MIA > Deutsch > Referenz > Kropotkin
Dieser Vortrag sollte am 6. März 1896 im Tivoli-Vauxhall zu Paris gehalten werden.
Originaltext: http://www.twokmi-kimali.de/texte/kropotkin_anarchismus_philosophie_und_ideal.htm
Heruntergeladen von der Webseite www.anarchismus.at
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Bürgerinnen und Bürger!
Nicht ohne gewisse Bedenken habe ich mich entschlossen, die Philosophie und das Ideal des Anarchismus als Sujet dieses Vortrags zu wählen.
Diejenigen, die überzeugt sind, daß der Anarchismus nur ein Haufen von Zukunftsvisionen und ein unbewußter Vorstoß auf die Zerstörung der ganzen gegenwärtigen Zivilisation ist, sind noch sehr zahlreich, und man müßte, um durch die Vorurteile unserer Erziehung einen Weg zu bahnen, vielleicht in Erörterungen, sich einlassen, die man nur schwer in einem Vortrag behandeln kann. Haben nicht erst vor 2 oder 3 Jahren die großen Pariser Zeitungen behauptet, die einzige Philosophie des Anarchisten sei die Zerstörung, sein einziges Argument die Gewalt?
Indessen hat man neuerdings so viel von den Anarchisten geredet, daß schließlich ein Teil des Publikums unsere Lehren gelesen und diskutiert hat. Manchmal hat man sich sogar die Mühe gemacht, über sie nachzudenken, und in diesem Moment ist das zumindest ein Gewinnpunkt. Man gibt gern zu, daß der Anarchist ein Ideal besitzt; man erachtet dieses sogar als zu schön, als zu erhaben für eine Gesellschaft, die nicht nur aus Elitemenschen besteht. Aber – ist es nicht reichlich prätentiös, wenn ich dort von einer Philosophie spreche, wo es nach dem Urteil unserer Kritiker lediglich blasse Visionen einer fernen Zukunft gibt? Kann der Anarchismus vorgeben, eine Philosophie zu besitzen, wenn man sie als sozialistische Philosophie anzuerkennen sich weigert?
Darauf will ich mit jeder nur möglichen Präzision und Klarheit zu antworten versuchen, Sie schon im voraus um Entschuldigung bittend, wenn ich hier ein oder zwei Beispiele wiederhole, die ich bereits in einem in London gehaltenen Vortrag angeführt habe, und die, so scheint es mir, besser zu begreifen gestatten, was unter Philosophie des Anarchismus zu verstehen ist.Sie werden es mir gewiß nicht verübeln, wenn ich zuerst einige den Naturwissenschaften entnommene Elementarbeispiele anführe. Nicht, um aus ihnen unsere gesellschaftlichen Ideen abzuleiten. Keineswegs! Sondern einfach, um gewisse Zusammenhänge stärker hervortreten zu lassen, die an den von den exakten Wissenschaften festgestellten Phänomenen leichter zu begreifen sind, als wenn man sich seine Beispiele allein unter den so komplexen Fakten der menschlichen Gesellschaften sucht.
Was uns an den exakten Wissenschaften in diesem Moment vor allem frappiert, ist die seit einigen Jahren vonstattengehende tiefreichende Veränderung ihrer ganzen Art, die Tatsachen des Universums zu erfassen und zu interpretieren. Es gab, wie Sie wissen, eine Zeit, als der Mensch sich die Erde im Mittelpunkt des Weltalls vorstellte. Die Sonne, der Mond, die Planeten und die Sterne schienen sich um unseren Erdball zu drehen, und dieser stellte für den Menschen, der ihn bewohnte, den Mittelpunkt der Schöpfung dar. Er selbst – das höhere Wesen auf seinem Planeten – war der Auserwählte des Schöpfers. Die Sonne, der Mond, die Sterne waren nur seinetwegen da; auf ihn richtete seine ganze Aufmerksamkeit ein Gott, der über die geringste seiner Handlungen wachte, der für ihn die Sonne in ihrem Lauf aufhielt, der auf den Wolken dahinschwebte, aus denen er Regen oder Donner über Stadt und Land ergoß, die Tugenden der Bewohner zu belohnen oder ihre Verbrechen zu bestrafen. Jahrtausende hindurch hat der Mensch das Universum so aufgefaßt. Sie wissen jedoch, welch ungeheure Veränderung im 16. Jahrhundert alle Vorstellungen des Menschen erfuhren, als ihm bewiesen wurde, daß die Erde – weit davon entfernt, der Mittelpunk; des Universums zu sein – bloß ein Staubkorn im Sonnensystem ist – nichts als ein Ball – viel kleiner als die anderen Planeten; daß selbst die Sonne, dieses, verglichen mit unserer kleinen Erde, ungeheure Gestirn, nur ein Stern unter den zahllosen anderen Sternen ist, die wir am Himmel glänzen, in der Milchstraße wimmeln sehen. Wie winzig erschien der Mensch angesichts dieser grenzenlosen Weite, wie lächerlich erschienen seine Ansprüche! In der gesamten Philosophie der Epoche, in allen sozialen und religiösen Vorstellungen sind die Nachwirkungen dieses Wandels der kosmogonischen Ideen zu verspüren. Aus dieser Epoche stammen erst die Naturwissenschaften, deren gegenwärtige Entwicklung uns so stolz macht. Aber eine noch tiefergehende Veränderung von viel größerer Tragweite bahnt sich eben in all unseren Wissenschaften an, und der Anarchismus ist, wie Sie sehen werden, bloß eine der mannigfaltigen Manifestationen dieser Evolution. Er ist nur einer der Zweige der sich ankündigenden neuen Philosophie.
Nehmen Sie irgendein astronomisches Werk vom Ende des vergangenen oder vom Anfang unseres Jahrhunderts. Sie werden darin unseren kleinen Planeten selbstverständlich nicht mehr als Mittelpunkt des Universums finden. Doch werden Sie bei jedem Schritt der Vorstellung von einem ungeheuren Zentralgestirn begegnen: der Sonne, die mit ihrer gewaltigen Anziehungskraft unsere Planetenwelt beherrscht. Von diesem Zentralgestirn strahlt eine Kraft aus, die den Gang seiner Satelliten leitet und die Harmonie des Systems aufrechterhält. Aus einer zentralen Agglomeration hervorgegangen, sind die Planeten sozusagen nur deren Knospen. Dieser Agglomeration verdanken sie ihre Entstehung; dem strahlenden Gestirn, von dem sie noch immer abhängig sind, verdanken sie alles: den Rhythmus ihrer Bewegungen, 'ihre weise in gehörigem Abstand angelegten Umlaufbahnen, das Leben, das sie beseelt und ihre Oberfläche schmückt. Und sollten irgendwelche Störungen ihren Lauf beirren und sie von ihrer Umlaufbahn abbringen, stellt das Zentralgestirn die Ordnung im System wieder her; es sichert, es verewigt ihre Existenz.
Diese Vorstellung geht nun ebenso dahin, wie die andere dahingegangen ist. Nachdem der Astronom seine ganze Aufmerksamkeit auf die Sonne und die großen Planeten gerichtet hat, begibt er sich jetzt an das Studium der unendlich kleinen Teilchen, die das Universum bevölkern. Und er entdeckt das kleine, unsichtbare Schwärme von Materie die interplanetarischen Räume in allen erdenklichen Richtungen bevölkern und durchziehen, die wenn man sie je für sich betrachtet, bedeutungslos sind, kraft ihrer Zahl aber allmächtig. Unter diesen Massen sind einige, wie der Meteor, der neulich in Spanien Schrecken verbreitete, noch ziemlich groß; andere wiegen kaum einige Gramm oder Zentigramm, während um sie herum fast mikroskopisch kleine Staubkörnchen schweben, die den Raum ausfüllen.
Und aus diesen Staubkörnchen, diesen unendlich kleinen Teilchen, die den Weltenraum in alle Richtungen mit schwindelerregender Geschwindigkeit durcheilen, die überall und andauernd zusammenstoßen, sich zusammenballen und auseinanderfallen, aus diesen, sage ich, sucht der Astronom heute den Ursprung unseres Systems zu erklären, die Sonne, die Planeten und Satelliten und die seine verschiedenen Teile beseelenden Bewegungen und die Harmonie des Ganzen. Noch ein Schritt weiter, und selbst die universelle Anziehungskraft wird bald nicht mehr denn eine Resultante aller ungeordneten und unzusammenhängenden Bewegungen dieser unendlich kleinen Teilchen sein – der Atomschwingungen in alle möglichen Richtungen.
So ist der einmal von der Erde auf die Sonne verlegte Mittelpunkt, der Ursprung der Kraft, jetzt zersplittert, zerstreut: er ist überall und nirgends. Mit dem Astronomen bemerkt man, daß die Sonnensysteme nur das Werk der unendlich kleinen Teilchen sind, daß die Kraft, die man für die das System beherrschende hielt, vielleicht selbst nur die Resultante der Zusammenstöße dieser unendlich kleinen Teilchen ist; daß die Harmonie der Sternensysteme nur deshalb eine Harmonie ist, weil sie eine Anpassung, eine Resultante aller dieser unzählbaren, sich addierenden, sich vervollständigenden, sich gegenseitig im Gleichgewicht haltenden Bewegungen ist. Das ganze Bild des Universums verwandelt sich mit dieser neuen Vorstellung. Der Gedanke an eine die Welt regierende Kraft, an ein präetabliertes Gesetz, an eine prästabilierte Harmonie, verschwindet, um jener Harmonie Platz zu machen, die Fourier einst geahnt hatte und die nur die Resultante dieser unzählbaren, jeder seinen eigenen Weg gehenden und einander im Gleichgewicht haltenden Schwärme von Materie ist.
Wäre es übrigens nur die Astronomie, die jener Verwandlung unterliegt! Aber nein, die gleiche Veränderung findet ohne Ausnahme in den Philosophien aller Wissenschaften statt, jenen, die die Natur, wie jenen, die die menschlichen Beziehungen behandeln. In der Physik verschwinden die Wesenheiten Wärme, Magnetismus, Elektrizität. Spricht heute ein Physiker von einem erhitzten oder elektrisierten Körper, sieht er keine leblose Masse mehr, der sich eine unbekannte Kraft zugesellt. Er bemüht sich, in diesem Körper und in dem ihn umgebenden Raum den Gang, die Schwingungen der unendlich kleinen Atome zu erkennen, die in alle Richtungen drängen, schwingen, sich bewegen, leben und durch ihre Schwingungen, ihre Zusammenstöße, ihr Leben die Phänomene Wärme, Licht, Magnetismus oder Elektrizität erzeugen.
In den Wissenschaften, die das organische Leben behandeln, tritt die Vorstellung von der Spezies und ihren Variationen zurück und wird durch die Vorstellung vom Individuum ersetzt. Botaniker und Zoologe studieren das Individuum -sein Leben, seine Anpassung an die Umwelt. Veränderungen, die die Individuen unter der Einwirkung von Trockenheit oder Feuchtigkeit, Wärme oder Kälte, des Überflusses oder des Mangels an Nahrung, ihrer mehr oder minder starken Sensibilität gegenüber den Einflüssen des äußeren Milieus erfahren, gebären die Spezies; und die Variationen der Spezies sind für den Biologen lediglich Resultanten – Summen von Veränderungen, die jedes Individuum separat erfährt. Die Spezies wird sein, was die Individuen sein werden, von denen ein jedes den zahllosen Einflüssen der Umwelt, in der es lebt, ausgesetzt ist und auf die es auf seine Art reagiert. Und wenn der Physiologe von dem Leben einer Pflanze oder eines Tieres spricht, so sieht er dabei eher eine Agglomeration, eine Kolonie von Millionen gesonderter Individuen, als eine einzige und unteilbare Persönlichkeit. Er spricht von einer Föderation von Verdauungs-, Sinnes-, Nervenorganen etc.,alle sehr eng miteinander verknüpft, alle den Rückwirkungen des Wohlbefindens oder Unwohlseins jedes anderen ausgesetzt, doch jedes sein eigenes Leben lebend. – Jedes Organ, jeder Teil eines Organs ist wiederum aus unabhängigen Zellen zusammengesetzt, die sich assoziieren, um gegen die für ihre Existenz ungünstigen Bedingungen zu kämpfen. Das Individuum ist eine ganze Welt von Föderationen, es ist ein ganzer Kosmos für sich allein!
Und in dieser Welt sieht der Physiologe die autonomen Zellen des Bluts, der Gewebe, der Nervenzentren; er erkennt die Milliarden weißer Blutkörperchen, die Phagozyten, die zu den von Mikroben infizierten Stellen des Körpers drängen, um den Eindringlingen eine Schlacht zu liefern. Mehr noch: in jeder mikroskopischen Zelle entdeckt er heute eine Welt autonomer Elemente, deren jedes sein eigenes Leben lebt, für sich selbst Wohlbefinden sucht und dieses durch Gruppenbildung, durch Assoziation mit anderen Elementen erreicht. Kurz, jedes Individuum ist ein Kosmos von Organen, jedes Organ ist ein Kosmos von Zellen, jede Zelle ist ein Kosmos unendlich kleiner Teilchen; und in dieser komplexen Welt hängt das Wohlbefinden des Ganzen voll und ganz von der Summe des Wohlbefindens ab, dessen sich jede der geringsten mikroskopischen Parzellen der belebten Materie erfreut. Für die Philosophie des Lebens bedeutet das eine vollständige Revolution.
