichen Zustände und die Stellung des Menschen in der geschichtlichen Entwicklung von anderen Voraussetzungen aus. Seine Anhänger verkennen keineswegs den mächtigen Einfluß der ökonomischen Verhältnisse auf den allgemeinen Entwicklungsprozeß des gesellschaftlichen Lebens, doch lehnen sie die einseitige und fatalistische Fassung, in der Marx diese Erkenntnis zum Ausdruck brachte, ab. Sie sind vor allem der Meinung, daß man bei der Untersuchung und Beurteilung gesellschaftlicher Erscheinungsformen wohl nach wissenschaftlichen Methoden verfahren kann, daß aber Geschichte und Soziologie als solche keineswegs als Wissenschaften betrachtet werden dürfen. Die Wissenschaft anerkennt nur bestimmte Tatsachen, die durch die Erfahrung oder durch Experimente unumstößlich aufgestellt sind. In diesem Sinne kann man lediglich die sogenannten „exakten Wissenschaften“, wie Physik, Chemie usw. als solche bezeichnen. Das berühmte Gravitationsgesetz des Isaak Newton, das allen Berechnungen unserer Astronomie zu Grunde liegt, ist ein wissenschaftliches, ein Naturgesetz, denn es hat sich stets als richtig erwiesen und niemals eine „Ausnahme von der Regel“ zugelassen.

Die Entwicklung der gesellschaftlichen Erscheinungsformen in der Geschichte vollzieht sich jedoch nicht mit derselben zwingenden Notwendigkeit, wie die Gesetze der Physik. So können wir über die gesellschaftliche Gestaltung der zukünftigen Lebensbedingungen wohl Vermutungen anstellen, aber es gibt keine Wissenschaft, die imstande wäre, die sozialen Verhältnisse der Zukunft im voraus zu berechnen und wissenschaftlich festzustellen, wie man etwa die Umlaufzeit eines Planeten berechnen und feststellen kann. Die Geschichte der menschlichen Gesellschaftsformen ist eben viel komplizierter und uns in ihren elementaren Einzelheiten noch viel zu wenig bekannt, als daß wir von einem eisernen Naturgesetze sprechen könnten auf Grund dessen wir imstande wären, die treibenden Kräfte des geschichtlichen Werdens in vergangenen Perioden auch nur einigermaßen mit Sicherheit zu beurteilen, und noch viel weniger die gesellschaftlichen Formen der Zukunft zu ergründen vermöchten. Aus diesem Grunde ist der Sozialismus keine Wissenschaft, kann er keine Wissenschaft sein, und alles Gerede von einem „wissenschaftlichen Sozialismus“ ist eitle Selbstüberhebung und ein schnödes Verkennen der wahren Prinzipien der Wissenschaft.

Der Bekenner der anarchistischen Weltanschauung teilt nicht den Glauben, daß die Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse unbedingt zum Sozialismus führen muß, daß das System des Kapitalismus den Sozialismus sozusagen schon im Keime in sich birgt und nur die Zeit der Reife abgewartet zu werden braucht, damit er die Hülle sprengen kann. Er sieht in diesem Glauben nichts anderes wie eine Übertragung des religiösen Fatalismus auf das wirtschaftliche Gebiet, der ebenso gefährlich wirkt, den Tätigkeitsinstinkt und das impulsive Empfinden des Menschen lähmt und anstatt der lebendigen und stets nach neuen Perspektiven ringenden Erkenntnis einen toten Dogmenglauben erzeugen muß. Der Anarchist sieht in der modernen Arbeitsteilung und in der Zentralisation der Industrie keineswegs Vorbedingungen des kapitalistischen Ausbeutungssystems, die im schärfsten Gegensatz zum Sozialismus stehen. Wohl kann uns die ökonomische Entwicklung zu neuen Phasen des gesellschaftlichen Daseins führen, aber sie kann uns auch ebensogut den Untergang aller Kultur bringen. Die furchtbare Katastrophe des Weltkrieges spricht in dieser Hinsicht eine beredte Sprache für alle, die Ohren haben zu hören. Gelingt es den Völkern Europas nicht sich aus dem jetzigen Chaos zu neuen und höheren Formen der gesellschaftlichen Kultur emporzuarbeiten, so ist kein Prophet imstande vorauszusagen, bis zu welchem Abgrund uns das Verhängnis treiben kann.

