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Übersetzung Paul Matticks von What is the IWW? A candid statement of its Principles, Objects and Methods, Chicago, Industrial Workers of the World, ca. 1922. Vgl. das englischsprachige Original. Abgedruckt in: Kampfruf, Organ der Allgemeinen Arbeiter-Union (Revolutionäre Betriebsorganisation), 1928, Jahrgang 9, Nr. 43, S. 2-3, 44, S. 2-3, 47, S. 2-3, 48, S. 2-3, 49, S. 2.
Zwischenüberschriften und Hervorhebungen haben wir an die Englische Vorlage angepasst.
HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.
Nahezu jede Person in Amerika hörte oder las schon von der Organisation, die sich „The Industrial Workers of the World“ (die Industriearbeiter der Welt) oder kurz gesagt, die I.W.W. nennt. Jedoch nur wenige wissen, was sie in Wirklichkeit ist und zu erreichen versucht. Um ihren Namen entstanden eine enorme Anzahl falscher Auffassungen. Die Landespresse gab der I.W.W. eine Stellung in der öffentlichen Meinung, welche sehr wenig den Tatsachen entspricht. Aus diesem Grunde sind wir sicher, daß wohl jeder an einer autoritativen Darlegung der Prinzipien, Ziele und Methoden dieser Organisation ebenso interessiert ist, wie an irgend welchen anderen angemessenen Tatsachen.
Nicht selten findet man beim allgemeinen Publikum die Ansicht, die I.W.W. sei eine Geheimorganisation, welche sich hauptsächlich aus Fremden zusammensetzt; eine Organisation, die im Dunkel Verschwörungen anzettelt, Blut vergießt, Grausamkeiten verübt, Leben und Eigentum zerstört und als letztes Ziel die Regierung der Vereinigten Staaten stürzen will. Dieses Land hat große und machtvolle Organisationen, deren Hauptaufgabe es ist, falsche Gerüchte über die I.W.W. zu erzeugen.
Die I.W.W. hat absolut nichts zu tun mit politischen Revolutionen, noch mit politischen Aktionen irgend welcher Art, was man leicht verstehen wird, wenn man folgendes liest: wir fragen einen Mann nach seiner politischen Ansicht ebensowenig, wie nach seiner Religion oder Hautfarbe, da es uns nicht interessiert. Wir haben derlei Klassifizierungen unserer Genossen abgelehnt, und sind als Organisation vollständig uninteressiert an Politik, Religion oder Rasseproblemen, ja, wir verbieten sogar solche Propaganda innerhalb der Organisation, um von vornherein jeden Anlaß, der Streitereien oder Spaltungen herbeiführen könnte, aus dem Wege zu räumen.
Statt dessen scheiden wir die Menschen, gemäß ihrer ökonomischen Stellung in der Gesellschaft, in eine Arbeiterklasse und eine Kapitalisten- oder Parasitenklasse. Wir konzentrieren unsere Aufmerksamkeit auf eine Frage, welche gleicherweise jedermann interessiert, nämlich die ökonomische Frage. Aufmerksamkeit andern Fragen gegenüber ist nur lohnend, wenn Strömungen unseren Weg kreuzen, die unsere Arbeit beeinträchtigen könnten oder in Verwendung zu reinen Erziehungszwecken; doch niemals, um Propaganda zu machen für eine Partei, ein Glaubensbekenntnis oder eine Rasse.
Der Entschluß zur Gründung der I.W.W. wurde schon 1904 gefaßt; die Gründung selbst fand erst 1905 während einer großen Zusammenkunft daran interessierter Arbeiter in Chikago statt. Die dort angenommenen Thesen über Struktur, Methoden und Prinzipien blieben in ihren wesentlichen Zügen, bis auf den heutigen Tag unverändert. Die I.W.W. war und ist eine Arbeiter-Union und jeder, der etwas anderes zu sagen versucht, gibt eine falsche Darstellung ihres Charakters. Die Mitglieder dieser ökonomischen Bewegung richten nicht, wie die politischen Parteien, ihr Augenmerk auf die Regierungsgebäude, sondern auf Fabriken, Mühlen, Werkstätten, Geschäfte und andere Plätze der Produktion und Distribution (Erzeugung und Verteilung). Wir ziehen keinen Trennungsstrich zwischen dem in Amerika geborenen und dem eingewanderten Fremden. Jedermann, der für Lohn arbeitet, ob Mann, Frau oder Kind, kann Mitglied der I.W.W. werden und kann sie mitbestimmen helfen.
Die Gründer der I.W.W. nannten die jetzt weltbekannte Arbeiter-Union: Die Industrie-Arbeiter der Welt, um damit auszudrücken, daß die Vereinigung aller Industriearbeiter in der Welt zu einer einzigen Organisation ihr Zweck und ihr Ziel ist. Dieses Ziel wurde bis jetzt noch nicht erreicht, aber schon sind die Grenzen ihres Einflusses weit gezogen. I.W.W.-Gruppen entstanden in England, Australien und Südafrika, in Mexiko, Argentinien und Chile, in Skandinavien und anderen Ländern. Die Forderung der I.W.W., eine Welt-Union zu werden, basiert auf der Tatsache, daß wir einen äußerst starken Einfluß auf andere Arbeiterorganisationen ausüben und sie veranlassen, unser Programm in Theorie und Praxis anzunehmen.