Vor allem aber in der Psychologie hat diese Revolution Folgen von größter Tragweite. Noch vor kurzem sprach der Psychologe vom Menschen als von einem einzigen und unteilbaren Gesamtwesen. Treu der kirchlichen Tradition beliebte er die Menschen in gute und schlechte, kluge und dumme, egoistische und altruistische zu klassifizieren. Selbst bei den Materialisten des 18. Jahrhunderts hielt sich noch die Vorstellung von der Seele als einer unteilbaren Einheit aufrecht. Aber was dächte man heute von einem Psychologen, der noch diese Sprache spräche! Der Psychologe unserer Tage sieht im Menschen eine Vielfalt separater Fähigkeiten, autonomer Neigungen, die einander gleichwertig sind, aber unabhängig voneinander funktionieren, sich ausgleichen, einander beständig widersprechen. Als Ganzes genommen ist für ihn der Mensch nichts als eine stets veränderliche Resultante all dieser verschiedenen Fähigkeiten, all dieser autonomen Tendenzen der Gehirnzellen und Nervenzentren. Sie alle sind untereinander soweit verbunden, daß sie alle aufeinander reagieren, aber sie leben ihr eigenes Leben, ohne einem Zentralorgan – einer Seele – untergeordnet zu sein.
Ohne daß ich auf weitere Einzelheiten eingehe, ersehen Sie nun, daß in den gesamten Naturwissenschaften momentan eine tiefreichende Veränderung stattfindet. Nicht als ob sie ihre Analyse bis in Details trieben, die man früher vernachlässigt hätte. Nein! Es sind keine neuen Tatsachen, doch die Betrachtungsweise ist im Begriff, sich zu entwickeln, und wenn man diese Tendenz in wenigen Worten charakterisieren sollte, könnte man sagen, daß die Wissenschaft, widmete sie sich ehemals dem Studium der großen Resultate und großen Summen (den Integralen, wie der Mathematiker sagen würde), es sich heute vor allem angelegen sein läßt, die unendlich kleinen Teilchen zu untersuchen, die Individuen, aus denen jene Summen sich zusammensetzen, und deren Unabhängigkeit und Individualität wie ingleichen ihre intime Vereinigung sie endlich erkannt hat.
Was die Harmonie anbetrifft, die der menschliche Geist in der Natur entdeckt, und die im Grunde nur die Bestätigung einer gewissen Stabilität der Phänomene ist, so erkennt der moderne Gelehrte sie heute zweifellos mehr an als je zuvor. Aber er sucht sie nicht mehr aus der Wirkung von nach einem gewissen Plan entworfenen Gesetzen zu erklären, die von einem mit Verstand begabten Willen vorherbestimmt seien.
Was man „Naturgesetz“ nannte, ist lediglich eine von uns angenommene Beziehung zwischen gewissen Phänomenen, und jedes „Naturgesetz“ nimmt einen konditionellen Kausalitätscharakter an; d.h., falls ein bestimmtes Phänomen sich unter bestimmten Bedingungen einstellt, wird es ein bestimmtes anderes zur Folge haben. Kein Gesetz mehr jenseits des Phänomens: das Phänomen, nicht das Gesetz, beherrscht das auf es folgende. Es gibt nichts Vorherbestimmtes in dem, was wir die Harmonie der Natur nennen. Die Zufälligkeit der Zusammenstöße und Begegnungen hat genügt, das zu beweisen. Ein bestimmtes Phänomen wird Jahrhunderte Bestand haben, weil die Anpassung, das Gleichgewicht, das es darstellt, Jahrhunderte zu seiner Entstehung benötigt hat, während ein bestimmtes anderes Phänomen nur einen Augenblick bestehen wird, wenn jenes momentane Gleichgewicht in einem Augenblick geboren wird. Wenn die Planeten unseres Sonnensystems nicht täglich zusammenstoßen und einander zerstören, wenn sie Millionen Jahrhunderte wären dann weil sie ein Gleichgewicht darstellen, das als Resultante von Millionen blinder Kräfte Millionen Jahrhunderte zu seiner Entstehung benötigt hat. Wenn die Kontinente nicht andauernd von vulkanischen Stößen vernichtet werden, dann kommt das daher, daß sie Tausende und Abertausende Jahrhunderte gebraucht haben, um Molekül für Molekül erbaut zu werden und ihre jetzige Gestalt anzunehmen. Doch der Blitz dauert nur einen Augenblick, weil er eine momentane Störung des Gleichgewichts, eine plötzliche Neuverteilung der Kräfte darstellt. Die Harmonie erscheint so als ein zwischen allen Kräften etabliertes zeitweiliges Gleichgewicht, als eine provisorische Anpassung; und dieses Gleichgewicht wird nur unter einer Bedingung Dauer haben: daß es sich fortwährend ändert, daß es in jedem Augenblick die Resultante sämtlicher widersprüchlichen Wirkungen darstellt. Ist nur eine einzige dieser Kräfte für einige Zeit in ihrer Wirkung behindert, wird die Harmonie verschwinden. Die Kraft wird ihre Wirkung akkumulieren, sie muß sich Bahn brechen, sie muß ihre Wirkung tun, und wenn andere Gewalten sie hindern, sich zu manifestieren, so wird sie sich deshalb nicht auflösen, sondern am Ende das Gleichgewicht zerstören, die Harmonie zerschlagen, um zu einer neuen Gleichgewichtslage zu finden und auf eine neue Anpassung hinzuarbeiten. So kommt es zum Ausbruch eines Vulkans, dessen eingekerkerte Kraft endlich die versteinerte Lava zerbricht, die ihn hinderte, Gas, Lava und glühende Asche auszuspeien. So entstehen Revolutionen.
Eine analoge Umwandlung findet gleichzeitig in den Wissenschaften statt, die den Menschen behandeln. Hier sehen wir ebenfalls, daß die Geschichte, nachdem sie eine Geschichte der Königreiche gewesen ist, zur Geschichte der Völker und schließlich zum Studium der Individuen zu werden strebt. Der Historiker will wissen, wie die Glieder einer bestimmten Nation in einer bestimmten Epoche lebten, welche Glaubenssätze und Existenzmittel sie besaßen, welches gesellschaftliche Ideal ihnen vorschwebte, und über welche Mittel sie verfügten, sich diesem Ideal zu nähern. Und aus dem Wirken all dieser früher vernachlässigten Kräfte wird er die großen geschichtlichen Phänomene erklären. Ebenso begnügt sich der Gelehrte, der die Rechtswissenschaften studiert, nicht mehr mit der Untersuchung dieses oder jenes Gesetzbuchs. Wie der Ethnologe will er die Genesis der einander ablösenden Einrichtungen kennenlernen; er verfolgt ihre Entwicklung durch die Zeitalter und hält sich bei diesem Studium weniger an das geschriebene Gesetz als an die lokalen Gebräuche, das „Gewohnheitsrecht“, in dem der konstruktive Geist der unbekannten Massen in jeder Epoche seinen Ausdruck gefunden hat. Eine ganz neue Wissenschaft entsteht diesermaßen und verspricht, die etablierten Vorstellungen, die wir in der Schule gelernt haben, umzuwälzen und dahin zu gelangen, die Geschichte in derselben Weise zu interpretieren wie die Naturwissenschaften die Phänomene der Natur.
Die Volkswirtschaft endlich, die in ihren Anfängen ein Studium des Reichtums der Nationen war, wird heute zum Studium des Reichtums der Individuen. Es liegt ihr weniger daran, zu wissen, ob eine Nation bedeutenden Außenhandel treibt oder nicht; sie will sich vergewissern, daß es in der Hütte des Bauern oder Arbeiters nicht an Brot mangelt. Sie klopft an alle Türen – an die des Palasts wie an die des verkommenen Lochs – und fragt den Reichen wie den Armen: „Bis zu welchem Grad sind Eure Bedürfnisse an Notwendigem und an Luxus befriedigt?“ Und da sie feststellt, daß die dringendsten Bedürfnisse fürs Wohlbefinden bei. neun Zehntel der Menschheit nicht erfüllt sind, stellt sie sich dieselbe Frage, die sich ein Physiologe angesichts einer Pflanze oder eines Tiers stellen würde: „Welche Mittel gibt es, die Bedürfnisse aller mit dem geringsten Kraftaufwand zu befriedigen? Wie kann eine Gesellschaft jedem Einzelnen und folglich allen die größte Summe an Befriedigung und Glück garantieren?“ Dahingehend bildet sich die Wirtschaftswissenschaft um; und nachdem sie lange Zeit eine bloße Tatsachenaufnahme der im Interesse der reichen Minoritäten interpretierten Phänomene betrieben hat, strebt sie jetzt danach (oder arbeitet vielmehr die Elemente dafür aus), eine Wissenschaft im wahren Sinne des Wortes zu werden – eine Physiologie der menschlichen Gesellschaften.
Während sich so eine neue Sicht des Ganzen, eine neue Philosophie in den Wissenschaften herausbildet, sehen wir auch eine Vorstellung von der Gesellschaft sich entfalten, die vollkommen verschieden von jenen Vorstellungen ist, die bis in unsere Tage vorgeherrscht haben. Unter dem Namen Anarchismus entsteht eine neue Interpretation des vergangenen und gegenwärtigen Lebens der Gesellschaften, verbunden mit einer Vorausschau auf ihre Zukunft, die eine wie die andere vom selben Geist getragen wie die Vorstellung von der Natur, von der ich eben sprach. Der Anarchismus stellt sich so als ein wesentlicher Bestandteil der neuen Philosophie dar, und darum hat der Anarchist eine so große Zahl von Berührungspunkten mit den größten Dichtern und Denkern der gegenwärtigen Epoche.
In der Tat ist es gewiß, daß – in dem Maße, wie das menschliche Gehirn von den Ideen, die ihm von den Minoritäten der Priester, der militärischen Anführer, der Richter eingeimpft worden sind, um darauf ihre Herrschaft zu gründen, und von den für ihre Verbreitung bezahlten Gelehrten sich befreit – eine Vorstellung von der Gesellschaft entsteht, in der für diese herrschenden Minderheiten kein Platz bleibt. Diese das ganze durch die Arbeit der vorangegangenen Generationen akkumulierte gesellschaftliche Kapital wieder in Besitz nehmende Gesellschaft organisiert sich, um dieses Kapital im Interesse aller arbeiten zu lassen, und konstituiert sich, ohne die Macht der Minderheiten wiederherzustellen. In ihrem Schoß versammelt sie Fähigkeiten, Temperamente und individuelle Energien von unendlicher Vielfalt, und niemand wird von ihr ausgeschlossen. Kampf und Konflikt fordert sie sogar heraus, da sie weiß, daß Epochen frei ausgetragener Konflikte, in denen keine konstituierte Autorität ihr Gewicht auf eine Schale der Waage legte, stets Epochen höchster geistiger Entwicklung waren. Ausgehend von der Voraussetzung, daß sämtliche Gesellschaftsangehörigen de facto gleiche Rechtsansprüche auf sämtliche in der Vergangenheit akkumulierten Schätze besitzen, unterscheidet die Gesellschaft nicht mehr zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern, Beherrschten und Herrschenden, Regierten und Regierenden und bemüht sich, eine harmonische Ausgewogenheit5 zu schaffen, nicht indem sie all ihre Mitglieder einer Autorität unterwirft, die kraft Einbildung für eine Repräsentantin der Gesellschaft gehalten wird, nicht indem sie Gleichförmigkeit herzustellen sucht, sondern indem sie alle Menschen zur freien Entfaltung, zur freien Initiative, zur freien Betätigung und freien Assoziation aufruft.
Sie sucht die umfassendste Entwicklung der Individualität, verbunden mit der höchsten Entwicklung der freiwilligen Assoziation unter allen Aspekten, in allen möglichen Graden, für alle erdenklichen Ziele; eine stets sich verwandelnde Assoziation, die in sich selbst die Elemente ihrer Dauer trägt und die Formen annimmt, die in einem gegebenen Augenblick dem mannigfaltigen Trachten aller am besten entsprechen. Eine Gesellschaft endlich, der die präetablierten durch das Gesetz kristallisierten Formen zuwiderlaufen, die jedoch die Harmonie im stetig wechselnden und flüchtigen Gleichgewicht einer Vielheit verschiedener Kräfte und Einflüsse der ganzen Natur sucht, die ihren eigenen Weg verfolgen und gerade dank der Freiheit, sich am hellen Tag entfalten und im Gleichgewicht halten zu können, die ihnen günstigen Energien dadurch auszulösen vermögen, daß sie sich dem Fortschritt zuwenden.