Nein der Sozialismus wird uns nicht kommen, weil er kommen muß mit der Unabänderlichkeit eines Naturgesetzes; er wird uns nur dann kommen, wenn die Menschen den festen Willen und die notwendige Kraft aufbringen werden, ihn in die Wirklichkeit umzusetzen. Nicht die Zeit, nicht die ökonomischen Verhältnisse, nur unsere innerste Erkenntnis, unser Wollen, können die Brücke schlagen, die uns aus der Welt der Lohnsklaverei ins Neuland des Sozialismus führen. Daß die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaftsformen den Proletarier erst psychologisch für die Ideen des Sozialismus empfänglich macht, ist gleichfalls eine Voraussetzung, die der Anarchist nicht teilt. England, das Mutterland des modernen Kapitalismus und der modernen Großindustrie, hat trotzdem keine nennenswerte sozialistische Bewegung hervorgerufen, während Länder mit fast ausschließlicher Agrarwirtschaft, wie Andalusien und Süditalien seit langen Jahren über starke sozialistische Organisationen verfügen. Der russische Bauer, der noch unter ganz primitiven Produktionsverhältnissen wirtschaftet, steht den sozialistischen Ideengängen sehr nahe, da zwischen ihm und seinen Mitmenschen ein viel innerer sozialer Zusammenbund besteht, wie bei uns. Der Gemeinbesitz an Grund und Boden, unter dem der russische Bauer seit Jahrhunderten lebt, hat ihn mehr auf die fortwährende Betätigung gegenseitiger Hilfe und natürlicher Solidarität seinen Kameraden gegenüber angewiesen, so daß sich der soziale Instinkt bei ihm bis zu einem Grade entwickelt hat, den wir bei dem Industrieproletariat der mittel- und westeuropäischen Länder vergebens suchen dürften. Trotzdem aber haben die Theoretiker der russischen Sozialdemokratie im Namen der Wissenschaft verkündet, daß die veralteten Kommunalinstitutionen der russischen Bauernschaft zum Untergang verdammt seien, da sie nicht im Einklang mit der modernen Entwicklung ständen und folglich ein Hindernis für den Sozialismus bilden.

Für die Anhänger des Anarchismus sind die Formen des Staates und der Gesetzgebung nicht lediglich der politische Überbau der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, sind Ideen, Rechtsbegriffe und andere menschliche Bewußtseinsformen, nicht einfach Produkte des jeweiligen Produktionsprozesses, sondern bestimmte Faktoren des menschlichen Geistes, die zwar in ihrer Entwicklung von den ökonomischen Verhältnissen beeinflußt werden, die aber in derselben Zeit zurückwirken auf die ökonomischen Bedingungen in der Gesellschaft. Dadurch entsteht eine unendliche Serie von Wechselwirkungen, so daß es vielfach ganz unmöglich ist, einen bestimmten Grundfaktor festzustellen. Man kann alle diese Erscheinungsformen als materielle betrachten und mit Proudhon der Ansicht sein, dass jedes Ideal einer Blume vergleichbar ist, deren Wurzeln in den materiellen Lebensbedingungen zu finden sind. Aber in diesem Falle sind die ökonomischen Verhältnisse nur ein Teil der allgemeinen materiellen Verhältnisse; sie bilden nicht die eiserne Grundlage, die den Entwicklungsprozeß aller anderen gesellschaftlichen Lebenserscheinungen überhaupt bestimmt, sondern sind vielmehr derselben ununterbrochenen Wechselwirkung unterworfen wie alle anderen Faktoren des materiellen Lebens. So ist z.B. der Staat, ohne Zweifel, in erster Linie ein Produkt des Privatmonopols an Grund und Boden, eine Institution, die mit Spaltung der Gesellschaft in verschiedene Klassen mit besonderen Interessen entstanden ist. Aber einmal in Existenz, wirkt er mit aller Kraft für die Aufrechterhaltung des Monopols und der Klassengegensätze, für die Verewigung der ökonomischen Sklaverei, und hat sich im Laufe seiner Entwicklung zur gewaltigsten Ausbeutungsinstitution der Menschheit emporgeschwungen. Solche Wechselwirkungen lassen sich in beliebiger Zahl und in allen denkbaren Erscheinungsformen feststellen, sie sind geradezu charakteristisch für den geschichtlichen Entwicklungsprozeß der Menschheit und so in die Augen springend, daß unsere Neo-Marxisten gezwungen sind, der Kritik ihrer Geschichtsauffassung fortwährend neue Zugeständnisse zu machen.

