Eduard Bernstein

 

Zur Theorie und Geschichte des Socialismus


Vorwort zur ersten Ausgabe


Eduard Bernstein: Zur Theorie und Geschichte des Socialismus: Gesammelte Abhandlungen, Bd.1, Berlin 1904, S.VII-XI.
Transkription/HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Aus der Reihe von Aufsätzen und Artikeln, die ich im Laufe der Jahre veröffenthcht habe, lege ich hiermit eine Anzahl in Sammelausgabe der Öffentlichkeit vor. Ich gehe dabei von der Voraussetzung aus, dass sie genügend Material zur Anregung und Klärung enthalten, um eine derartige Neuveröffentlichung zu rechtfertigen.

Wenn diese Annahme mich zur Veranstaltung der Sammlung ermutigt hat, so kam bei der Auswahl der ihr einzureihenden Aufsätze zugleich ein mehr persönliches Motiv bestimmend hinzu. Allerhand Kritiken, die meinen in letzter Zeit veröffentlichten Arbeiten zu teil geworden sind, legten es mir nahe, durch das Mittel der Zusammenstellung von Abhandlungen aus verschiedenen Zeiten meines publicistischen Schaffens derjenigen Auffassung entgegenzutreten, die aus jenen einen jähen Bruch mit früher von mir bekaimten Anschauungen herauslas. Dass ich heute in vielen Puncten anders denke, als vor zehn oder zwanzig Jahren, kann und will ich nicht bestreiten. Wohl aber wünsche ich der Ansicht entgegenzutreten, als handle es sich bei diesem Meinungswechsel bloss um den Reflex einer Änderung in der Gemütsstimmung, hervorgerufen durch eine den alten Anschauungen ungünstige Umgebung, nicht um eine in jahrelanger Entwicklung gewonnene Überzeugung.

Allerdings muss ich denjenigen, die das erstere behaupten, soviel zugestehen, dass sich mein jetziger Entwicklungsgang nicht in gerader, ununterbrochener Linie vollzogen hat oder in solcher nachweisen lässt. Das liegt schon im Charakter der meisten Arbeiten begründet, um die es sich da handelt. Es sind keine akademischen Abhandlungen, keine rein persönlichen Auslassungen, sondern Arbeiten eines Parteimannes, geschrieben, um die Bedürfnisse, die Anschauungen, die Bestrebungen einer politischen Kampfpartei zu rechtfertigen. Da wird sich jeder Schriftsteller, solange er in allen wesentlichen Puncten sich mit der Partei einig weiss, nach Möglichkeit der Heraushebung derjenigen Puncte enthalten, hinsichtlich deren er von der Mehrheit seiner Parteigenossen etwa abweicht. Es ist eine noch ungelöste Frage, wie weit der Parteischriftsteller seine persönliche Meinung zurückdrängen soll, wo sie mit der von der Partei vertretenen Anschauung nicht übereinstimmt. Aber innerhalb bestimmter Grenzen wird sich jeder, der sozusagen ex cathedra factionis schreibt und die Vorteile solcher Officialität geniesst, in dieser Hinsicht Zurückhaltung auferlegen. Dies und der Umstand, dass es sich für mich niemals um eine fundamental neue Lehre gehandelt hat, sondern stets, wie auch heute noch, nur um abweichende Anwendung der anerkannten Grundgedanken des Socialismus, dürften es zur Genüge erklären, warum die Aufsätze nicht auf den ersten Blick die folgerichtige Durcharbeitung dieser abweichenden Anwendung erkennen lassen. Bei genauerer Prüfung wird sich aber meines Erachtens doch zeigen, wie dieselbe stufenweise immer stärker durchbricht.

Die Abhandlungen reichen bis in das Jahr 1890 zurück – das letzte Jahr des Socialistengesetzes. Weiter zurückzugehen, schien mir nicht zweckmässig. Nicht, dass ich eine Scheu empfände, heute Arbeiten aus jener Zeit zu publicieren, wo die deutsche Socialdemokratie unter einem sie ächtenden Ausnahmegesetz stand und mir ein Teil der Aufgabe zufiel, der Stimme der unterdrückten Partei Ausdruck zu leihen. Ich habe das so schlecht und recht gethan, als ich es konnte, und neben manchem, was ich nicht ein zweites Mal schreiben würde, giebt es da vieles, was ich unter gleichen Verhältnissen gerade so wiederholen würde – was ich noch heute unterschreibe, und manches, was meines Erachtens auch unter den heutigen Verhältnissen noch passt. Indessen, wenn aus jener Zeit des Kampfes gegen das Ausnahmegesetz reproduciert werden soll, so gehört das Schlechte zu dem Rechten, und dazu ist in dieser Sammlung nicht Raum genug. Darum habe ich in sie nur einige Aufsätze aus dem Jahre 1890 aufgenommen, wo die Socialdemokratie sich schon wieder einer gewissen Bewegungsfreiheit erfreute. In jenen Tagen verfasst, wo das Ausnahmegesetz in den letzten Zügen lag, gehören sie der Conception nach schon in die Epoche dessen, was sich damals als „neuer Curs“ ankündigte.