Diese Vorstellung und dieses Gesellschaftsideal sind gewiß nicht neu. Im Gegenteil, wenn wir die Geschichte der volkstümlichen Institutionen analysieren – den Clan, die Gemeinde, das Dorf, den Berufsverband, die „Gilde“ und selbst die Stadtgemeinde des Mittelalters in ihren Anfängen -, entdecken wir die gleiche volkstümliche Tendenz, die Gesellschaft dieser Idee gemäß zu konstituieren; eine Tendenz, die von den herrschenden Minderheiten übrigens immer gehemmt wurde. Alle Volksbewegungen trugen mehr oder weniger diesen Stempel, und bei den Wiedertäufern und ihren Vorläufern finden wir die gleichen Ideen trotz der religiösen Sprache, derer man sich damals bediente, klar ausgedrückt. Unglücklicherweise wurde dieses Ideal bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts stets von einem theokratischen Geist befleckt, und erst in unseren Tagen präsentiert es sich, von der religiösen Sprache befreit, als eine aus der Beobachtung gesellschaftlicher Phänomene abgeleitete Vorstellung der Gesellschaft.
Erst heute bestätigt sich auf einmal das Ideal einer Gesellschaft, in der ein jeder sich nur durch seinen eigenen Willen regiert (der offenkundig ein Ergebnis der gesellschaftlichen Einflüsse ist, denen jeder unterliegt), sowohl in ökonomischer als auch in politischer und moralischer Hinsicht, und das Ideal erweist sich auf den Kommunismus als auf eine Notwendigkeit gestützt, die der eminent gesellschaftliche Charakter der gegenwärtigen Produktion der modernen Gesellschaften vorschreibt.
In der Tat wissen wir heute sehr wohl, daß es leichtfertig ist, von Freiheit zu sprechen, solange es ökonomische Sklaven gibt. „Sprich nicht von Freiheit – Armut ist Sklaverei!“ Das ist keine leere Redensart mehr: sie hat die Gedanken der großen Arbeitermassen durchdrungen, sie infiltriert die gesamte Literatur der Epoche, sie reißt selbst jene hin, die von der Armut der anderen leben, und benimmt ihnen die Arroganz, mit der sie ehemals ihr Recht auf Ausbeutung behaupteten. Daß die jetzige Form der Aneignung des gesellschaftlichen Kapitals nicht mehr fortdauern kann, darüber sind sich Millionen Sozialisten in der alten und neuen Welt einig. Selbst die Kapitalisten fühlen, daß sie dahingeht, und wagen sie nicht mehr mit der früheren Zuversicht zu verteidigen. Ihre einzige Verteidigung beschränkt sich im Grunde darauf, uns zu sagen: „Ihr habt nichts Besseres erfunden!“ Die unheilvollen Konsequenzen der gegenwärtigen Formen des Eigentums zu leugnen, ihr Recht auf Eigentum zu rechtfertigen, das vermögen sie nicht. Sie üben dieses Recht aus, solange man ihnen dazu noch Spielraum läßt, aber ohne zu versuchen, es auf eine Idee zu gründen. Das ist verständlich.
Betrachten Sie zum Beispiel diese Stadt Paris – eine Schöpfung so vieler Jahrhunderte, Produkt des Genius einer ganzen Nation, Resultat der Arbeit von 20 oder 30 Generationen. Wie verteidigt man vor dem Einwohner dieser Stadt, der Tag für Tag arbeitet, um sie zu verschönern, sie gesünder zu machen, sie zu ernähren, sie mit den Meisterwerken des menschlichen Genies auszustatten, sie zu einem Zentrum des Geists und der Kunst zu machen, wie verteidigt man vor ihm, der all dies schafft, daß die Palais, die die Straßen von Paris zieren, mit vollem Recht denjenigen gehören, die heute deren legale Eigentümer sind, wenn wir alle doch diese Werte schaffen, weil es ohne uns keine Werte gäbe. Eine solche Fiktion kann sich einige Zeit lang dank der Verschlagenheit der Volkserzieher erhalten. Ganze Arbeiterbataillone mögen darüber nicht einmal nachdenken. Aber von dem Moment, an dem eine Minorität denkender Menschen diese Frage aufgreift und sie allen stellt, kann es über die Antwort keinen Zweifel mehr geben. Der Volksgeist erwidert: „Durch Raub haben sie die Reichtümer in Besitz!“ Desgleichen: wie kann man einen Bauern glauben machen, daß das grundherrliche oder bürgerliche Land dem Eigentümer nach Recht und Gesetz gehört, wenn der Bauer uns die Geschichte von jedem Stück Land im Umkreis von 10 Meilen erzählen kann? Wie kann man ihn vor allem glauben machen, es sei für die Nation nützlich, daß Herr Soundso dieses Land als Park behält, während so viele Bauern in der Umgebung nichts anderes begehren, als es zu bestellen? Wie kann man den Arbeiter in einer Fabrik oder den Knappen in einer Zeche denn noch glauben machen, daß Fabrik und Zeche rechtmäßig ihren gegenwärtigen Eigentümern gehören, wenn Fabrik- und Bergarbeiter den Panamaschwindel, die Bestechungsaffären, die Schiebungen mit französischen oder türkischen Eisenbahnaktien, die Ausplünderung des Staats und den legalen Diebstahl, woraus die großen kaufmännischen und industriellen Besitztümer entstehen, zu durchschauen beginnen?
Haben die Massen eigentlich jemals die Sophismen geglaubt, die die Nationalökonomen gelehrt haben, mehr um die Ausbeuter in ihren Rechten zu bestärken, als um die Ausgebeuteten zu bekehren? Vom Elend erdrückt, in den wohlhabenden Klassen keine Unterstützung findend, haben Bauer und Arbeiter einfach alles geschehen lassen, doch stets sind sie bereit gewesen, von Zeit zu Zeit ihre Rechtsansprüche durch Jac-querien7 anzumelden. Und wenn ein städtischer Arbeiter einen Augenblick hat glauben können, daß der Tag sich näherte, an dem die persönliche Aneignung des Kapitals allen zugute käme, indem ein Fond von Reichtümern gebildet würde, an deren Verteilung teilzunehmen alle Welt aufgerufen wäre, so vergeht diese Illusion wie so viele andere auch. Der Arbeiter wird gewahr, daß er enterbt war und bleibt; daß er, um seinen Herren den geringsten Teil der durch seine Mühen erworbenen Reichtümer zu entreißen, Rekurs auf Revolte oder Streik nehmen, d.h. die Schrecken des Hungers auf sich nehmen und der Verhaftung die Stirn bieten, wenn nicht gar den kaiserlichen, königlichen oder republikanischen Erschießungen sich aussetzen muß. Aber ein anderes Übel des jetzigen Systems schält sich mehr und mehr heraus. Ist erst einmal auf dem Weg privater Aneignung alles, was zum Leben und zur Produktion dient -der Boden, die Wohnung, die Nahrung und die Arbeitsgeräte – in die Hände Weniger übergegangen, so verhindern diese dauerhaft, das zum Wohlbefinden eines jeden Notwendige zu produzieren. Der Arbeiter fühlt unbestimmt, daß unser heutiges technisches Vermögen allen einen üppigen Wohlstand vermitteln könnte, aber er bemerkt auch, wie das kapitalistische System und der Staat es in jeder Hinsicht verhindern, diesen Wohlstand zu erringen.
Weit davon entfernt, mehr zu produzieren, als erforderlich ist, um den materiellen Reichtum zu sichern, produzieren wir nicht genug. Wenn es den Bauern nach den Parks und Gärten der Industrieritter und Panamaschwindler gelüstet, rings um welche Richter und Polizist auf Wache ziehen, versteht er das, weil er davon träumt, sie mit Ernten zu bedecken, die, wie er weiß, Überfluß in die Dörfer brächten, in denen man sich von Brot ernährt, spärlich mit Tresterwein benetzt. Wenn der Bergarbeiter gezwungen ist, drei Tage in der Woche die Arme hängen zu lassen und spazierenzugehen, denkt er an die Tonnen Kohle, die er fördern könnte und die in den armen Haushalten allenthalben fehlen. Wenn die Fabrik feiert und der Arbeiter auf der Suche nach Arbeit durch die Straßen läuft, sieht er die Maurer ebenfalls feiern, während ein Fünftel der Pariser Bevölkerung in ungesunden Löchern haust; er hört die Schuster über Mangel an Arbeit klagen, während so viele Leute keine Schuhe besitzen – und so fort.
In der Tat, wenn gewisse Nationalökonomen sich darin gefallen, Abhandlungen über die Überproduktion zu verfassen und jede Industriekrise aus dieser Ursache zu erklären, dann würden sie doch in arge Verlegenheit geraten, forderte man sie auf, eine einzige Ware zu nennen, die Frankreich in größerer Menge produzierte, als zur Befriedigung der Bedürfnisse der gesamten Bevölkerung nötig wäre. Sicherlich kein Getreide: das Land muß welches einführen. Auch keinen Wein: die Bauern trinken nur sehr wenig Wein und ersetzen ihn durch Tresterwein, und die städtische Bevölkerung muß sich mit verfälschten Produkten zufrieden geben. Offensichtlich auch keine Häuser: Millionen leben noch in Hütten mit ein oder zwei Öffnungen. Nicht einmal Bücher, weder gute noch schlechte: auf dem Dorf sind sie noch immer Luxusgegenstände. Ein einziger Artikel wird in größeren Mengen als nötig produziert – das ist der Steuerfresser8, aber diese Ware kommt in den Kursen der politischen Ökonomie nicht vor, obschon sie alle Attribute einer Ware hat, da sie sich stets dem Meistbietenden verkauft.
Was der Ökonom Überproduktion nennt, ist also lediglich eine Produktion, die die Kaufkraft der von Kapital und Staat in Armut niedergehaltenen Arbeiter übersteigt. Nun, diese Art der Überproduktion bleibt unseligerweise das Charakteristische der jetzigen kapitalistischen Produktion, da -Proudhon hatte es bereits richtig gesagt – die Arbeiter mit ihren Löhnen das, was sie erzeugt haben, nicht kaufen und zugleich noch die Heere der auf ihren Schultern hockenden Müßiggänger mästen können.
Das eigentliche Wesen des gegenwärtigen Wirtschaftssystems ist, daß der Arbeiter niemals den von ihm erzeugten Wohlstand genießen kann und die Anzahl der auf seine Kosten Lebenden sich ständig vermehrt. Je fortgeschrittener ein Land in der Industrie, desto größer ist deren Zahl. Erzwungenermaßen richtet sich die Industrie deshalb weder jetzt noch fürderhin nach dem, was zur Befriedigung der Bedürfnisse aller erforderlich ist, sondern nach dem, was in einem gegebenen Moment einigen Wenigen die größten zeitweiligen Vorteile einträgt. Mit unumgänglicher Notwendigkeit bedingt der Überfluß der einen die Armut der anderen, und die Not der großen Menge muß um jeden Preis aufrechterhalten werden, damit es Arme gibt, die sich für einen Teil dessen verkaufen, was sie zu produzieren fähig sind; ohne sie gäbe es keine private Kapitalakkumulation! Diese charakteristischen Züge unseres Wirtschaftssystems machen im Grunde sein eigentliches Wesen aus. Ohne sie kann es nicht bestehen; denn wer verkaufte wohl seine Arbeitskraft für weniger, als sie einzubringen imstande wäre, würde er nicht durch drohenden Hunger dazu gezwungen? Und diese wesentlichen Züge des Systems sind auch seine vernichtendste Verdammung.
Solange England und Frankreich die Industriepioniere im Kreise der in ihrer technischen Entwicklung zurückgebliebenen Nationen waren und ihren Nachbarn Wolle, Baumwolle und Seide, Eisen und Maschinen sowie eine ganze Reihe von Luxusgegenständen zu Preisen verkaufen konnten, die es ihnen gestatteten, sich auf Kosten ihrer Kunden zu bereichern, konnte der Arbeiter in der Hoffnung gehalten werden, daß auch er berufen wäre, sich einen immer größer werdenden Teil des Profits anzueignen. Aber diese Bedingungen verschwinden. Die vor 30 Jahren noch rückständigen Nationen sind ihrerseits große Produzenten von Baumwolle, Wolle, Seide, Maschinen und Luxusgegenständen geworden. In gewissen Industriezweigen haben sie sogar die Vorhut übernommen und – nicht zu sprechen vom Außenhandel, in dem sie ihre älteren Schwestern schlagen – beginnen bereits, diesen auf ihren eigenen Märkten Konkurrenz zu machen. In wenigen Jahren sind Deutschland, die Schweiz, Italien, die Vereinigten Staaten, Rußland und Japan große Industrienationen geworden. Mexiko, Indien, sogar Serbien treten in die Fußstapfen ihrer Vorgänger, und was wird passieren, wenn der Chinese anfängt, den Japaner nachzuahmen, und ebenfalls für den Weltmarkt fabriziert?
Daraus geht hervor, daß die Industriekrisen, deren Häufigkeit und Dauer zunehmen, in manchen Industrien einen chronischen Zustand angenommen haben. Ebenso steht der Krieg um die orientalischen und afrikanischen Märkte seit mehreren Jahren auf der Tagesordnung; bereits seit 25 Jahren schwebt das Schwert des europäischen Kriegs über den europäischen Staaten. Und wenn dieser Krieg noch nicht ausgebrochen ist, dann vielleicht vor allem, weil die Hochfinanz es für vorteilhaft erachtet, daß die Staaten sich immer tiefer in Schulden stürzen. Aber an dem Tag, an dem die Großbanken meinen, bei einem Krieg auf ihre Rechnung zu kommen, werden die menschlichen Herden aufeinander losgelassen, und sie werden einander töten, um die Geschäfte der Finanzherren der Welt in Ordnung zu bringen. Alles fügt sich ineinander, alles stützt einander in dem heutigen Wirtschaftssystem und alles wirkt mit, um den Sturz des Industrie- und Handelssystems, unter dem wir leben, unvermeidlich zu machen. Seine Dauer ist nur noch eine Frage der Zeit, die man nach Jahren und nicht mehr nach Jahrhunderten rechnen kann. Eine Frage der Zeit – und der Tatkraft auf unserer Seite! Faulenzer machen keine Geschichte: sie erleiden sie!