Wenn die Eroberung der politischen Macht der Sozialdemokratie als die wichtigste Aufgabe erscheint, die der Verwirklichung des Sozialismus vorausgehen muß, so ist für den Anarchismus die Abschaffung jeder politischen Macht von ausschlaggebender Bedeutung. Der Staat ist kein willkürliches Gebilde, sondern eine Institution, die in einer gewissen Periode der menschlichen Geschichte ins Leben getreten ist, als eine Folge des Monopols und der gesellschaftlichen Klassenteilung. Nicht um die Rechte der Allgemeinheit zu schützen ist der Staat entstanden, sondern ausschließlich als Verteidiger der materiellen Interessen kleiner privilegierter Minderheiten auf die Kosten der breiten Massen. Der Staat ist nichts anderes als der politische Agent der besitzenden Klassen, die organisierte Gewalt, die das System der ökonomischen Ausbeutung und der politischen Klassenherrschaft zusammenhält. Seine Formen haben sich verändert im Laufe der Geschichte, aber sein eigentliches Wesen, seine historische Mission ist dieselbe geblieben. Für die breiten Massen des Volkes war der Staat in allen Zeiten und in allen Formen seiner Existenz nur ein rücksichtsloses Werkzeug der Unterdrückung; aus diesem Grunde ist es unmöglich, daß er denselben Massen je als Werkzeug ihrer Befreiung dienen könnte. Die Sozialdemokratie, die in ihren verschiedenen Schattierungen noch vollständig von den Ideen des Jakobinertums durchdrungen ist, glaubt des Staates nicht entraten zu können, weil sie sich die Verwirklichung des Sozialismus nur von o b e n n a c h u n t e n mit der Hilfe von Regierungsdekreten und Staatserlassen vorstellen kann. Der Anarchismus, der die Zerstörung des Staates anstrebt, sieht nur einen Weg, den Sozialismus einzuführen, und zwar von unten nach oben durch die schöpferische Betätigung des Volkes selber und mit der Hilfe seiner eigenen wirtschaftlichen Organisationen.

Hier erhebt sich eine Frage, die den fundamentalen Unterschied zwischen den beiden Richtungen mit aller Schärfe erkennen läßt – die Frage über die Stellung des Menschen in der Gesellschaft. Für die Theoretiker der Sozialdemokratie ist der einzige Mensch nur ein unwesentlicher Bestandteil im allgemeinen Getriebe der gesellschaftlichen Produktion, eine „Arbeitskraft“, ein seelenloses Werkzeug der ökonomischen Entwicklung, die sein geistiges Leben und seine Willensäußerungen unwiderruflich bestimmt. Diese Auffassung ist das notwendige Resultat ihrer ganzen Lehre. Soweit für sie das menschliche Einzelwesen überhaupt in Frage kommt, betrachten sie es stets als gesellschaftliches Durchschnittsprodukt, das mit dem Maßstab allgemeiner Begriffe gemessen werden muß. Sie haben sich von der lebendigen Wirklichkeit eine bestimmte Vorstellung zurechtgelegt und sind gewissermaßen die Opfer einer optischen Täuschung, indem sie die Fata morgana, die ihnen ihre Vorstellungskraft vorzaubert, mit der Wirklichkeit selbst verwechseln. Sie sehen in der geschichtlichen Entwicklung nur die toten Räder, den äußeren Mechanismus, und vergessen daher nur allzu leicht, daß hinter den Kräften und Bedingungen der Produktion lebendige Wesen stehen, Menschen von Fleisch und Blut mit persönlichen Wünschen, Neigungen und Vorstellungen, und da ihnen die individuelle Verschiedenartigkeit, die doch den wirklichen Reichtum des Lebens ausmacht, nur als belangloses Zubehör erscheint, so wird ihnen das Leben selber farblos und schemenhaft.