Obwohl die gegenwärtig Beitrag zahlenden Mitglieder in U. S. A. weniger als 100 000 ausmachen, sind wir doch eine mächtige Weltkraft. Ueber eine Million Mitgliedskarten wurden ausgegeben und unsere Mitglieder befinden sich in jedem Lande unter der Sonne. Sie arbeiten in den Bergwerken von Spitzbergen in der Nähe des Nordpols sowohl wie in den Walfischfangstationen in Süd-Georgia in der Richtung zum Südpol. Man findet sie auf jedem Schiff, das den Ozean befährt, den Samen der Propaganda in alle Häfen tragend, um ihn an den fernen Ufern in fruchtbaren Boden zu verpflanzen.
Gegenwärtig, da alle anderen sozialistischen Theorien und Bewegungen fehlschlagen, auch keine Hoffnungen für die Zukunft mehr erwecken können, steht allein die I.W.W. in der Meinung der Arbeiter der ganzen Welt als Meister der Situation da. In diesem Sinne ist das Ideal ihrer Gründer wahr geworden. Was noch verbleibt, ist, die Idee aus dem Hirn der Arbeiter in den Boden des industriellen Lebens zu verpflanzen, dann wird die Idee der Gründer vollkommene Wirklichkeit. Mit Hilfe der industriellen Unionisten anderer Länder hoffen wir diesen Plan in nächster Zukunft zu realisieren, indem wir eine industrielle Internationale bilden.
Zur Zeit ihrer Gründung bestand die I.W.W. zum größten Teil aus Bergarbeitern aus dem Westen, Metallarbeitern, Eisenbahnern und Saisonarbeitern. Im Laufe der Jahre dehnte sich ihre Tätigkeit auf immer mehr Industrien aus und zählt gegenwärtig im nationalen Umkreis 29 Industrie-Unionen unter welchen die Marine-Transportarbeitier-Union gerade jetzt international beherrschend wird. Dies wird des Näheren später ausgeführt werden. Ein großer Teil der Mitglieder besteht aus Saisonarbeitern, und die stärksten Unionen sind jene der Bergarbeiter, Holzarbeiter, Landarbeiter, Bauarbeiter, Marine-Transportarbeiter, Metallarbeiter, Textilarbeiter und Eisenbahnarbeiter.
Die Organisation hat viele große und kleine Streiks in vielen Industrien mit wechselnden Erfolgen geleitet, darunter erst kürzlich mit allergrößtem Erfolg. Die besten Resultate erzielte sie in ihrem Kampf, das Los der Saisonarbeiter in der Landwirtschaft zu verbessern, und ebenso erfolgreich waren die Bergarbeiter, Holzarbeiter, Textilarbeiter und Marine-Transportarbeiter unter dem Banner der I.W.W. Vor ihrem Auftreten und noch in der ersten Zeit der Existenz der I.W.W. war das Schicksal der Saisonarbeiter, die mit ihren Decken auf dem Rücken das Land durchstreiften, nahezu verzweifelt. Einmal auf diese Stufe gesunken, gab es für einen Mann nur wenig oder gar keine Hoffnung mehr, jemals wieder auf die Füße zu kommen. Gesellschaftlich war er erledigt. Dank der I.W.W. ist das heute anders. Diese Arbeiter haben jetzt beides, Hoffnung, Selbstbewußtsein und Macht durch ihre Organisation. Jedoch in dieser kurzen Darlegung können wir nicht auf nähere Details eingehen.
Natürlich war die Haupttätigkeit der Organisation bis heute erzieherischer Art. Sie geriet oft in Konflikte mit den Behörden in Fragen der Redefreiheit, der freien Presse und der Versammlungsfreiheit.
Wenn wir die Namen aller I.W.W.-Mitglieder, die seit Bildung der Organisation ins Gefängnis geworfen wurden, veröffentlichen wollten, so würden sie ein größeres Buch füllen, als das Telephonbuch einer großen Stadt. Ueber 1000 Mitglieder wurden ins Gefängnis geworfen im Kampf um die Redefreiheit, welcher der I.W.W. in dem verschiedensten Teilen des Landes aufgezwungen wurde. Ungefähr 900 Mitglieder wurden während des Textilstreiks in Lawrence (Mass.) 1912 verhaftet. Ungefähr 100 ein wenig später in Little Falls, N.Y. (1912—1913). 1800 I.W.W.-Mitglieder wurden während des Textilstreiks in Patterson (N. J.) eingekerkert. 1164 Männer, in der Mehrzahl I.W.W.-Mitglieder, wurden 1917 von Bisbee in Arizona deportiert, und für Monate hinter Gittern gehalten, ohne daß ihnen ein legales Verfahren zugebilligt wurde. Tausende Mitglieder der „Western Federation of Miners“ wurden ins Gefängnis geworfen, da diese Organisation ein Teil der I.W.W. war. 1920 wurde eine Liste zusammengestellt von Mitgliedern, welche seit Kriegsbeginn ins Gefängnis geworfen wurden. Diese Liste enthielt 1337 Namen.
Seit dieser Zeit strömten unsere Mitglieder regelmäßig durch die Gefängnistore. Erst vor kurzem wurden 450 I.W.W.-Mitglieder in Portland, Oregon, aus einem nicht rechtskräftigen Grunde verhaftet. Augenblicklich sind noch ein paar Hundert Mitglieder hinter den Mauern, einige von ihnen für lebenslänglich, andere verurteilt zu 5, 10, 15 oder 20 Jahren harter Arbeit in den Zuchthäusern, alle wegen ihrer Tätigkeit in der I.W.W. Die Gesamtsumme der gefangenen I.W.W.-Mitglieder seit 1905 übersteigt die Zahl von 10 000.