Deswegen konstituieren sich so mächtige Minoritäten innerhalb aller zivilisierten Nationen und fordern mit erhobener Stimme die Rückkehr zur Gütergemeinschaft an allen durch die Arbeit der vorangegangenen Generationen akkumulierten Reichtümern. Die Kommunalisierung des Bodens, des Bergbaus, der Fabriken, der Wohnhäuser und der Transportmittel ist bereits das Losungswort dieser imposanten Fraktionen, und mit Unterdrückung – dieser Lieblingswaffe der Reichen und Mächtigen – ist der Triumphmarsch der empörten Geister nicht mehr aufzuhalten. Wenn Millionen Arbeiter sich noch immer nicht aufraffen, um mit offener Gewalt den .Monopolherren den Boden und die Fabriken zu entreißen, dann, so seien Sie versichert, nicht aus mangelnder Lust. Sie warten damit nur auf eine günstige Gelegenheit – auf einen Augenblick, wie er sich 1848 eingestellt hat, in dem sie sich auf die Zerstörung des bestehenden Regimes stürzen können, in der Hoffnung, Unterstützung durch eine internationale Bewegung zu finden.
Dieser Augenblick kann nicht lange auf sich warten lassen; denn seitdem die Internationale von den Regierenden im Jahre 1872 vernichtet wurde, seitdem hat sie besonders große Fortschritte gemacht, deren Bedeutung ihre glühendsten Anhänger oft nicht begreifen. Sie besteht de facto: in den Gedanken, in den Gefühlen, in der Einrichtung ständiger Beziehungen. Allerdings stellt die französische, englische, italienische und deutsche Plutokratie mächtige Gegner dar. In jedem Moment können sie die Völker sogar dazu bringen, 'aufeinander loszugehen. Gleichwohl seien Sie versichert, daß an dem Tag, an dem die kommunale und gesellschaftliche Revolution in Frankreich losbricht, Frankreich die alten Sympathien bei den Völkern der Erde wiederfinden wird, einschließlich des deutschen, italienischen und englischen Volks. Und wenn Deutschland, das, nebenbei bemerkt, einer Revolution viel näher steht, als man denkt, die – leider jakobinische – Fahne dieser Revolution aufpflanzt, wenn es sich in diese Revolution mit dem ganzen Feuer der Jugend und der Aufstiegsperiode stürzt, die es augenblicklich durchläuft, dann findet es diesseits des Rheins alle Sympathien und jede Unterstützung eines Volks, das die kühnen Revolutionäre liebt und die Arroganz der Plutokratie haßt.
Verschiedene Ursachen haben bisher den .Ausbruch dieser unvermeidlichen Revolution aufgehalten. Die Ungewißheit der internationalen Beziehungen trägt sicher dazu bei. Aber es gibt, wie mir scheint, eine andere, tiefere Ursache, auf die ich Ihre ganze Aufmerksamkeit lenken möchte. Zahlreiche Anzeichen lassen uns vermuten, daß unter den Sozialisten selbst eine tiefgehende Umwandlung der Ideen stattfindet, ähnlich derjenigen, die ich zu Beginn dieses Vertrags skizziert habe, als ich von den Wissenschaften im allgemeinen sprach. Und die Unsicherheit der Sozialisten in Hinsicht auf die Organisation der Gesellschaft, die sie herbeiwünschen, lahmt bis zu einem gewissen Grad ihre Energie. In seinen Anfängen, in den 4oer Jahren, war der Sozialismus als Kommunismus aufgetreten, als eine und unteilbare Republik, als Diktatur im ökonomischen Bereich und als staatlicher Jakobinismus. Das war das Ideal der Epoche. Ob religiöser Mensch oder Freidenker, der damalige Sozialist war bereit, sich einer gleichgültig wie starken Regierung zu unterwerfen, sogar dem Kaiserreich, vorausgesetzt, daß diese Regierung die ökonomischen Verhältnisse zum Vorteil der Arbeiter umgestaltete. Eine tiefgehende Revolution hat seither stattgefunden, insbesondere bei den lateinischen Völkern und in England. Staatlicher wie theokratischer Kommunismus erfüllen den Arbeiter mit Widerwillen. Und dieser Widerwille ließ in der Internationalen eine neue Vorstellung- oder Doktrin entstehen, den Kollektivismus. Diese Doktrin bedeutete anfangs: Kollektivbesitz der Arbeitsgeräte (ohne das für das Leben Notwendige einzubegreifen) und das Recht jeder Gruppe, für ihre Mitglieder einen ihr genehmen kommunistischen oder individuellen Modus der Entlohnung anzunehmen. Indessen hat sich dieses System nach und nach in eine Art Kompromiß zwischen Kommunismus und individueller Lohnzahlung verwandelt. Heute verlangt der Kollektivist, daß alles, was der Produktion dient, Gemeineigentum werde, daß aber trotzdem individuell mit Arbeitsgutscheinen entlohnt werde, entsprechend der Anzahl Stunden, die er für die Produktion aufgewendet hat. Diese Gutscheine sollen dazu dienen, in den Sozialwarenhäusern alle Waren zum Herstellungspreis zu kaufen, der ebenfalls nach Arbeitsstunden berechnet wird:
Wenn Sie diesen Gedanken jedoch genau analysieren; werden Sie zugeben, daß sein Wesen, wie es einer unserer Freunde zusammenfaßt, auf dies hinausläuft: partieller Kommunismus hinsichtlich des Besitzes der Arbeitsgeräte und der Erziehung; Konkurrenz zwischen den Individuen und Gruppen um das Brot, die Wohnung, die Kleidung; Individualismus für die Werke des Geists und der Kunst und gesellschaftliche Hilfe für die Kinder, die Kranken, die Alten.
Mit einem Wort – Kampf um die Existenzmittel, gemildert durch Nächstenliebe. Immer noch der christliche Grundsatz: „Schlagt Wunden, um sie später zu heilen!“ Und immer noch der Inquisition die Tür geöffnet, um herauszufinden, ob Sie ein Mensch sind, der kämpfen soll, oder wohl ein Mensch, dem der Herr Staat Beistand schuldet. Der Gedanke ist, wie Sie wissen, alt. Er stammt von Robert Owen. Proudhon verkündete ihn im Jahre1848. Heute ist daraus der „wissenschaftliche Sozialismus“ geworden. Man muß indessen sagen, daß dieses System auf den Geist der Massen wenig Eindruck zu machen scheint; man möchte meinen, sie ahnten seine Nachteile, um nicht zu sagen, seine Unmöglichkeiten voraus.
Zunächst gibt die für irgendeine Arbeit aufgewendete. Zeit nicht das Maß für die gesellschaftliche Nützlichkeit der vollendeten Arbeit an, und die Werttheorien, die man von Adam Smith bis Marx allein auf die in Arbeit berechneten Produktionskosten hat basieren wollen, haben das Problem des Werts nicht zu lösen vermocht. Sobald ein Austausch stattfindet, wird der Wert eines Gegenstands zu einer komplexen Quantität, der vor allem vom Grad der Befriedigung abhängt, den er den Bedürfnissen verschafft – nicht denen des Individuums, wie das früher gewisse Nationalökonomen behaupteten, sondern denen der als Einheit aufgefaßten ganzen Gesellschaft. Der Wert ist eine soziale Tatsache. Als Ergebnis eines Tauscht hat er einen Doppelaspekt: den Aspekt der Mühe und den der Befriedigung, beide unter sozialen und nicht unter individuellen Gesichtspunkten verstanden.
Wenn man andererseits die Übelstände des jetzigen ökonomischen Systems analysiert, bemerkt man – und das weiß der Arbeiter sehr gut -, daß sie im Wesentlichen in der dem Arbeiter auf gezwungenen Notwendigkeit bestehen, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Ohne auch nur für 14 Tage genügend zum Leben zu besitzen, vom Staat der Möglichkeit beraubt, seine Kräfte zu nutzen, ohne sie an irgendwen zu verkaufen, verkauft sich der Arbeiter dem, der ihm Arbeit zu geben verspricht. Er verzichtet auf den Nutzen, den ihm seine Arbeit eintragen könnte, er überläßt dem Arbeitgeber den Löwenanteil der von ihm erzeugten Produkte, er entsagt sogar seiner Freiheit, er begibt sich des Rechts, seine Meinung über die Nützlichkeit dessen geltend zu machen, was er produzieren soll und auf welche Weise.
Die Akkumulation des Kapitals resultiert also nicht aus seiner Fähigkeit, den Mehrwert zu verzehren, sondern aus der Notwendigkeit des Arbeiters, seine Arbeitskraft zu verkaufen – er verkauft sie von vornherein in der Gewißheit, nicht alles zu erhalten, was diese Kraft produziert, in seinen Interessen geschädigt und der Untergebene des Käufers zu werden. Wäre dies nicht so, hätte der Kapitalist sie niemals zu kaufen gesucht. Deswegen muß man dieses System, um es zu ändern, in seinem Wesen angreifen, an seiner Triebfeder: dem Kauf und Verkauf, nicht in seinen Auswirkungen: dem Kapitalismus.
Die Arbeiter haben davon wohl eine vage Ahnung, und immer häufiger hört man sie sagen, daß die Sozialrevolution nichts bewirken wird, wenn sie nicht mit der Verteilung der Produkte beginnt, wenn sie nicht allen das fürs Leben Notwendige, d.h. Wohnung, Nahrung, Kleidung, garantiert. Und man weiß, daß das mit den gewaltigen Produktionsmitteln, über die wir verfügen, durchaus möglich ist. Als Lohnarbeiter bleibt der Arbeiter Sklave dessen, dem er seine Kräfte zu verkaufen genötigt ist, sei dieser Käufer ein Privatmann oder der Staat.
Im Volksgeist – dieser Summe von Meinungen aus Tausenden menschlichen Gehirnen – spürt man auch, daß, wenn der Staat an die Stelle des Arbeitgebers in dessen Rolle als Käufer und Aufseher der Arbeitskraft träte, dies ebenfalls eine widerwärtige Tyrannei bedeutete. Der Mann aus dem Volk denkt nicht über Abstraktionen nach, er denkt in konkreten Begriffen, und deshalb spürt er, daß die Abstraktion „Staat“ für ihn die Gestalt zahlreicher, aus der Mitte seiner Kameraden in Fabrik oder Werkstatt gewählter Beamter annehmen würde, und er weiß, woran er bei ihren Tugenden wäre: heute vortreffliche Kameraden, würden sie morgen zu unerträglichen Vorgesetzten. Er ist aber auf der Suche nach einer Gesellschaftsverfassung, die die gegenwärtigen Übel eliminiert, ohne neue zu schaffen.
Darum hat der Kollektivismus die Massen niemals begeistert, die stets zum Kommunismus zurückkehren – zu einem Kommunismus freilich, der zunehmend die Theokratie und den jakobinischen Autoritarismus der 40er Jahre abstreift und zum freien anarchistischen Kommunismus wird. Ich sage noch mehr. Indem ich mein Denken ständig auf das lenke, was wir während dieses Vierteljahrhunderts in der europäischen sozialistischen Bewegung erlebt haben, kann ich nicht umhin zu glauben, daß der moderne Sozialismus notwendigerweise einen Schritt in Richtung auf den libertären Kommunismus machen muß, und daß, solange dieser Schritt nicht getan wird, die Unsicherheit im Volksgeist, auf die ich hingewiesen habe, die Bemühungen der sozialistischen Propaganda lahmt. Der Sozialist, scheint mir, wird durch die Kraft der Umstände zu akzeptieren gezwungen, daß die materielle Garantie der Existenz aller Mitglieder der Gemeinschaft der erste Akt der Sozialrevolution sein muß. Aber er muß noch einen Schritt weiter gehen. Er muß begreifen, daß diese Garantie nicht vom Staat, sondern vollständig außerhalb des Staats und ohne seine Vermittlung gegeben werden muß.