Im übrigen muss die Auswahl für sich selbst sprechen. Ich habe mich bei ihr in erster Reihe von dem sachlichen Inhalt der Aufsätze bestimmen lassen und danach getrachtet, die Sammlung so vielseitig, wie nur möglich, zu gestalten. Darum habe ich es auch für angebracht gehalten, hier und da Kürzungen vorzunehmen. Ferner schien es mir nur recht und billig, aus polemischen Artikeln alle Stellen oder Wendungen fortzulassen, die mit dem behandelten Gegenstand keinen notwendigen Zusammenhang haben, sondern bloss der Person des Gegners galten und hierin das Mass des objectiv Gerechtfertigten überschritten. Es ist zu allen Zeiten mein Bestreben gewesen, in der Polemik Loyalität walten zu lassen. Aber in der Hitze des Kampfes fällt doch manches Wort, das vor der ruhigen Prüfung nicht standhält, und das Bedürfnis des Tages oder Voreingenommenheiten irgend welcher Art verleiten zu manchen Ausfällen oder Unterstellungen, die wir nachträglich als unangemessen erkennen. Warum solche Ausfälle, selbst wenn sie subjectiv noch so entschuldbar waren, das Recht haben sollen, den Tag zu überleben, ist absolut nicht einzusehen. Anders mit Angriffen, die ich zwar gleichfalls heute nicht mehr anerkenne, aber nur deshalb nicht, weil ich die in ihnen zum Ausdruck kommende sachliche Anschauung nicht mehr hege oder nicht mehr in der gleichen Schärfe vertrete. An ihnen zu ändern habe ich nicht für richtig gehalten, sondern mich darauf beschränkt, dort, wo es sich um unwesentliche Dinge handelt, sie einfach fortzulassen, wo dagegen wichtigere Fragen in Betracht kommen, in Noten oder Nachträgen darzulegen, bis wie weit und aus welchen Gründen ich die frühere Ansicht aufgegeben habe. Nach diesem Princip bin ich auch unpolemischen Ausführungen gegenüber verfahren, von denen das Vorhergesagte gilt.

Die Aufsätze sind in drei Gruppen eingeteilt. Der ersten sind alle Artikel zugewiesen, in denen die Verteidigung der herkömmlichen Auffassung der marxistischen Lehre überwiegt. Die zweite besteht in jenen Artikeln, die ich in den Jahren 1896 bis 1898 unter dem Sammeltitel: Probleme des Socialismus veröffentlicht habe und die durch diesen Titel schon als Versuche einer Kritik der herkömmlichen Interpretation gekennzeichnet sind. Die dritte Gruppe bilden jene Artikel, die ich nach dem Erscheinen meiner Schrift: Die Voraussetzungen des Socialismus – Frühjahr 1899 – zur Verteidigung der darin entwickelten Anschauungen veröffentlicht habe. Auch innerhalb dieser Gruppen habe ich die Artikel möglichst nach der Zeitfolge geordnet. Doch habe ich auch gelegentlich von diesem Princip Abstand genommen, um dem Gegenstand nach Zusammengehöriges aneinanderzureihen.

Soviel über den Zweck dieser Sammlung und das leitende Princip, nach dem die Revision der in sie aufgenommenen Arbeiten erfolgte. Auf die in ihr zum Ausdruck kommende Auffassungsweise gehe ich hier nicht ein. Davon wird genug in den Artikeln selbst gesprochen. Es sind socialistische Abhandlungen, die in einzelnen Puncten unorthodox sind, in anderen aber sich durchaus im alten Ideenkreis der Socialdemokratie bewegen. Wenn sie nur zu einem Teil der Verteidigung der socialistischen Lehre gegen deren Bekämpfer, sonst aber ihrer Nachprüfung gewidmet sind, so wird es wohl kaum einen Socialisten geben, der das Buch bloss deshalb geringer einschätzte als eine ausschliesslich der Propaganda gewidmete Schrift. Der Socialismus ist als Theorie nichts Abgeschlossenes und kann es nicht sein, weil das Object seiner Analyse selbst etwas Unabgeschlossenes, in beständiger Entwickelung Begriffenes ist. Der Verlauf dieser Entwickelung stellt ihn vor immer neue Probleme, eröffnet ihm immer neue Prospecte. Da verlieren die alten Schlagworte viel von ihrem Sinn, so mancher Titel deckt sich nicht mehr mit dem Inhalt, die überlieferte Schematik reicht für die veränderten Verhältnisse nicht mehr aus. Früher oder später, willig oder unwillig sieht sich so ein jeder genötigt, vor seiner Vernunft Abrechnung zu halten zwischen der neuen Wirklichkeit und den entsprechenden Sätzen der alten Theorie. Solche Nachprüfung ist, wenn sie von den Beteiligten selbst vorgenommen wird, ein Zeichen innerer Kraft, und keine vorwärtsstrebende und wachsende Partei kann sich ihr entziehen. In dieser Auffassung habe ich von den Debatten, welche im vorigen Jahre auf dem Parteicongress der deutschen Socialdemokratie zu Hannover geführt wurden, in einer englischen Wochenschrift bemerkt, sie bedeuteten für die deutsche Socialdemokratie „höchstens in dem Sinne eine Krisis, wie jede Übergangsphase in dem Entwickelungsgang eines lebenden Organismus von zeitweiliger Nervosität oder Reizbarkeit begleitet ist“, und als Signale einer solchen Übergangsphase wurden die selbstkritischen Aufsätze dieser Sammlung verfasst und wollen sie verstanden sein.

London, im November 1900

Eduard Bernstein


Zuletzt aktualisiert am 29.1.2009