Eine Anzahl I.W.W.-Mitglieder wurde von unseren Feinden und deren Werkzeugen direkt ermordet. Außer diesen großen Verbrechen an unseren Mitgliedern wurden unzählige kleinere gegen uns verübt. Entweder im Namen von „Gesetz und Recht“, oder ohne jede offizielle Bestätigung.
I.W.W.-Mitglieder wurden geteert und gefedert, ausgewiesen, geschlagen, das Recht auf Bürgertum verweigert, verbannt, ihre Heime überfallen, ihr Eigentum und ihre Wertpapiere mit Beschlag belegt, das Recht auf Verteidigung wurde ihnen versagt, unmäßig hohe Bürgschaften wurden verlangt, sie wurden unter Zwangsarbeit gestellt, wurden entführt und den grausamsten und ungewöhnlichsten Strafen ausgesetzt. Man denunzierte sie und stellte sie unschuldig unter Anklage, um sie mit übermäßig hohen Geldstrafen zu belegen. Sie starben, auf ihre Verhandlung wartend, in den Gefängnissen, wurden durch die gemeinste Verfolgung in den Irrsinn getrieben. Der Gebrauch der Post wurde der I.W.W. verweigert, Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit und alle anderen Privilegien, die das Gesetz garantiert, galten für die I.W.W. nicht.
Das durch die Unabhängigkeitserklärung gesicherte Recht auf Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück wurde den I.W.W.-Leuten verweigert.
I.W.W.-Hallen, Büros und Hauptquartiere wurden ohne jeden gesetzlichen Befehl überfallen und geplündert.
I.W.W.-Eigentum, Bücher, Broschüren, Postsachen, Literatur- und Bureauutensilien wurden ungesetzmäßig beschlagnahmt oder zerstört.
Es ist leicht zu verstehen, daß nur Männer und Frauen von Mut und Ueberzeugung freiwillig solch einer Organisation beitreten. Doch die Mehrheit kommt nicht freiwillig, sie wird hereingetrieben, durch Hunger, Leiden, Armut, Elend und Verzweiflung; so wie ein ungestümer Fluß seine Dämme hinwegfegt und zum Meere hinaustreibt. Der ungestüme Fluß des zusammenbrechenden Kapitalismus liefert der I.W.W. die Mitglieder. Aus diesem Grunde sind die schrecklichsten Verfolgungen und alle Versuche, die I.W.W. zu unterdrücken und zu vernichten, vollkommen zwecklos. Im Gegenteil, unsere Lehren breiteten sich aus gleich einem Präriefeuer, das weder Blut noch Gewalt auslöschen kann. Für jedes Hundert Mitglieder, das man ins Gefängnis steckt, tritt ein neues in die Reihen der I.W.W., die Kämpfer ermunternd, sie vorwärtstreibend.
Diese Tatsache, scheint uns, sollte der Welt zeigen, daß diese Bewegung eine große, natürliche Kraft im Rücken hat und daß es genau so stupid ist, uns zu verfolgen, als es im Altertum der Perserkönig Xerxes war, der seine Soldaten die Wellen dies Bosporus peitschen, geißeln und ketten ließ, damit sie sich senkten und seiner Armee den Durchzug gewährten. Diese Naturkraft, die ökonomische Notwendigkeit, gibt unserer Bewegung eine geistige und moralische Kraft die kein Gefängnis unterdrücken, kein Galgen töten kann. Gerade die meisten unserer bigotten Feinde sollten verstehen, daß, um solche „schrecklichen, göttlichen Prüfungen“ zu überstehen, unsere Organisation eine fundamentale Wahrheit im Rücken haben muß, welche nicht straflos übersehen werden kann, sondern untersucht werden sollte. Die Menschen akzeptieren unsere Lehre als eine Botschaft der Rettung, trotz aller persönlichen Gefahr, die damit verbunden ist. Welche wundervollen Lehren können das sein? Sie sind ausgedrückt in dem Programm unserer Konstitution, und zwar in folgenden
Die Arbeiterklasse und die Arbeitgeberklasse haben nichts in Gemeinschaft. Es gibt keinen Frieden, solange man unter den Millionen Menschen Hunger und Elend findet und die Wenigen der Kapitalistenklasse alle guten Dinge des Lebens haben.
Zwischen diesen beiden Klassen muß Kampf sein, bis die Arbeiter der Welt als Klasse organisiert sind, die Erde und die Produktionsmittel in Besitz nehmen und das Lohnsystem abschaffen.
Wir finden, daß die Konzentration des Kapitals in immer weniger und weniger Händen, die Gewerkschaften unfähig macht, sich mit der stetig wachsenden Macht der Kapitalistenklasse zu messen. Die Gewerkschaften schufen einen Zustand, in welchem ein Teil der Arbeiter einem anderen Teil selbst in der gleichen Industrie feindlich gegenübersteht, was zur Folge hat, daß sie sich gegenseitig ihre Lohnkämpfe vereiteln. Mehr noch, die Gewerkschaften helfen den Unternehmern, die Arbeiter irrezuführen, indem sie behaupten, die Arbeiterklasse habe mit ihren Ausbeutern gemeinsame Interessen.