Daß eine Gesellschaft, die alle in ihrer Mitte akkumulieren Reichtümer wieder in den Besitz genommen hat, allen als Gegenleistung für täglich 4 oder 5 Stunden effektiver Handarbeit in der Produktion ein reichliches Auskommen zusichern könne – dazu haben wir bereits einmütige Zustimmung von denen erlangt, die über diese Frage nachgedacht haben. Wenn jeder von Kindheit an erführe, woher das Brot kommt, das er ißt, das Haus, das er bewohnt, das Buch, das er studiert usw., und wenn jeder sich daran gewöhnte, die Kopfarbeit durch Handarbeit in irgendeinem manuellen Produktionszweig zu ergänzen, dann könnte die Gesellschaft diese Aufgabe leicht bewältigen, ohne sogar mit den Vereinfachungen der Produktion zu rechnen, die eine mehr oder weniger nahe Zukunft für uns bereit hält. Es genügt tatsächlich, einen Augenblick an die heute stattfindende unerhörte, unvorstellbare Verschwendung menschlicher Kräfte zu denken, um zu begreifen, was eine zivilisierte Gesellschaft mit welch geringer Menge Arbeit jedes Einzelnen produzieren könnte, welch großartige Werke sie in Angriff nehmen könnte, die heute außer Frage stehen. Unglücklicherweise hat sich die Metaphysik, die man politische Ökonomie nennt, niemals mit dem beschäftigt, was ihr Wesen ausmacht – mit der Ökonomie der Kräfte. Über die Möglichkeit des Reichtums in einer kommunistischen Gesellschaft, die wie die unsrige mit Werkzeugen ausgerüstet ist, besteht kein Zweifel mehr. Zweifel ergeben sich nur hinsichtlich der Frage, ob eine solche Gesellschaft existieren kann, ohne daß der Mensch in allen seinen Handlungen der Kontrolle des Staats unterworfen werde; ob es nicht, um zu Wohlstand zu gelangen, erforderlich ist, daß die europäischen Gesellschaften das bißchen persönliche Freiheit opfern, das sie während dieses Jahrhunderts um den Preis so vieler Opfer wiedererobert haben?
Ein Teil der Sozialisten behauptet, daß es unmöglich ist, zu einem solchen Ergebnis zu gelangen, ohne seine Freiheit auf dem Altar des Staats zu opfern. Der andere Teil, zu dem wir gehören, behauptet im Gegenteil, daß wir nur durch Abschaffung des Staats, durch Eroberung der völligen Freiheit des Individuums, durch freie Vereinbarung, absolut freie Assoziation und Föderation zum Kommunismus gelangen können – zum gemeinsamen Besitz unseres gesellschaftlichen Erbes und zur gemeinsamen Produktion aller Reichtümer.
Das ist die Frage, die in diesem Moment vor allen anderen Vorrang hat und die der Sozialismus auf die Gefahr hin entscheiden muß, alle seine Anstrengungen kompromittiert, seine ganze spätere Entwicklung paralysiert zu sehen. Analysieren wir sie also mit aller gebotenen Aufmerksamkeit. Würde jeder Sozialist sich in seiner Erinnerung die Vergangenheit vergegenwärtigen, würde er sich zweifellos der Menge von Vorurteilen erinnern, die in ihm laut wurden, als er zum ersten Mal auf den Gedanken kam, daß die Abschaffung des kapitalistischen Systems, der privaten Aneignung des Bodens und der Kapitalien zur historischen Notwendigkeit wird.
Das Gleiche geschieht heute demjenigen, der zum ersten Mal davon reden hört, daß die Abschaffung des Staats, seiner Gesetze, seines gesamten Verwaltungssystems, des Gouvernementalismus und der Zentralisation ebenfalls zur historischen Notwendigkeit wird; daß die Abschaffung des einen ohne die des anderen materiell unmöglich ist. Unsere ganze Erziehung – die, wohlgemerkt, von Kirche und Staat in beider Interesse betrieben wird – empört sich gegen diese Vorstellung. Ist diese aber deswegen weniger richtig? Und soll bei der Massenvernichtung von Vorurteilen, die wir für unsere Emanzipation bereits getätigt haben, das Vorurteil vom Staat überleben?
Ich will hier nicht auf eine schon so viele Male unternommene und wieder neu unternommene Kritik des Staats eingehen und bin gezwungen, die Analyse der historischen Rolle des Staats auf einen anderen Vortrag zu verschieben“. Einige Betrachtungen allgemeiner Art werden uns genügen. Zunächst: wenngleich der Mensch seit seinen Anfängen immer in Gesellschaften gelebt hat, ist der Staat doch lediglich eine Form des gesellschaftlichen Lebens, für unsere europäischen Gesellschaften zudem noch eine ganz neue. Der Mensch lebte schon Tausende von Jahren, ehe die ersten Staaten gebildet wurden; Griechenland und Rom existierten jahrhundertelang, ehe sie bei den mazedonischen und römischen Imperien anlangten, und für uns moderne Europäer datieren die Staaten erst aus dem 16. Jahrhundert. Damals fand der Niedergang der freien Gemeinden seinen Abschluß, und es kam zur Konstitution jener Versicherung auf Gegenseitigkeit zwischen der militärischen, richterlichen, grundherrlichen und kapitalistischen Autorität, die den Namen „Staat“ trägt.
Erst im 16. Jahrhundert wurde den Gedanken der lokalen Unabhängigkeit, der freien Vereinigung und Organisation, der auf allen Stufen stattfindenden Föderation souveräner Gruppen, die im Besitz all der Funktionen waren, die heute der Staat an sich gerissen hat, ein tödlicher Hieb versetzt. Erst in dieser Epoche setzte die Allianz zwischen der Kirche und der beginnenden Macht des Königtums jener auf das föderative Prinzip gegründeten Organisation ein Ende, die vom 9. bis zum 15. Jahrhundert bestanden hätte und in Europa die große Periode der freien Städte des Mittelalters hervorbrachte, deren Charakter Sismondi und Augustin Thierry, die in unseren Tagen leider wenig gelesen werden, so genau enträtselt hatten.
Man kennt die Mittel, durch die diese Assoziation zwischen Grundherr, Priester, Kaufmann, Richter, Soldat und König ihre Herrschaft begründete. Es geschah vermöge der Abschaffung aller freien Verträge: der Dorfgemeinschaften, der Gilden, der Gesellenverbindungen, der Bruderschaften, der mittelalterlichen Schwurbündnisse. Es geschah vermittels Konfiskation der Gemeindeländereien und Gildenschätze, kraft des absoluten und grausamen Verbots jeder Art von freier Vereinbarung zwischen Menschen; durch Massaker, Rad, Galgen, Schwert und Feuer errichteten Kirche und Staat ihre Herrschaft und konnten von nun an über zusammenhanglose Mengen von Untertanen regieren, die keine unmittelbare Verbindung untereinander mehr besaßen.
Erst seit kaum 20 Jahren beginnen wir, durch Kampf, durch Revolte einige Ansätze zum Assoziationsrecht zurückzuerobern, das während des ganzen Mittelalters von Handwerker und Ackersmann frei ausgeübt wurde. Und welche Tendenz beherrscht bereits das Leben der zivilisierten Nationen? Ist es nicht jene, sich zu vereinigen, sich zu assoziieren, um der Befriedigung der vielfältigen Bedürfnisse des zivilisierten Menschen willen tausend und abertausend freie Gesellschaften zu konstituieren? Europa wird tatsächlich übersät mit freiwilligen Assoziationen für Studium, Unterricht, Industrie und Handel, für Wissenschaft, Kunst und Literatur, für die Ausbeutung und für den Widerstand gegen die Ausbeutung, für das Vergnügen und für die ernste Arbeit, für den Genuß und für die Entsagung, für alles, was das Leben des tätigen und denkenden Wesens ausmacht. Wir sehen diese Gesellschaften in allen Ecken und Winkeln eines jeden Bereichs entstehen: im politischen, wirtschaftlichen, künstlerischen und intellektuellen Bereich. Die einen haben bloß ein Leben so lang wie eine Rose, andere behaupten sich schon seit Jahrzehnten, und indem sie die Unabhängigkeit jeder Gruppe, jedes Zirkels, jeder Branche oder Sektion behaupten, suchen alle sich zu föderieren, zu vereinigen, über die Grenzen hinweg wie innerhalb jeder Nation, um über das ganze Leben des Zivilisierten ein Netz zu spannen, dessen Maschen sich kreuzen und verwickeln. Ihre Zahl beläuft sich bereits auf Zehntausende, sie umfassen Millionen Anhänger – doch ist es nicht erst 50 Jahre her, daß Staat und Kirche anfingen, einige – nur einige – von ihnen zu tolerieren?
Allenthalben greifen diese Gesellschaften schon in die Funktionen des Staats ein und versuchen, das Handeln des zentralisierten Staats durch die freie Betätigung Freiwilliger zu ersetzen. In England entstehen Versicherungsgesellschaften gegen Diebstahl, Gesellschaften Freiwilliger zur Landesverteidigung18, Gesellschaften zur Küstenverteidigung, die der Staat offenbar seiner Aufsicht zu unterstellen versucht und aus denen er Herrschaftsinstrumente machen will, deren Grundgedanke es aber war, sich ohne den Staat zu behelfen. Gäbe es Kirche und Staat nicht, die freien Gesellschaften hätten bereits das ungeheure Gebiet der Erziehung für die freiwillige Arbeit erobert. Und trotz aller Schwierigkeiten beginnen sie, in diesen Bereich einzudringen, und üben in ihm bereits spürbaren Einfluß aus.
Wenn man die Fortschritte konstatiert, die .in dieser Richtung trotz des Staats und gegen ihn erzielt werden, der seine Vorherrschaft, die er in den drei letzten Jahrhunderten errungen hat, zu wahren bemüht ist; wenn man sieht, wie die freiwilligen Gesellschaften in alles eindringen und in ihrer Entwicklung nur durch die Gewalt .des Staats aufgehalten werden, so muß man darin eine machtvolle Tendenz, eine latente Kraft der modernen Gesellschaft erkennen. Und mit Recht stellt man sich die Frage: „Wenn es in 5 ,10 oder 20 Jahren den aufständischen Arbeitern gelingt, die besagte Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit zwischen Eigentümern, Bankiers, Priestern, Richtern und Soldaten zu zerbrechen; wenn das Volk, für einige Monate Herr seiner Geschicke wird und seine Hand auf die Reichtümer legt, die es geschaffen hat und die ihm zu Recht gehören, wird es dann wirklich diesen Polypen, den Staat,“ von neuem wiederherzustellen versuchen? Oder, wird es nicht vielmehr versuchen, sich vom Einfachen bis zum Gesamten in gegenseitiger Vereinbarung und nach den unendlich verschiedenen und immer wechselnden Bedürfnissen jedes Orts zu organisieren, um sich diese Reichtümer als Eigentum zu sichern, einander gegenseitig das Leben zu garantieren und das. zu produzieren, was für das Leben als notwendig erachtet wird? Wird es der dominierenden Tendenz des Jahrhunderts folgen oder lieber gegen diese Tendenz angehen und die zerstörte Autorität wiederherzustellen versuchen?
Der gebildete Mensch – „der Zivilisierte“, wie Fourier voll Verachtung sagte – schaudert bei dem Gedanken, die Gesellschaft könnte eines Tages ohne Richter, ohne Polizisten, ohne Kerkermeister sein. Aber ganz offen – haben Sie diese Leute wirklich so nötig, wie alte Schmöker es Ihnen einreden? Schmöker, von Gelehrten verfaßt, die, wie man ja weiß, generell sich ganz gut in dem auskennen, was andere Gelehrte vor ihnen geschrieben haben, die in ihrer Mehrzahl das Volk und dessen Alltagsleben jedoch völlig ignorieren.
Wenn wir nicht bloß in den von Polizisten wimmelnden Straßen von Paris spazieren gehen können, ohne Angst haben zu müssen, sondern auch auf Landstraßen, auf denen man nur selten einem Passanten begegnet – verdanken wir diese Sicherheit etwa der Polizei oder nicht vielmehr der Tatsache, daß da gar keine Leute sind, die uns totschlagen oder ausrauben wollen? Ich spreche selbstredend nicht von demjenigen, der Millionen mit sich herumträgt. Dieser – ein kürzlicher Vorfall lehrt uns das – ist schnell ausgeraubt, mit Vorliebe an Orten, wo es ebenso viele Polizisten wie Laternen gibt. Nein, ich spreche von dem Menschen, der für sein Leben und nicht für seine Börse fürchtet, die mit unrecht erworbenem Geld gefüllt ist. Sind seine Ängste begründet? Hat nicht übrigens ganz kürzlich die Erfahrung gelehrt, daß Jack the Ripper seine Heldentaten unter den Augen der Londoner Polizei – und sie ist wahrhaftig eine der aktivsten – verübte und seine Mordtaten erst einstellte, als sich die Bevölkerung von Whitechapel selbst auf Jagd nach ihm begab? Und glauben Sie, daß die Richter, Kerkermeister und Gendarmen es wirklich verhindern, daß sich in unseren alltäglichen Beziehungen zu unseren Mitbürgern antisoziale Handlungen vermehren? Der stets grimmige, oft gesetzeswütige Richter, der Denunziant, der Spitzel, der Polizist, all diese Leute von zweideutigem Ruf, die rund um die wie zum Hohn Paläste der Gerechtigkeit genannten Gebäude ihr erbärmliches Leben fristen, gießen sie nicht einen großen Schwall Demoralisierung über die Gesellschaft? Lesen Sie die Prozeßakten, werfen Sie einen Blick hinter die Kulissen, stoßen Sie mit Ihrer Analyse weit hinter die äußere Fassade vor, und Sie werden sich angeekelt abwenden. Ist das Gefängnis, das im Menschen jeden Willen und alle Charakterstärke tötet, das in seinen Mauern mehr Verbrechen einschließt, als man an irgendeinem anderen Punkt des Erdballs antrifft, nicht von jeher die Hochschule des Verbrechens gewesen? Ist der Gerichtshof nicht eine Schule der Grausamkeit? Usw.