Der Anarchismus verfolgt auch hier andere Wege. Der Ausgangspunkt seiner Betrachtungen über das Wesen der Gesellschaft ist der einzelne, das Individuum. Nicht das Individuum als abstrakter Schattenbegriff, losgelöst von seiner gesellschaftlichen Umgebung, sondern als Sozialwesen, verbunden mit seinen Mitmenschen durch tausende materielle, geistige und seelische Beziehungen. Um den gesellschaftlichen Wohlstand, die Freiheit, die Kultur eines Volkes zu beurteilen, hält sich der Anarchist nicht an das Quantum der allgemeinen Produktionserzeugnisse oder an die formelle „Freiheit“, die in irgendeiner Verfassung niedergelegt ist, noch an die Kulturhöhe einer bestimmten Periode. Er sucht vielmehr festzustellen, wie groß der persönliche Anteil des Wohlstandes ist, der auf jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft entfällt; auf wie weit das Individuum in der Lage ist, seine persönlichen Neigungen, Wünsche und Freiheitsbedürfnisse zu befriedigen im Rahmen der Allgemeinheit; und bis zu welchem Grade die allgemeine Kultur in jedem Einzelwesen ihren individuellen Ausdruck findet. Nach diesem Resultate fällt er sein Urteil über den Gesamtcharakter der Gesellschaft. Für den Anarchist ist die persönliche Freiheit keineswegs eine unbestimmte abstrakte Vorstellung, sie erscheint ihm vielmehr als die praktische Möglichkeit, für jeden einzelnen seine ihm von der Natur verliehenen Kräfte, Talente und Fähigkeiten voll entfalten zu können. Und da er in dem Persönlichkeitsgefühl den höchsten Ausdruck des menschlichen Freiheitsinstinktes erkennt, verwirft er grundsätzlich jedes Autoritätsprinzip, die Ideologie der brutalen Gewalt. Die volle Freiheit, auf dem Boden der ökonomischen und sozialen Gleichheit, erscheint ihm als die einzige Vorbedingung einer menschenwürdigen Zukunft. Nur in einem solchen Zustand ist, seiner Ansicht nach, die Möglichkeit gegeben, das Gefühl der persönlichen Verantwortlichkeit in jedem Menschen zur höchsten Blüte zu entwickeln und das lebendige Bewußtsein der Solidarität in ihm bis zu einem Grade zu entfalten, daß sich seine individuellen Wünsche und Bedürfnisse sozusagen als Resultate seines sozialen Empfindens offenbaren werden.

Für den Charakter sozialer Bewegungen sind ihre Organisationsformen von entscheidender Bedeutung, da sie ihrem innersten Wesen am besten entsprechen; somit ist es nur natürlich, daß auch in dieser Hinsicht ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen Sozialdemokratie und Anarchismus vorhanden ist. Die Anhänger der Sozialdemokratie, ganz einerlei, ob sie sich als Mehrheitssozialisten, unabhängige oder „Kommunisten“ geben, sind ihrer inneren Einstellung nach Jakobiner, Vertreter des Zentralisationsprinzips. Die Sozialdemokratie ist ihrem Wesen nach zentralistisch, ebenso wie der Föderalismus dem innersten Wesen des Anarchismus am besten entspricht. Der Föderalismus war von jeher die natürliche Organisationsform aller wahrhaft gesellschaftlichen Strömungen und Institutionen, die auf den Interessen der Allgemeinheit fußten, wie das z.B. bei den freien Stammverbänden der Urzeit, bei den Föderationen der Marktgenossenschaften im frühen Mittelalter, bei den Gildenorganisationen der Handwerker und Künstler in den freien Städten und bei den föderativen Verbänden der freien Kommunen, die Europa eine so wunderbare Kultur geschenkt haben, der Fall war. Diese Organisationsgebilde waren gesellschaftlich im vollen Sinne des Wortes. In ihnen fanden die freie Betätigung des einzelnen und die gemeinschaftlichen Interessen der Allgemeinheit einen harmonischen Ausdruck; es waren menschliche Gruppierungen, wie sie Notwendigkeiten des Lebens spontan hervorbrachten. Jede einzelne Gruppe war Herr ihrer eigenen Angelegenheiten und in derselben Zeit föderalistisch verbunden mit anderen Körperschaften zur Verteidigung und Förderung gemeinschaftlicher Interessen. Das Allgemeininteresse war der Mittelpunkt ihrer Bestrebungen, die Organisation von unten nach oben der vollendetste Ausdruck ihrer Betreibungen.