Dieser Zustand kann nur geändert und die Interessen der Arbeiterklasse können nur verteidigt werden durch eine Organisation, die so geformt ist, daß alle ihre Mitglieder in einer Industrie, oder wenn nötig, in allen Industrien die Arbeit niederlegen, wenn immer ein Streik oder eine Aussperrung einen Teil der Arbeiter betrifft. So wird der Grundsatz verwirklicht: „Einen geschädigt, heißt alle geschädigt!“
An Stelle des konservativen Mottos: einen guten Tagelohn für ein gutes Tagewerk, müssen wir auf unser Banner die revolutionäre Parole setzen: „Abschaffung des Lohnsystems!“
Es ist die historische Mission der Arbeiterklasse, den Kapitalismus zu stürzen. Das Heer der Produzierenden muß nicht nur für den täglichen Kampf mit den Kapitalisten organisiert sein, sondern auch, um die Produktion fortzuführen, wenn der Kapitalismus vernichtet ist. Indem wir uns wirtschaftlich organisieren, bilden wir die Struktur der neuen Gesellschaft in der Schale der alten.
In Uebereinstimmung mit den Prinzipien der I.W.W. beabsichtigen wir in diesem und evtl. auch in anderen Ländern alle produktive Menschenkraft zu organisieren, d. h. alle Hand- und Kopfarbeiter wirtschaftlich in Industrieverbänden, Industrieverbandbranchen in den Betrieben und Industriekongressen zusammenzuschließen. Wir werden später die Hauptabteilungen der neuen Gesellschaft, welche wir zu organisieren beabsichtigen, aufzählen.
Nach Industrien zu organisieren, war eine Idee, geboren aus Negation oder als Reaktion gegen die alte Form der Gewerkschaftsorganisation. Gewerkschaften organisieren, heißt: jene organisieren, welche dasselbe Werkzeug benutzen: Zimmerleute allein, Anstreicher allein, Ingenieure allein und Heizer allein. So erhält man so viele Arten von Gewerkschaften, als es Sorten von Handwerkskästen gibt. Diese Art von Organisation teilt die Arbeiter einer Industrie in soviele Verbände, als da Gewerbe beschäftigt sind; und errichten so Schranken zwischen den Arbeitern, die ihre Ellbogen täglich aneinander reiben, statt sie zu vereinigen.
Um dies zu illustrieren, wollen wir eine amerikanische Schiffswerft als Beispiel nehmen.
Auf einer Schiffswerft, wo eiserne Schiffe gebaut werden, gibt es ungefähr 40 verschiedene Berufe. Wir wollen einige von ihnen aufzählen. Da sind die Schiffsmonteure, welche die Platten schneiden, da die Kesselmacher, die Maschinisten. Techniker, Elektrotechniker, Rohrleger. Asbestarbeiter, Schiffszimmerleute, Tischler, Kalfaterer (Schiffsausbesserer), Anstreicher, Arbeiter der Takelage usw. Uebereinstimmend mit dem Prinzip der Gewerkschaften, wird es eine besondere internationale Organisation für einen jeder dieser Berufe geben, die nichts gemein haben mit dem Rest, außer, daß sie ihre Beiträge bei einem gemeinsamen Hauptquartier zahlen. Einige dieser 40 Berufe kann man zusammen in eine „internationale Berufsorganisation“ bekommen, doch in der Regel zählt jede Schiffswerft in Amerika eine große Anzahl solcher Berufsorganisationen. Diese Berufsorganisationen in derselben Werft sind häufig mit einander verfeindet und wenn Unzufriedenheit überhand nimmt, ist es nicht ungewöhnlich, daß, wenn sie streiken, eine jede für sich allein streikt. Die eine wird also geschlagen von derjenigen, welche nicht streikt, wie unser Programm auch sagt. Fast jeder, der bereits in amerikanischen Schiffswerften arbeitete, erklärte diese Schilderung für richtig. Doch was noch mehr besagt, ist, daß sie praktisch auch auf alle anderen Industrien paßt, die von Gewerkschaften organisiert sind. Es ist das, was wir „schäbig organisiert“ nennen. Es überläßt die Arbeiter der Gnade und Barmherzigkeit der Unternehmer. Diese Berufsschranken, welche die Werft in viele berufsfanatische Gruppen scheidet, die sich einander argwöhnisch bespitzeln, sind gerade das, was der Unternehmer braucht, um die Löhne niedrig zu halten, die Arbeitszeit lang und die Bedingungen schlecht. Wir wollen hier nicht mehr auf andere schlechte Merkmale der Gewerkschaften im Näheren eingehen, es genügt zu sagen, daß die I.W.W. zum Teil aus Reaktion gegen solche unerträgliche und vernunftwidrige Zustände entstand.
Rechnet man hinzu den vollkommenen Mangel an Idealismus, der diese Gewerkschaften in allen Ländern charakterisiert, ihr Einverständnis mit Kapitalismus und Lohnknechtschaft als Entscheidendes, das Fehlen jeglicher Zukunftshoffnung für die Arbeiter als Klasse, so wie ihre Tendenz, sogenannte Arbeitertrusts zu organisieren, mit der Absicht, eher die Gewerkschaftsunwilligen von der Arbeit auszuschließen, als die Probleme des Lebens für die Massen zu beseitigen, so hat man den Hintergrund, auf welchem das Programm der I.W.W. geschrieben wurde.
Die Weise, wie die I.W.W. beabsichtigt, diese Dinge zurechtzurücken, ist die durch Industrieorganisationen, wie oben dargelegt.