Wenn wir die Abschaffung des Staats und aller seiner Organe fordern, sagt man uns, daß wir eine Gesellschaft erträumen, die aus besseren Menschen bestünde, als es sie in Wirklichkeit gibt. Nein, tausendmal nein! Alles, was wir fordern, ist, daß man die Menschen durch derartige Institutionen nicht schlechter macht, als sie sind! Eines Tages wollte Ihering, ein deutscher Rechtsgelehrter von großem Ruf, die wissenschaftliche Arbeit seines Lebens zusammenfassen und eine Abhandlung schreiben, in der er sich, vornahm, die Faktoren zu analysieren, die in der Gesellschaft das gesellschaftliche Leben bestimmen. Der Zweck im Recht ist der Titel dieses Werks, das wohlverdientes Ansehen genießt. Er machte einen Arbeitsplan für seine Abhandlung und diskutierte mit großer Gelehrsamkeit die beiden Zwangsfaktoren: den Lohn und die übrigen in Gesetze gefaßten Formen des Zwangs. Am Ende seines Werks widmete er zwei Paragraphen den beiden nicht zwangshaften Faktoren, denen er, wie es bei einem Juristen recht und billig ist, eine bloß mittelmäßige Bedeutung zumaß: dem Pflichtgefühl und dem Gefühl der Sympathie.
Doch was geschah? In dem Maße, wie er die Zwangsfaktoren analysierte, stellte er ihre Unzulänglichkeit fest. Er widmete ihnen einen ganzen Band gedrängter Analyse, und das Resultat reduzierte ihre Bedeutung. Als er die beiden letzten Paragraphen begann und über die nicht zwangshaften Faktoren der Gesellschaft zu reflektieren sich anschickte, gewahrte er ihre ungeheure, überragende Bedeutung; er sah sich gezwungen, einen zweiten Band – doppelt so dick wie der erste – über diese beiden Faktoren, die freiwillige Beschränkung und die gegenseitige Hilfe, zu schreiben, und dennoch analysierte er nur einen winzigen Teil der letzteren – den aus persönlichen Sympathien resultierenden Teil – und berührte die aus den gesellschaftlichen Institutionen resultierende freie Vereinbarung so gut wie gar nicht. Hören Sie also auf, die in der Schule gelernten Formeln zu repetieren, denken Sie an diese Ideen, und es wird Ihnen ebenso ergehen wie Ihering: Sie werden die, verglichen mit den Faktoren der freiwilligen Vereinbarung, minimale Bedeutung des Zwangs in der Gesellschaft erkennen.
Wenn Sie andererseits, einem sehr alten Rat Benthams folgend, sich damit beschäftigen, über die verderblichen direkten und indirekten Folgen des gesetzlichen Zwangs nachzudenken, so werden Sie, wie Tolstoj und wie wir, Widerwillen gegen die Anwendung von Gewalt hegen und dahin gelangen, sich zu sagen, daß die Gesellschaft tausend andere weit wirksamere Mittel besitzt, antisoziale Handlungen zu verhindern. Wenn die Gesellschaft sie heute vernachlässigt, dann weil die Erziehung durch Kirche und Staat und weil Feigheit und Denkfaulheit sie hindern, in diesen Fragen klar zu sehen. Hat ein Kind einen dummen Streich begangen, ist es sehr bequem, es zu bestrafen: jede Diskussion ist damit abgeschnitten! Es ist so leicht, nicht wahr, einen Menschen zu guillotinieren? Besonders wenn man einen Deibler fürs ganze Jahr bezahlt hat. Das entbindet uns vom Nachdenken über die Ursachen der Verbrechen.
Man sagt häufig, daß die Anarchisten in einer Welt von Zukunftsträumen leben und die gegenwärtigen Verhältnisse nicht sehen. Vielleicht sehen wir sie nur zu gut in ihren wahren Farben und legen deshalb die Axt an. diesen Wald der uns belastenden autoritären Vorurteile. Weit davon entfernt, in einer Welt von Hirngespinsten zu leben und die Menschen für besser zu halten, als sie sind, sehen wir sie so, wie sie sind, und behaupten darum, daß der beste aller Menschen durch die Ausübung von Autorität entschieden verdorben wird und daß die Theorie vom „Gleichgewicht der Kräfte“ und von der „Kontrolle der Autoritäten“ eine heuchlerische Formel ist, die die Inhaber der Macht fabriziert haben, um das „souveräne Volk“, das sie verachten, glauben zu machen, es regiere selbst. Weil wir die Menschen kennen, sagen wir jenen, die sich einbilden, ohne sie würden die Menschen einander auffressen: Ihr denkt wie jener König, der, als er über die Grenze abgeschoben wurde, ausrief: „Wie wird es meinen armen Untertanen ohne mich ergehen!“
Wären doch die Menschen nur jene höheren Wesen, von denen uns die Utopisten der Autorität zu erzählen belieben, könnten wir doch die Augen vor der Wirklichkeit verschließen und wie sie in einer Welt von Illusionen über die Überlegenheit derjenigen leben, die sich zur Macht berufen glauben, vielleicht handelten wir dann wie sie und glaubten an die Tugenden der Herrschenden.
Was machte Sklaverei gefährlich, wenn tugendhafte Herren sie betrieben? Erinnern Sie sich noch an die Geschichte von dem Sklavenhalter, die vor rund 30 Jahren erzählt wurde? Hieß es nicht, daß er väterlich für seine Sklaven sorgte? Er allein vermochte es zu verhindern, daß diese faulen, gleichgültigen, unvorsichtigen Kinder verhungerten. Und er hätte seine Sklaven mit der Last der Arbeit erdrücken oder sie durch Schläge verstümmeln sollen? Wie hätte er das tun können, da es doch in seinem unmittelbaren Interesse lag, sie gut zu ernähren, gut für sie zu sorgen, sie wie seine Kinder zu behandeln! Und wachte nicht überdies „das Gesetz“, um die geringsten Verirrungen eines Herrn, der seine Pflichten vergäße, zu bestrafen. Oh, wie oft hat man uns das erzählt! Aber in Wirklichkeit war es so, daß Darwin, nachdem er von seiner Reise nach Brasilien zurückgekommen war, sein Leben lang die Angstschreie verstümmelter 'Sklaven quälten und das Schluchzen stöhnender Frauen, deren Finger Daumenschrauben zerquetscht hatten.
Wenn die an der Macht befindlichen Herren wirklich solche intelligenten und der Allgemeinheit ergebenen Geschöpfe wären, wie es die Lobredner der Autorität uns einzureden belieben, welch artige Regierungs- und Schutzherrenutopie könnte man doch errichten! Der Arbeitgeber wäre niemals der Tyrann des Arbeiters, sondern sein Vater. Die Fabrik wäre ein Paradies, und niemals wäre die arbeitende Bevölkerung dem physischen Verfall geweiht. Der Staat vergiftete seine Arbeiter nicht durch die Fabrikation von Streichhölzern mit weißem Phosphor, der so leicht durch roten Phosphor zu ersetzen wäre. Der Richter besäße nicht die Grausamkeit, die Frau und die Kinder des von ihm ins Gefängnis Gesteckten zu verdammen, jahrelang Hunger und Elend zu erleiden und eines Tages an Blutarmut zu sterben. Niemals forderte ein Staatsanwalt den Kopf eines Angeklagten, einzig um des Vergnügens willen, seine Rednergabe ins rechte Licht zu setzen, und nirgends fände sich ein Gefängniswärter oder ein Deibler, die Urteile zu vollstrecken, die selbst zu vollstrecken die Richter nicht den Mut haben. Was sage ich! Es gäbe nicht genügend Plutarchs, von den Tugenden der Deputierten zu künden, die einen Horror vor Bankanweisungen haben! Biribi würde zu einer sittenstrengen Pflanzschule der Tugenden, und die stehenden Heere gerieten dem Bürger zur Freude, weil die Soldaten das Gewehr nur ergriffen, um vor den guten Kindern zu paradieren und auf der Spitze ihrer Bajonette Blumensträuße zu tragen!
Oh, schöne Utopie, oh, schöner Weihnachtstraum, den man träumt, sobald man annimmt, daß die Herrschenden eine höhere Kaste darstellen, die von den Schwächen der einfachen Sterblichen weitgehend oder völlig frei ist! Es genügte dann, daß die einen die anderen hierarchisch kontrollierten, daß man den verschiedenen Verwaltern erlaubte, allenfalls Schriftstücke untereinander zu wechseln, wenn der Wind auf einer Nationalstraße einen Baum umwirft. Oder man läßt sie notfalls von den gleichen Massen der Sterblichen beurteilen, die, obschon in ihren gegenseitigen Beziehungen mit allen Schwächen behaftet, zur Weisheit selbst werden, wenn es sich darum handelt, ihre Herren zu wählen. Die ganze von den Herrschenden selbst ersonnene Wissenschaft von der Herrschaft ist voll von derartigen Utopien. Aber wir kennen die Menschen zu gut, um dergleichen zu träumen. Wir haben nicht zweierlei Gewicht und zweierlei Maß für die Tugenden der Beherrschten und die der Herrschenden; wir wissen, daß wir selbst nicht ohne Fehler sind und daß die besten unter uns durch Machtausübung schnell korrumpiert wären. Wir nehmen die Menschen als das, was sie sind, und darum hassen wir die Herrschaft von Menschen über Menschen und arbeiten, vielleicht nicht genug, mit allen unseren Kräften daran, ihr ein Ende zu setzen.
Aber es genügt nicht, zu zerstören. Man muß auch aufzubauen wissen, und weil man das nicht genügend bedacht hatte, wurde das Volk in all seinen Revolutionen stets betrogen. Nachdem es zerstört hatte, überließ es die Sorge des Wiederaufbaus den Bürgern, die ihrerseits eine mehr oder minder klare Vorstellung von dem besaßen, was sie verwirklichen wollten, und die dann die Autorität zu ihren Gunsten wiedererrichteten.
Wenn der Anarchismus deswegen daraufhin arbeitet, die Autorität in sämtlichen Aspekten zu vernichten, und die Abschaffung der Gesetze und der Mechanismen zu ihrer Durchsetzung fordert, wenn er jede hierarchische Organisation ablehnt und die freie Vereinbarung predigt, dann arbeitet er gleichzeitig an der Erhaltung und Ausbreitung des wertvollen Kerns der geselligen Bräuche, ohne die keine menschliche oder tierische Gesellschaft zu existieren vermag. Anstatt zu verlangen, daß Einzelne diese geselligen Bräuche kraft ihrer Autorität bewahren, fordert er, daß alle an ihrer Erhaltung mitwirken, indem sie sie ständig praktizieren. Die kommunistischen Institutionen und Sitten drängen sich der Gesellschaft nicht nur zur Lösung der ökonomischen Schwierigkeiten auf, sondern auch zur Erhaltung und Entwicklung der geselligen Bräuche, die die Menschen miteinander in Kontakt bringen, indem sie unter ihnen Beziehungen herstellen, die aus dem Interesse des Einzelnen das Interesse aller machen und sie vereinigen, anstatt sie zu trennen.
Wenn wir uns fragen, durch welche Mittel ein gewisses moralisches Niveau in einer menschlichen oder tierischen Gesellschaft tatsächlich aufrechterhalten werden kann, so entdecken wir nur drei: die Unterdrückung der antisozialen Handlungen, die Morallehre und die wirkliche Praxis der gegenseitigen Hilfe. Und da alle drei praktiziert worden sind, können wir sie nach ihren Leistungen beurteilen. Die Ohnmacht der Unterdrückung wird durch die Unordnung in der bestehenden Gesellschaft hinlänglich bewiesen, und eben deswegen halten wir die Revolution für ebenso unausbleiblich wie notwendig. Im ökonomischen Sektor hat uns der Zwang in ein industrielles Bagno geführt, im politischen Sektor zum Staat, d.h. zur Zerstörung jeglicher Bindungen, die ehemals unter Bürgern bestanden (die Jakobiner von 1793 zerbrachen selbst jene, die dem monarchischen Staat widerstanden hatten), damit die Nation eine zusammenhanglose, in sämtlichen Beziehungen einer zentralen Autorität unterworfene Masse von Untertanen werde.
Das Zwangsregime hat nicht bloß die Fehler des gegenwärtigen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Systems geschaffen, es hat sich vielmehr als völlig unfähig bewiesen, das moralische Niveau der Gesellschaften zu heben; es hat nicht einmal das erreichte Niveau zu bewahren gewußt. Denn, wenn eine gütige Fee vor aller Augen die Verbrechen enthüllen könnte, die an jedem Tag, in jedem Moment in der zivilisierten Gesellschaft unter dem Deckmantel des Unbekannten, der höchsten Protektion und sogar des Gesetzes begangen werden, würde die Gesellschaft erbeben. Die größten politischen Verbrechen, wie der 2. Dezember oder die Blutwoche, sind niemals gesühnt worden, und wie der Dichter sagte: „man hängt die kleinen Ketzer zur Freude der großen“. Mehr noch! Selbst wenn die Autorität es auf sich nimmt, die Gesellschaft vermittels der „Bestrafung der Verbrecher“ sittlich zu veredeln, so akkumuliert sie lediglich neue Verbrechen! Die seit Jahrhunderten praktizierte Unterdrückung ist derart mißlungen, daß wir uns in einer Sackgasse befinden, aus der wir nur herausgelangen, wenn wir Feuer und Axt an die Institutionen unserer autoritären Vergangenheit legen.