Erst mit der Entstehung des modernen Staates beginnt die Ära des Zentralismus. Kirche und Staat waren seine ersten und vornehmsten Vertreter. Diesmal waren es nicht mehr die Interessen der Allgemeinheit, die in der neuen Art Organisation ihren Ausdruck fanden, sondern die Interessen privilegierter Minoritäten, die ihre Macht auf die Ausbeutung und Versklavung der breiten Massen begründeten. Der Föderalismus, die natürliche Organisation von unten nach oben, wurde durch den Zentralismus, die künstliche Organisation von oben nach unten ersetzt. Die Freiheit mußte dem Despotismus weichen, das alte Gewohnheitsrecht dem Gesetz, die Verschiedenartigkeit der Uniformität und Schablone, die Erziehung und Charakterbildung der geistigen Dressur, die persönliche Selbständigkeit dem blinden Gehorsam, der freie Bürger dem Untertan. – Es ist bezeichnend für den freiheitsfeindlichen Charakter der Sozialdemokratie, daß sie ihre Organisationsform der Rüstkammer des Staates entlehnt hat. Disziplin war und ist der vornehmste Wahlspruch ihrer Erziehungsmethode und mit denselben Mitteln, mit welchen der Staat loyale Untertanen und gute Soldaten heranzieht, erzieht sie disziplinfeste Parteigenossen: Sie hat Millionen Anhänger um ihre Fahne geschart, aber sie erstickte die schöpferische Initiative und die selbständige Aktionsfähigkeit in den Massen. Sie erzeugte eine öde Beamtenherrschaft, eine neue Hierarchie, eine Art politischer Vorsehung, vor der die freie Initiative und das selbständige Denken die Segel streichen mußten.

Nur so ist es zu erklären, daß die Sozialdemokratie in ihrer praktischen Betätigung sich vollständig in der seichten Atmosphäre des bürgerlichen Parlamentarismus verlieren, daß die kleine und kleinlichste Tagespolitik das geistige Milieu ihrer ganzen Propaganda werden konnte. Sie hat ihre Wähler organisiert, wie der Staat seine Armeen, und wie er die geistige Impotenz zum Prinzip erhoben. Auf dem Wege zur politischen Macht hat sie alles, was ursprünglich an ihr sozialistisch war, zu Grabe getragen, so daß weiter nichts übrig blieb, wie ein verkappter Staatskapitalismus, den sie unter falscher Marke in den Handel brachte. Die Bourgeoisie hat vorläufig noch nicht ihren „eigenen Totengräber“ gefunden, aber es ist wahrlich nicht die Schuld der Sozialdemokratie, daß sie nicht schon lange der Totengräber des Sozialismus geworden ist.

Der Anarchismus als der unerbittliche Feind des Staates, verwirft prinzipiell jede Mitarbeit in den gesetzgebenden Körperschaften, jede Form der parlamentarischen Betätigung. Seine Anhänger wissen, daß auch das freieste Wahlrecht die klaffenden Gegensätze in der modernen Gesellschaft nicht zu mildern imstande ist und daß das parlamentarische Regime lediglich den Zweck hat, dem System der Lüge und der sozialen Ungerechtigkeit den Schein des legalen Rechts zu verleihen, den Sklaven zu veranlassen, seiner eigenen Sklaverei selbst den Stempel des Gesetzes aufzudrücken. Die taktische Methode des Anarchismus ist die direkte Aktion gegen die Verteidiger des Monopols und des Staates. Seine Bekenner suchen durch Wort und Schrift die Massen aufzuklären und sie zum Bewußtsein ihrer sozialen Lage zu bringen. Sie nehmen Anteil an allen direkten wirtschaftlichen und politischen Kämpfen der Unterdrückten gegen das System der Lohnsklaverei und die Tyrannei des Staates und versuchen [allen] Kämpfen durch ihre Mitwirkung eine tiefere soziale Bedeutung zu verleihen, die Initiative der Massen zu entwickeln und ihr Verantwortlichkeitsgefühl zu stärken. Die Anarchisten sind die eigentlichen Vorkämpfer der sozialen Revolution, die die Herrschaft und Ausbeutung der Menschen durch den Menschen in jeder Form den Krieg erklären und die die ökonomische und politische Befreiung der Menschen auf ihre Fahne geschrieben haben. Sie sind die Bannerträger des freiheitlichen Sozialismus, die Herolde einer neuen sozialen Kultur der Zukunft.

 

Anmerkung

1. Diese Broschüre bildet einen gedrängten Auszug einer längeren Abhandlung, die 1899-1900 in der Londoner Zeitschrift Arbeiter Freund erschienen ist. [Anscheinend ist der Text vor der Veröffentlichung 1918 überarbeitet worden, da er den Ersten Weltkrieg erwähnt – Anmerkung von MIA]

 


Zuletzt aktualisiert am 16.10.2004