Laßt uns zurückgehen zu dem Beispiel von der Schiffswerft, um zu zeigen, wie eine typische Industrieorganisation aussehen würde. Das Erste, was die I.W.W. in einer Gewerkschaftswerft tut, wenn sie die Gelegenheit hat, ist, die Schranken, welche die Berufe ziehen, niederzureißen. Sie nimmt dem Kesselmacher, Techniker, Rohrleger, Zimmermann und Anstreicher etc. etc. die Mitgliedskarte der Gewerkschaften ab, und sagt ihnen: „Ihr seid jetzt nicht mehr getrennt in Kesselmacher, Techniker, Rohrleger, Zimmerleute und Anstreicher, ihr seid jetzt vereinigt zu Schiffsbauarbeitern. Jeder von euch, jede Person, die auf dieser oder irgend einer anderen Werft angestellt ist. An Stelle von 20 oder 30 Gewerkschaften in dieser und anderen Werften, haben wir hinfort nur noch eine Organisation: die Schiffsbauarbeiter-Industrie-Union. Jede Werft bildet einen Teil dieser Union und in jedem Teil werden wir die notwendigen Zusammenkünfte oder Komitees haben, um die Zusammenarbeit zwischen den Arbeitern der verschiedenen Abteilungen der Werft zu sichern.“
Auf diese Weise bilden alle Arbeiter der Werft einen einigen Körper; alle Werften des Landes und eventuell der ganzen Welt werden eine Industrie-Union bilden, welche die Arbeiter dieser Industrie vereinigt zu gemeinsamen Aktionen. Ebenso wird es für jedes Schiffsbauzentrum Industrieräte geben. Bei dieser Einteilung wird es nicht mehr vorkommen, daß eine Gruppe von Arbeitern streikt, während die andere arbeitet. Man wird sich gegenseitig nicht mehr schädigen können; wenn gestreikt wird, streiken alle und so müssen sie gewinnen. Industrie-Unionisten, welche in der Industrie-Union hauptsächlich ein gutes Instrument der Kriegsführung im Kampfe mit den Arbeitgebern sehen, werden das überall bestätigen.
Die Industrie-Union verfolgt zwei Ziele.
Es ist das erste und gegenwärtig wichtigste Ziel der I.W.W., im täglichen Kampf mit der Unternehmerklasse um höhere Löhne, verkürzte Arbeitszeit und bessere Arbeitsbedingungen als Streitorgan zu dienen. Dies erfordert keine weiteren Erklärungen, als die hier oft wiederholte Feststellung, daß die Industrie-Union ein besseres Kampfinstrument zu diesem Zweck ist, als die Gewerkschaften es sind, da sie alle Arbeiter in einer Organisation vereinigt und nicht wie jene, nur die Mitglieder eines Berufs.
Unser zweites Ziel ist, das Mittel zur Uebernahme der Industrie durch das Proletariat zu sein, Produktion und Distribution nach der Vernichtung des Kapitalismus zu leiten, die neue Gesellschaft zu organisieren, wenn die kapitalistische Welt zusammengebrochen ist, d. h. aufgehört hat zu funktionieren. Im Verlauf des Zusammenbruchs gewinnt das zweite Ziel an Bedeutung, überschattet das erstere.
Wir behaupten, daß sich das kapitalistische System in einem Zustand des ernsthaftesten Zerfalls befindet, und zwar auf der ganzen Welt, Amerika eingeschlossen, trotz seiner gegenwärtig hektischen Röte auf seinen Wangen. Wir bezweifeln stark, daß es, wie nach vorhergehenden Krisen, noch einmal auf seine Füße kommen wird. Die alten Organe funktionieren nicht. Die Welt ist im Zustand des Bankerott. Es hat den Anschein, daß in Kürze die Buchführung der Kapitalistenklasse der ganzen Welt Billionen Dollars als verloren bezeichnen kann und wir wissen, was das für jene bedeutet, die nichts anderes als ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben.
Die alten Organe der Produktion, d. h. die Privateigentümer, mit ihren gewöhnlich kleinen Einrichtungen, sowie auch die Aktien-Gesellschaften, die Trusts, die Kartelle sind nicht länger fähig, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Hunderte Millionen Menschen in allen Teilen der Welt existieren, ohne die primitivsten Lebensnotwendigkeiten erfüllen zu können; sie haben keinen Anteil an den Gaben der Natur und keinen Zugang zur industriellen und kaufmännischen Maschinerie. Die Voraussetzungen zur Existenz werden für immer größere Massen unerreichbar, verzweifelt sehen sie das Letzte bedroht vom blindlings zerfallenden kapitalistischen System. Empörungen, Aufruhr, Rassenkriege, Lynchungen, Kriegsgerichte, Standrecht, Terror und große Streiks waren noch in letzter Zeit in vielen Teilen der Welt und besonders in Amerika des öfteren an der Tagesordnung. Außerdem war eine Arbeitslosigkeit in einem Maßstabe, wie im letzten Jahrzehnt, obgleich sie 1922—1923 etwas geringer war, noch nicht bekannt. Armut und Elend aber treiben die Menschheit zur Verzweiflung.
All diese sozialen Erscheinungen sind Symptome des fortschreitenden Verfalls des kapitalistischen Systems. Die Zustände in Europa und überall liefern den Beweis, daß der endgültige Krach eintritt, wenn der kapitalistische Kredit vollkommen zerrüttet und damit fast allen industriellen Unternehmen die Weiterproduktion unmöglich sein wird. Als Letztes: selbst die kapitalistische Presse erklärt, daß diese schrecklichen Möglichkeiten nicht ausgeschlossen sind.