Fern sei uns der Gedanke, die Bedeutung des zweiten Faktors, der Morallehre, zu verkennen, insbesondere derjenigen, die sich unbewußt in der Gesellschaft fortpflanzt und aus der Gesamtheit der Ideen und Werturteile resultiert, die jeder von uns über die Taten und Ereignisse des Alltags äußert. Aber diese Kraft kann auf die Gesellschaft nur unter einer Bedingung einwirken: daß sie nämlich nicht von einer anderen Summe unmoralischer, aus der Praxis der Institutionen resultierender Lehren contrecarriert wird. In diesem Fall ist ihr Einfluß nichtig oder gar unheilvoll. Nehmen wir die christliche Moral: welche andere Lehre hätte die Geister stärker ergreifen können als jene, die im Namen eines gekreuzigten Gottes sprach und mit ihrer ganzen mystischen Kraft, der ganzen Poesie des Martyriums, der ganzen Erhabenheit der Vergebung für die Peiniger wirken konnte? Und dennoch war die Institution stärker als die Religion: das Christentum – die Empörung gegen das kaiserliche Rom – wurde bald durch dasselbe Rom besiegt: es nahm dessen Maximen, Sitten und Sprache an. Die christliche Kirche wurde römisches Recht und als solches, verbündet mit dem Staat, in der Geschichte zum erbittertsten Feind der halbkommunistischen Institutionen, auf die sich das Christentum in seinen Anfängen berufen hatte. Können wir auch nur einen Augenblick glauben, daß die von Zirkularen der Minister des Unterrichtswesens patronisierte Morallehre die schöpferische Kraft besäße, die das Christentum nicht besessen hat? Und was kann die Lehre vom wahrhaft sozialen Menschen gegen die aus antisozialen Sitten abgeleiteten Lehren ausrichten?
Bleibt das dritte Element – nämlich die Institution, die auf eine Weise wirkt, daß die sozialen Handlungen in einen Zustand der Gewohnheit und des Instinkts übersetzt werden. Sie – die Geschichte beweist es uns – hat nie ihr Ziel verfehlt, nie als zweischneidige „Waffe gewirkt, und ist sie schwach geworden, dann nur, weil sie kraft der Gewohnheit, die zur Unbeweglichkeit und Kristallisierung drängt und selbst unangreifbare Religion werden möchte, das Individuum absorbierte, es um jeglichen Handlungsspielraum brachte und es dergestalt zwang, gegen das, was seinen Fortschritt hemmte, zu revoltieren.
Alles, was in der Vergangenheit ein Element des Fortschritts oder ein Instrument zur moralischen und intellektuellen Vervollkommnung der menschlichen Rasse gewesen ist, verdanken wir tatsächlich der Praxis der gegenseitigen Hilfe, den die Gleichheit der Menschen bestätigenden Sitten, die sie veranlaßt haben, sich zu verbünden, sich zum Zweck des Produzierens und Konsumierens zu assoziieren, Verteidigungsbündnisse miteinander zu schließen, sich zu föderieren und zur Schlichtung ihrer Streitigkeiten keine anderen Richter als die aus ihren eigenen Reihen gewählten Schiedsmänner zu akzeptieren.
Jedesmal, wenn diese Institutionen, die dem Volksgeist entsprangen, sobald das Volk für einen Augenblick seine Freiheit wiedergewonnen hatte, in der Geschichte eine neue Entwicklung nahmen, traten das moralische Niveau der Gesellschaft, ihr materieller Wohlstand, ihre Freiheit, ihr geistiger Fortschritt und die Behauptung der individuellen Eigentümlichkeit in eine aufsteigende Phase. Und konträr dazu, jedesmal, wenn im Lauf der Geschichte die Menschen, sei es infolge einer fremden Eroberung, sei es auf Grund der Entwicklung autoritärer Vorurteile, mehr und mehr in Herrschende und Beherrschte, in Ausbeuter und Ausgebeutete geschieden wurden, sank das moralische Niveau und der Wohlstand der großen Menge nahm ab, um Einzelne zu Reichtum gelangen zu lassen, und der Geist des Jahrhunderts verdunkelte sich. Das lehrt uns die Geschichte, und aus ihr schöpfen wir unser Vertrauen zu den Institutionen des freien Kommunismus, um das durch die Praxis der Autorität herabgedrückte moralische Niveau der Gesellschaft wiederanzuheben.
Heute leben wir Seite an Seite, ohne einander überhaupt zu kennen. An einem Wahltag treffen wir einander bei den Wahlveranstahungen; dort hören wir. das lügenhafte oder phantastische Wahlprogramm eines Kandidaten an und gehen wieder nach Hause. Der Staat hat die Aufsicht über alle Fragen von öffentlichem Interesse; er allein hat die Aufgabe, darüber zu wachen, daß wir nicht das Interesse unseres Nächsten verletzen, und gegebenenfalls den Schaden wiedergutzumachen, indem er uns bestraft.
Ihr Nachbar kann Hungers sterben oder seine Kinder totschlagen, das geht Sie nichts an, das ist Sache der Polizei. Sie kennen einander kaum, nichts verbindet Sie, alles tendiert dahin, Sie einander zu entfremden; nichts Besseres findend, bitten Sie den Allmächtigen (ehemals war es ein Gott, heute ist es der Staat), sein Mögliches zu tun, um zu verhindern, daß die antisozialen Leidenschaften ihre äußersten Grenzen erreichen.
In einer kommunistischen Gesellschaft ändert sich das notwendigerweise. Die Organisation des Kommunismus kann nicht gesetzgebenden Körperschaften anvertraut werden, mögen sie Parlamente, Stadträte oder Gemeinderäte heißen. Sie muß das Werk aller sein, ein Produkt des konstruktiven Geists der großen Masse; der Kommunismus kann nicht aufgezwungen werden, er wäre lebensunfähig ohne den täglichen Eettstreit aller. In einer Atmosphäre der Autorität erstickt er. Folglich kann er nicht existieren, ohne zwischen allen einen ständigen Kontakt für die tausend und abertausend gemeinsamen Angelegenheiten zu schaffen; er kann nicht leben, ohne ein lokales, in kleinsten Einheiten – der Straße, dem Häuserblock, dem Viertel, der Gemeinde – unabhängiges Leben zu schaffen. Er erreichte sein Ziel nicht, wenn er die Gesellschaft nicht mit einem Netz von Tausenden von Assoziationen überzöge, um die tausend Bedürfnisse des Luxus, des Studiums, des Genusses, der Vergnügungen zu befriedigen, die nicht länger lokal blieben, sondern notwendigerweise (wie es heute bereits bei den wissenschaftlichen Gesellschaften, den Radfahrvereinen, den Rettungsgesellschaften usw. der Fall) international zu werden strebten. Und die geselligen Sitten, die der Kommunismus – wäre es anfangs auch nur partiell – gezwungenermaßen ins Leben rufen muß, wären schon eine unvergleichlich mächtigere Kraft als jeder Unterdrückungsapparat, den Kern der geselligen Sitten zu erhalten und zu entwickeln.
Die gesellschaftsbildende Institution ist demnach die Form, von der wir die Entwicklung des Geists guter Vereinbarung fordern, den uns aufzuerlegen Kirche und Staat sich zur Aufgabe gemacht hatten, mit den erbärmlichen Resultaten, die wir nur zu gut kennen. Und diese Überlegungen enthalten unsere Antwort an jene, die behaupten, daß Kommunismus und Anarchismus nicht zusammengehen können. Sie sind, wie Sie sehen, die notwendige Ergänzung zueinander. Die mächtigste Entfaltung der Individualität, der individuellen Eigentümlichkeit – wie einer unserer Kameraden so richtig bemerkt hat -, kann nur stattfinden, wenn die primären Bedürfnisse nach Ernährung und Obdach befriedigt worden sind, wenn der Kampf ums Dasein gegen die Kräfte der Natur vereinfacht worden ist und, da die Zeit nicht mehr mit kleinlichen Sorgen um den täglichen Unterhalt verloren geht, die Intelligenz, der künstlerische Geschmack, der erfinderische Geist und das umfassende Genie sich nach Belieben entfalten können.
Der Kommunismus ist die beste Grundlage für den Individualismus – nicht für jenen, der den Menschen in den Krieg aller gegen alle treibt und den man bis heute als einzigen kennengelernt hat, sondern für jenen, der das volle Erblühen aller menschlichen Fähigkeiten, der die höhere Entwicklung dessen, was Eigentümliches im Menschen ist, der die größte Fruchtbarkeit der Intelligenz, des Gefühls und des Willens darstellt. Da dies unser Ideal ist, was schert es uns, daß es sich vollständig erst in einer mehr oder weniger fernen Zukunft verwirklichen läßt.
Unsere Pflicht ist es zunächst, durch Analyse der Gesellschaft die Tendenzen bloßzulegen und hervorzuheben, die ihr in einem gegebenen Augenblick ihrer Entwicklung innewohnen. Sodann diese Tendenzen in unseren Beziehungen zu all denen, die wie wir denken, in Praxis umsetzen. Und schließlich von heute an, aber vor allem während der revolutionären Periode, die Institutionen und Vorurteile zerstören, die die Entwicklung dieser Tendenzen hemmen. Das ist alles, was wir mit friedlichen und revolutionären Mitteln zu tun vermögen, und wir wissen, daß wir den Fortschritt unterstützen, wenn wir diese Tendenzen durchsetzen helfen, und daß, was immer man gegen sie unternimmt, lediglich den Marsch des Fortschritts hemmt. Indessen weist man uns häufig auf Etappen hin, die durchlaufen werden müßten, und man empfiehlt uns, auf das Erreichen der sogenannten ersten Etappe hinzuwirken, auch auf die Gefahr hin, daß wir uns am Schluß wieder auf der alten Heerstraße befinden.
Aber so denken heißt, scheint mir, den wahren Charakter des menschlichen Fortschritts verkennen und einen sehr schlecht gewählten militärischen Vergleich ziehen. Die Menschheit ist weder eine rollende Kugel noch eine Marschkolonne. Sie ist vielmehr ein Ganzes, das sich in der Vielfalt der Millionen entfaltet, aus denen sie sich zusammensetzt, und wenn man einen Vergleich will, muß man ihn eher zu den Gesetzen der Evolution ziehen als zu denen eines in Bewegung befindlichen anorganischen Körpers.
Tatsächlich ist jede Entwicklungsphase einer Gesellschaft eine Resultante aller Handlungen sämtlicher Intelligenzen, aus denen die Gesellschaft sich zusammensetzt: sie trägt den Stempel all dieser Millionen Willenskräfte. Wie daher auch die Entwicklungsphase sein mag, die das 20. Jahrhundert für uns bereit hält, sie wird das Siegel des in diesem Augenblick stattfindenden Erwachens der libertären Ideen tragen. Und die Tiefe dieser Bewegung wird von der Zahl der Köpfe abhängen, die mit den autoritären Vorurteilen gebrochen haben, von der Energie, die sie beim Angriff auf die alten Institutionen entfalten, von dem Eindruck, den sie auf die Masse hinterlassen, von der Klarheit, mit der eine befreite Gesellschaft sich in den Köpfen der Massen abzeichnet. Doch schon heute kann man sagen, daß in Frankreich das Erwachen der libertären Ideen der Gesellschaft bereits einen Impuls vermittelt hat, und daß die nächste Revolution nicht mehr eine jakobinische sein wird, wie sie es gewesen wäre, wenn sie vor 20 Jahren ausgebrochen wäre.
Da diese Ideen weder die Erfindung eines einzelnen Menschen noch einer Gruppe sind, sondern aus der Gesamtheit der Ideenbewegung der Epoche resultieren, so können wir sicher sein, daß, was auch das Ergebnis der nächsten Revolution, es weder der zentralisierende und diktatorische Kommunismus der 4oer Jahre sein wird noch der autoritäre Kollektivismus, dem sich anzuschließen man uns erst allerjüngst wieder einlud und den man jetzt bloß noch schwach zu verteidigen wagt. Die „erste Etappe“ wird also nicht – soviel ist gewiß – das sein, was man vor kaum 20 Jahren mit diesem Namen bezeichnete.
Ich habe schon angemerkt, soweit wir das durch Beobachtung beurteilen können, ist die große Frage für die gesamte sozialistische Partei in diesem Augenblick die, ihr Gesellschaftsideal mit der libertären Bewegung abzustimmen, die im Geist der Massen keimt. Das heißt zudem, ja das heißt vor allem, in ihr den Geist der Volksinitiative zu wecken, der in den vorangegangenen Revolutionen gefehlt hat. In der Tat war die Klippe, an welcher alle vergangenen Revolutionen gescheitert sind, das Fehlen der organisatorischen Initiative in den Volksmassen. Von bewunderungswürdiger Intelligenz beim Angriff, mangelte es dem Volk an Initiative bei der Konstruktion des neuen Gebäudes. Gezwungenermaßen überließ es sie der gebildeten Klasse, der Bourgeoisie, die ein Gesellschaftsideal besaß und mehr oder weniger wußte, was sie zu ihrem Vorteil aus dem Aufruhr auftauchen lassen wollte. Das Zerstören ist in einer Revolution nur ein Teil der Aufgabe des Revolutionärs. Er muß wiederaufbauen und entweder wird der Wiederaufbau nach den aus Büchern gelernten Formeln der Vergangenheit erfolgen, und man wird ihn dem Volk aufzuzwingen versuchen, oder aber nach dem Volksgeist, der spontan in jedem kleinen Dorf und in jedem Stadtzentrum sich ans Werk begeben wird, um die sozialistische Gesellschaft zu errichten. Aber dazu bedarf das Volk eines Ideals. Dazu muß es vor allem mit Initiative begabte Menschen in seiner Mitte haben.
Doch gerade die Initiative der Arbeiter und Bauern haben alle Parteien – die autoritär-sozialistische einbegriffen – wissentlich oder unwissentlich durch Parteidisziplin erstickt. Da Komitees und Zentrale alles anordneten, hatten die örtlichen Organe lediglich zu gehorchen, um nicht die Einheit der Organisation zu gefährden. Eine ganze Lehre, eine ganze falsche Geschichte und eine ganze unverständliche Wissenschaft wurden zu diesem Zweck ausgearbeitet. Die Menschen, die auf den Bruch mit dieser veralteten Taktik hinwirken, die in Individuen und Gruppen einen Sinn für Initiative zu wecken wissen und denen es gelingt, in ihren Beziehungen zueinander auf diesen Grundsätzen basierende Aktivitäten in Gang zu bringen, die begreifen, daß das Leben aus Vielfältigkeit, ja sogar ans Konflikten besteht und Einförmigkeit den Tod bedeutet, diese Menschen sind nicht für kommende Jahrhunderte tätig, sondern für die nächste Revolution.
Wir brauchen „die Gefahren und Verirrungen der Freiheit“ nicht zu befürchten. Nur wer nichts tut, begeht keine Fehler. Was jene anbelangt, die bloß zu gehorchen verstehen, so begehen sie ebenso viele und mehr Fehler als jene, die ihren Weg selber suchen, indem sie sich bemühen, zu handeln, wie Verstand und gesellschaftliche Erziehung es ihnen suggerieren. Schlecht begriffen und vor allem schlecht angewandt, können die Ideen von der Freiheit des Individuums – in einer Umwelt, in der das Solidaritätsgefühl durch die Institutionen nicht genügend betont wird – sicherlich zu Handlungen führen, die dem sozialen Empfinden der Menschheit widersprechen. Kommt das zugegebenermaßen auch vor, ist das ein Grund, das Prinzip der Freiheit über Bord zu werfen? Ist es ein Grund, die Schlußfolgerungen jener Herren zu akzeptieren, die die Zensur wiedereinrichten, um „die Ausschweifungen“ einer freien Presse zu unterbinden, und die die fortgeschrittenen Parteien guillotinieren, um Uniformität und Disziplin aufrechtzuerhalten – was letzten Endes, wie man 1793 erlebt hat, das beste Mittel ist, der Reaktion den Sieg zu sichern?
Wenn man sieht, daß antisoziale Taten im Namen der Freiheit des Individuums begangen werden, ist das einzige, was man tun kann, das Prinzip des „Jeder für sich selbst und der Staat für alle“ zurückzuweisen und den Mut zu besitzen, laut und offen zu sagen, was man von diesen Taten hält. Das kann zweifellos einen Konflikt heraufbeschwören, aber aus Konflikten besteht das ganze Leben. Und aus dem Konflikt geht eine sehr viel richtigere Beurteilung dieser Handlungen hervor als all jene Urteile, die unter dem alleinigen Einfluß der erlernten Vorstellungen hätten entstehen können. Wenn das moralische Niveau einer Gesellschaft so tief sinkt, wie es heute der Fall ist, dann erwarten wir von vornherein, daß der Aufstand gegen diese Gesellschaft bisweilen Formen annimmt, die uns erbeben lassen; doch wir verurteilen deshalb den Aufstand nicht im voraus! Ohne Zweifel stoßen uns die Köpfe ab, die aufgespießt herumspazieren; doch sind die großen und kleinen Galgen des Ancien regime und die eisernen Käfige, von denen uns Victor Hugo berichtet hat, nicht die Ursache des blutigen Spaziergangs gewesen? Hoffen wir, daß das Massaker von 35.000 Parisern im Jahre 1871 und die Beschießung von Paris durch Thiers über die französische Nation hinweggegangen sind, ohne in ihr eine allzu große Blutgier erregt zu haben. Hoffen wir, daß die Verderbtheit der großen Gauner, die in so vielen neueren Prozessen nackt zu Tage getreten ist, nicht schon das Herz der Nation angefressen hat. Ja, hoffen wir es, tragen wir dazu bei! Werden unsere Hoffnungen aber enttäuscht, werdet Ihr, junge Sozialisten, dann dem aufständischen Volk den Rücken kehren, weil die Grausamkeit der heutigen Machthaber ihre Spuren im Volksgeist hinterlassen hat? Weil der von oben herabfallende Dreck in weitem Umkreis alles beschmutzt hat?
Ganz offensichtlich kann eine derart tiefgreifende, dem Geistigen entspringende Revolution nicht auf den Bereich der Ideen beschränkt sein, sie muß vielmehr in Taten umgesetzt -werden. Wie es der junge, viel zu früh aus dem Leben gerissene Philosoph Marc Guyau in einem der schönsten Bücher der letzten 30 Jahre29 so gut ausgedrückt hat: es gibt keine Kluft zwischen dem Denken und der Tat, wenigstens nicht für jene, die nicht der modernen Sophistik verfallen sind. Die Konzeption ist bereits der Beginn der Tat. Auch haben die neuen Ideen in allen Ländern und unter allen möglichen Aspekten eine Vielzahl von Empörungsakten provoziert: zunächst die individuelle Empörung gegen Kapital und Staat, dann die kollektive Revolte, den Streik und den Arbeiteraufstand, die beide wiederum in Gedanken und Tat die Massenrevolte, die Revolution, vorbereiten. Soweit sind Sozialismus und Anarchismus nur der Entwicklung gefolgt, die noch stets beim Herannahen großer Volkserhebungen von der Vorstellungskraft bestimmt worden ist. Es wäre deshalb unrichtig, dem Anarchismus ein Monopol auf Empörungsakte zuzuschreiben. Wenn wir die Empörungsakte im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts Revue passieren lassen, sehen wir, daß sie tatsächlich von allen Parteien ausgegangen sind.
In ganz Europa sehen wir eine Vielzahl von Erhebungen der Arbeiter- und Bauernmassen. Der Streik, der früher „ein Krieg mit verschränkten Armen“ war, wird heute sehr leicht zur Revolte und nimmt gelegentlich – in den Vereinigten Staaten, in Belgien, in Andalusien – die Proportionen einer ausgedehnten Insurrektion an. Die in Revolten übergegangenen Erhebungen der Streikenden in der alten und neuen Welt zählen nach Dutzenden. Andererseits nimmt der Akt der individuellen Revolte alle möglichen Formen an, und alle fortgeschrittenen Parteien tragen dazu bei. Vor uns sehen wir die junge Rebellin, die Sozialistin Vera Zasulic, die auf einen Satrapen Alexanders II. schoß; den Sozialdemokraten Hödel und den Republikaner Nobiling, die auf den Kaiser von Deutschland feuerten; den Böttcher Otero, der auf den König von Spanien schoß, und Passanante, den frommen Anhänger Mazzinis, der den König von Italien erstechen wollte. Wir erleben die Agrarmorde in Irland und die Bombenanschläge in London, die von irischen Nationalisten organisiert worden sind, die einen Horror vor Sozialismus und Anarchismus haben. Wir erleben, wie eine ganze Generation der russischen Jugend – Sozialisten, Konstitutionalisten und Jakobiner – Alexander II. den bedingungslosen Krieg erklärt und diese Revolte gegen das absolute Regime mit 35 Erhängten und Schüben von Verbannten bezahlt. Zahlreiche Attentate werden von belgischen, englischen und amerikanischen Bergarbeitern verübt. Und erst am Ende dieser langen Reihe sehen wir Anarchisten in Spanien und in Frankreich Akte der Empörung begehen.
Und während derselben Periode nehmen die von den Regierungen organisierten großen und kleinen Massaker ihren pünktlichen Verlauf. Unter dem Beifall der europäischen Bourgeoisie läßt die Versailler Nationalversammlung 35.000 Pariser Arbeiter ermorden, die meisten von ihnen gefangengenommene besiegte Kommunarden. „Pinkertons Briganten“ – die Privatarmee der reichen amerikanischen Kapitalisten – massakrieren streikende Arbeiter nach allen Regeln der Kunst. Die Priester stacheln einen geistesschwachen Mann an, auf Louise Michel zu schießen, die – als wahre Anarchistin – ihn den Richtern zu entreißen versucht, indem sie für ihn plädiert“. Außerhalb Europas schlachtet man die kanadischen Indianer ab und stranguliert man Riel34, rottet man die Matabelen aus, beschließt man Alexandrien, zu schweigen von den als Krieg bezeichneten Schlächtereien in Madagaskar und anderwärts. Und endlich teilt man alljährlich den revoltierenden Arbeitern beider Welten Hunderte und manchmal Tausende Jahre Gefängnis zu und gibt ihre Frauen und Kinder, die man so dazu verurteilt, für die angeblichen Verbrechen ihrer Väter zu büßen, dem schwärzesten Elend preis. Man verschickt die Aufrührer nach Sibirien, nach Isola Tremiti, nach den Liparischen und Pantellarischen Inseln, nach Biribi, Noumea und Guyana, und in diesen Verbannungsorten erschießt man die Verurteilten schon beim geringsten Akt des Ungehorsams.
„Welch furchtbares Buch wäre das, in dem eine Bilanz der Leiden gezogen würde, die die Arbeiterklasse und ihre Freunde in diesem letzten Viertel des Jahrhunderts erduldet haben! Welche Menge entsetzlicher Details, die das große Publikum nicht kennt, und die Sie wie ein Alptraum bedrük-ken würden, wenn es mir einfiele, sie Ihnen heute Abend zu erzählen! Was für einen Wutanfall würde jede Seite eines solchen Märtyrerverzeichnisses der modernen Vorläufer der großen Sozialrevolution provozieren! – Nun, wir haben dieses Buch erlebt, jeder von uns hat zumindest ein paar Seiten von Blut und schwarzem Elend durchgemacht. Und angesichts dieser Leiden, dieser Hinrichtungen, von Guyana, Sibirien, Noumea und Biribi hat man den Mut, dem aufständischen Arbeiter seinen Mangel an Achtung vor dem menschlichen Leben vorzuwerfen?
Alles in unserem heutigen Leben löscht doch die Achtung vor dem Menschenleben aus! Der Richter, der zu töten befiehlt, und sein Stellvertreter, der Henker, der unter dem Hohngelächter der Entmenschten der Gesellschaft bei vollem Sonnenlicht in Madrid garrottiert oder im Nebel von Paris guillotiniert; der General, der in Bacleh massakriert, und der Zeitungskorrespondent, der sich mit allen Kräften anstrengt, den Mördern eine Gloriole ums Haupt zu winden; der Arbeitgeber, der seine Arbeiter mit Bleiweiß vergiftet, weil – so sagt er – „es soviel mehr kosten würde, wenn man das Bleiweiß durch Zink ersetzen würde“; der englische sogenannte Geograph, der eine alte Frau tötet, damit sie nicht ein feindliches Dorf mit ihren Klagerufen aufweckt, und der deutsche Geograph, der das Negermädchen, das er zur Konkubine genommen hat, wegen Untreue verhaften läßt; der Kriegsrat, der sich mit 14 Tagen Arrest für den des Mordes überführten Sträflingsaufseher von Biribi begnügt ... alles, alles, alles in der gegenwärtigen Gesellschaft lehrt die absolute Mißachtung des Menschenlebens – dieses Fleisches, das auf dem Markt so wenig kostet! Und jene, die die entwertete menschliche Ware garrottieren, morden, töten, die eine Religion aus der Maxime gemacht haben, daß man für das Gemeinwohl garrottieren, erschießen und töten muß, sie beklagen sich, daß man das menschliche Leben nicht genügend respektiert! Nein, Bürgerinnen und Bürger, solange die Gesellschaft das Jus talionis fordert, solange Religion und Gesetz, Kaserne und Gerichtshof, Gefängnis und industrielles Bagno, Presse und Schule fortfahren, die größte Mißachtung des Lebens des Individuums zu lehren, verlangen Sie nicht, daß die Rebellen gegen diese Gesellschaft es achten! Das hieße, von ihnen einen unendlich höheren Grad an Milde und Großherzigkeit verlangen als von der ganzen übrigen Gesellschaft. Wenn Sie mit uns wollen, daß die völlige Freiheit des Individuums und damit auch sein Leben respektiert werde, dann müssen Sie notwendigerweise die Herrschaft von Menschen über Menschen, egal in welcher Gestalt, ablehnen und die so lange verhöhnten Grundsätze des Anarchismus akzeptieren. Sie müssen mit uns nach Gesellschaftsformen suchen, durch die dieses Ideal am besten verwirklicht und jeglichen Sie empörenden Gewaltakten ein Ende bereitet werden kann.
Zuletzt aktualisiert am 15.9.2004