Die ökonomische Unsicherheit und Quälerei machen Millionen das Leben unerträglich; sie fühlen, daß sie versklavt sind, daß sie langsam aber sicher in ein Weltgeschehen gezogen werden, das keinem guten Ende dient und keine Sicherheit für die Zukunft bietet. Die aus dem Verfall des herrschenden Systems resultierende Spannung zwingt die Eigentümer der Produktionsmittel zu einem grauenhaften System der Gewalt, um sich ihren Besitz und die Kontrolle darüber zu erhalten. Die Produktion ruht auf den Spitzen verkleideter Bajonette und auf den verhüllten Mündungen der Maschinengewehre; während Gasbomben, die eine große, rebellierende Stadt in Schlaf versetzen können, oder die gesamte Bevölkerung in einem Anfall von Gelächter zu töten vermögen, von der Presse als gar nicht so weit entfernt diskutiert werden. Das System kann nicht länger in seiner jetzigen Beschaffenheit existieren. Es kann sein Leben nur noch mittels rohester Gewalt verlängern, so wie sich ein Sterbender durch Einatmung von Sauerstoff am Leben zu halten versucht.
Unter diesen Umständen gehen Millionen von Arbeitern langsam, aber sicher zu Grunde. Sie werden über den Rand des sozialen Abgrundes gestoßen, und alle sind von dem gleichen Schicksal bedroht solange sie nicht den Sturz dieser Gesellschaftsordnung vornehmen. Sie können unter der Last dieses Elends nicht existieren, und wenn sie es könnten, so ständen sie bei dem endgültigen Krach doch dem Verhungern und anderen unbeschreiblichen Leiden gegenüber. Chaos, Zerstörung, Bürgerkrieg, Terror durch umherstreifende Banden und jedermann an des andern Hals, das sind die Aussichten, die die kapitalistische Welt bietet. Wohl niemand wird zu behaupten wagen, Amerika sei immun gegen solches Schicksal. Im Gegenteil: in enger Beziehung zur Unbarmberzigkeit und Brutalität unserer Kapitalistenklasse steht die große Zahl unserer Rassen- und Glaubensbekenntnisse, die Zurückhaltung gegen Ausländer und Neger, die verderbliche Tätigkeit der berufsmäßigen „Patrioten“ und Haßerzeuger, wie der Ku-Klux-Klan und ähnliche Gebilde; trotz dem Reichtum des Landes liefern sie die Bestandteile zur übelsten Höllenbrühe, die die Welt jemals gekostet hat. Es scheint fast, daß gewisse Elemente vorsätzlich einem Zusammenstoß entgegensteuern und es ist Zeit für alle weitsichtigen, verantwortungsvollen Männer und Frauen der Arbeit, die einzig zuverlässigen Schritte zu unternehmen, die einer Katastrophe dieser Art vorbeugen.
Unter diesen Verhältnissen tritt die I.W.W., gezüchtet und gehärtet durch Jahre grausamster Verfolgung, mit ihrem Programm der Welterrettung vor die Front, mit dem einzig denkbaren Programm, daß die sozialen Probleme beseitigen wird und die Menschheit in den ruhigen Hafen der neuen Gesellschaft, zu Frieden, Glück und Ueberfluß führt.
Vermittels unserer Industrie-Unionen beabsichtigen wir, die Fäden der Produktion und Verteilung da aufzugreifen, wo sie den unfähigen Händen der Kapitalistenklasse in der Herstellung von Nahrung, Kleidung und Wohnung entfallen. Dies ist der erste Schritt zur Befreiung der leidenden Menschheit. Wir wollen ein rationelles System (Planwirtschaft) in Produktion und Distribution einführen, ohne Klassenunterdrückung und frei von jeglicher Ausbeutung. Wir behaupten, daß die Union der Arbeiter für jeden Betrieb das passendste Organ ist, um diesen Betrieb zu verwalten. Mit anderen Worten: wir wollen Privateigentum in Gesellschaftseigentum verwandeln, den Kapitalismus beseitigen und den Industrie-Kommunismus aufbauen.
In der Frage der Methoden der I.W.W. gab es mehr Mißverständnisse und Verdrehungen, als in irgendeinem anderen Punkt. Wir selbst bevorzugen, unsere Methoden als „ökonomische direkte Aktion“ zu bezeichnen. Wir wollen das erklären:
Wir unterscheiden eine politische oder indirekte Aktion und eine ökonomische oder direkte Aktion.
Die Methoden der I.W.W. leicht verständlich zu machen, wollen wir beide definieren.
Politische oder indirekte Aktionen sind solche, mit denen die Arbeiter ihr Ziel durch Einfluß auf die Regierungsmaschinerie zu erreichen suchen. Sei es durch Stimmzettel, Bestechung oder auch sogenannte Massenaktionen, Kugeln, und politische Revolution. Dies sind die Mittel der politischen Aktionen. Die I.W.W. als Organisation verwirft solche Methoden, die obenstehenden Zwecken dienen sollen, ohne sich jedoch in die politische Ueberzeugung ihrer Mitglieder irgendwie einzumischen.
Oekonomische oder direkte Aktion versucht ihr Ziel zu erreichen, indem sie sich der Herrschaft und Kontrolle der Produktions- und Verkaufsstätten, Fabriken, Mühlen usw. mittels ihrer eigenen Kraft bemächtigt.
Außerdem gibt es wirkliche „revolutionäre“ Politiker, politische Aktionisten, welche ökonomische Organe wie die Unionen als Mittel benutzen wollen, damit den Weg zum Besitz und zur Kontrolle der Regierungshäuser frei zu machen. Die. I.W.W. wünscht keinerlei Beteiligung an solchen nutzlosen Prozeduren.
Der Unterschied zwischen fruchtbarer und fruchtloser ökonomischer direkter Aktion wird am besten illustriert durch einen Vergleich der I.W.W. mit den Gewerkschafts-Organisationen in Chicago. Die Vertrauensleute der I.W.W. sind in Uebereinstimmung mit ihrem Programm und ihren Instruktionen eine Kraft innerhalb der Bewegung, sie verfallen keiner Selbstverherrlichung und stehen, ohne sich von der Masse zu unterscheiden, in Reih und Glied und sichern den Charakter der I.W.W. den Charakter der direkten Aktion. Die Gewerkschaftsführer dagegen in Chicago (und anderen Städten) vernichten jede eigene Meinung ihrer Mitglieder, machen sich in den meisten Fällen zu Zaren ihrer Organisation und umgeben sich mit terroristischen Banden von Faulenzern und Revolverhelden; Verdummung und Erpressung sind ihre Mittel. Jede oppositionelle Stimmung auf Versammlungen oder Arbeitsplätzen wird terrorisiert, ja, wenn notwendig, mit Gewalt niedergeschlagen. Wenn Arbeiterführer mittels solcher Methoden angeblich Arbeiterinteressen dienen, so hat das mit einer direkten Aktion nichts zu tun. Die Mitglieder ziehen sich von den Versammlungen zurück, suchen sich Vergnügungen, werden indifferent und bezahlen ihre Bonzen und deren Anhang, damit sie ihnen gelegentlich etwas vorschauspielern. Es mag einige Gewerkschaften geben, auf welche diese Beschreibung nicht ganz paßt, in der Regel jedoch ist es, wie hier aufgezeigt.
Selbst wenn diese Gewerkschaften einen Streik führen, und Streik ist eine Form der direkten Aktion, hat dieser Streik doch nichts mit einer direkten ökonomischen Aktion zu tun. Er kann keinen Klassenkampfcharakter tragen, da die Streikenden selbst nichts zu bestimmen haben, sondern Befehlen gehorchen. Jedermann weiß, wie die „Streiker“ von der Arbeit „abberufen“ und wieder „zurückbefohlen“ werden. Es sind die Führer, die Zars, die Faulenzer und Dummköpfe die „abberufen“ und „zurückbefehlen“, die mit Intrigen und Gewalt arbeiten, um ihre eigenen Ziele durchzusetzen. Sie bestimmen und regulieren Streiks und andere Dinge; die Mitglieder bestimmen nicht, sie wählen unter dem Zwang ihrer Herren, wie die Neger im Süden am Wahltag der amerikanischen Nation. Die Streiker sind nur Puppen in den Händen ihrer Führer.
Aus der Ablehnung dieser gewerkschaftlichen Methoden, sowie als eine Gegenwirkung propagiert die I.W.W. ihre eigene Form der ökonomischen direkten Aktion. Wir wollen die persönliche Aktivität des Proletariats im Kampf gegen die Ausbeuter und für die neue Gesellschaft wecken. Wir wollen, daß das Proletariat sein Geschick in seine eigenen Hände nimmt, daß es selbst bestimmt und seine Kämpfe selbst führt. Nur so wird es keine falschen Wege gehen. Sobald es aber sein Schicksal in die Hände anderer Leute legt, ist es immer betrogen. Seine Führer sollen seine Diener und nicht, wie bei den Gewerkschaften, seine Meister sein.
Unsere direkte Aktionsmethode verlegt die Haupttätigkeit der Union in den Betrieb. Hier organisiert sie sich, kämpft und schafft die Voraussetzungen zur Uebernahme und Organisierung der kommunistischen Wirtschaft. Die Taktik der Gewerkschaften verlegt deren Tätigkeit in die Büros, wo sie meistens aus der fragwürdigen Beschäftigung der Führer im Lehnstuhl besteht.
Gegenwärtig findet die direkte Aktion der I.W.W. ihren Ausdruck in den Betriebsaktionen und der Solidarität. Wo immer I.W.W.-Mitglieder arbeiten, versuchen sie, Betriebsorganisationen zu bilden. Geschlossen versuchen sie dann, Einfluß auf ihre Klassengenossen zu gewinnen und sie zum Kampf gegen die Sklaventreiber aufzufordern. Sie zeigen ihnen die hundert Möglichkeiten, auf ihre Arbeitgeber Druck auszuüben, ihnen Zugeständnisse abzuringen. Durch gemeinsame Aktionen verringern sie die Last mal hier und da ein wenig und lassen nicht nach, bis das Leben im Betrieb zuletzt ertragbar wird. Vor Entstehung der I.W.W. war es üblich, die Saisonarbeiter und speziell die in der Landwirtschaft zu Tode zu schinden. Betriebsaktionen haben diesen Zustand beseitigt. Die I.W.W. hat die Arbeitsstunden in der Landwirtschaft heruntergesetzt, ebenso im Baubetrieb und Bergbau, im Marinetransportwesen, sowie in anderen Industrien. Durch diese direkten Betriebsaktionen, mit denen die Gewerkschaften nichts zu tun haben, schützen die Arbeiter ihr Leben und fassen festen Fuß auf der ersten Stufe, die zur neuen Gesellschaft führt.
Ein Teil der direkten Aktion der I.W.W. ist der Streik und Boykott; jedoch sind es immer die Mitglieder, die den Streik oder Boykott beschließen, niemals die offiziellen Führer. Die I.W.W. bevorzugt den Streik an der Arbeitsstätte gegenüber dem Verlassen des Betriebes, sie greift erst zu letzteren, wenn alle anderen Mittel versagten. Streik im Betrieb besteht aus Verweigerung der vollen Arbeitskraft und ist darauf berechnet, den Arbeitgeber zu Konzessionen zu zwingen. Solche Streiks haben den Vorteil, daß sie das Auftreten von Streikbrechern verhindern und den Arbeitern bis zur Aussperrung ihren Lohn sichern. Die I.W.W.-Mitglieder wissen, daß sich ein Streik mit Verlassen des Betriebes häufig in die Länge zieht, und so dem Arbeitgeber Zeit gibt, sich nach Streikbrechern umzusehen. Aus diesem Grunde sind sie abgeneigt, das Feld des Kampfes zu verlassen. Im Einklang mit ihren Prinzipien versucht die I.W.W., den Arbeitern klar zu machen, daß es besser ist, die Arbeitsstelle nicht zu verlassen und den Betrieb zu kontrollieren so gut es möglich ist, als durch Aufgabe des Betriebes jegliche Kontrolle zu verlieren. Außerhalb der Fabriktore haben die Arbeiter wenig Macht. Diese Taktik steht im Zusammenhang mit dem letzten Ziel der I.W.W., welches mittels der Betriebsorganisationen, die in Industrie-Unionen zusammengefaßt werden, zum Organismus der Produktion und Distribution werden soll, wenn die kapitalistische Produktion zum Stillstand gekommen ist. Wenn der letzte Betriebsstreik gefochten und gewonnen ist, wollen wir bestehen für immer.
Die wichtigsten Veränderungen in der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, welche von der sozialen Evolution beinahe schneller erzwungen werden, als wir uns aus den Trümmern der alten Gesellschaft lösen können, bringen auch noch andere wichtige Veränderungen in der Organisation der Gesellschaft mit sich.
Es liegt in der Natur der Dinge, daß dem ökonomischen Zusammenbruch des Kapitalismus der politische Zusammenbruch folgen muß. Dies steht in Uebereinstimmung mit der historisch-materialistischen Geschichtsauffassung, derzufolge alle sozialen (staatlichen) Institutionen auf die ökonomische Struktur der Gesellschaft zurückzuführen sind. Wenn die ökonomische Struktur zusammenbricht, müssen die Regierungen folgen. Sie müssen sich dem ökonomischen Wechsel anpassen, um bestehen zu können; wo sie dies nicht vermögen, müssen sie verschwinden.
Der politische Zusammenbruch ist zum Teil die Folge des finanziellen Bankrotts, der mit dem ökonomischen Zerfall der Gesellschaft zusammenfällt. Wenn die Produktion darniederliegt, wenn kein Mehrwert mehr erzeugt wird, existieren auch keine Mittel (Steuern usw.) mehr, die Regierung zu erhalten. In einer auf Privateigentum basierenden Gesellschaft benötigt die Regierung ebenso Kapital, wie irgend ein anderes Industrieunternehmen oder sonstige Art von Geschäft. In der Folge des europäischen industriellen Zusammenbruchs z. B. versuchten viele europäische Regierungen Geld zu leihen, um weiter herrschen zu können. Der politische Zusammenbruch folgt dem ökonomischen dicht auf den Fersen.
Wenn es kein Kapital mehr gibt, werden die Politiker der bürgerlichen Staatsmaschinerie, werden die Regierungen ihre Positionen nach und nach aufgeben müssen. Selbst wenn sie große Schätze aufgespeichert hätten, so können sie sie doch nicht erneuern, da sie selbst keine Werte erzeugen und da, sobald die Privatwirtschaft zusammengebrochen ist, eine Besteuerung der Bevölkerung unmöglich sein wird, würden sie in der Luft hängen und zusammenschrumpfen, unfähig weiter zu existieren.
Dies ist unsere Auffassung in diesen Punkten und folglich sind wir nicht zu der nutzlosen Aufgabe verpflichtet, uns unterdrückende Regierungen anzugreifen. Wenn man einen Hund mit einem Stock schlägt, vergräbt dieser seine Zähne und Klauen in den Stock. Die Arbeiter sollten mehr Vernunft haben.
Die Regierung (Staat) ist der Stock in den Händen der ökonomisch herrschenden Klasse eines jeden Landes. Laßt den Stock allein und richtet Euch gegen seine Träger, gegen die herrschende Klasse direkt, wie es das I.W.W.-Programm empfiehlt. Die Arbeiter von Rußland, Schweden und Deutschland haben der Bourgeoisie den Regierungsknüppel aus den Händen gewunden, und versuchen ihn für den Sozialismus zu gebrauchen. Doch der sozialistische Knüppel ist genau so schlecht wie der kapitalistische.
Die Staatsmaschinerie, die Regierung, sind nur der Reflex, der Schatten, des herrschenden ökonomischen Systems und wir laufen nicht hinter Schatten und Reflexen her. Wir sind hinter der Substanz, die den Schatten wirft. Wenn diese Substanz zerbröckelt, wird auch ihr Schatten verschwinden.
Unsere Auffassung entzieht den Mitgliedern der I.W.W. nicht das Recht, sich politisch zu entscheiden, sie haben unbedingte politische Freiheit, nur sollen sie nicht versuchen, unsere Organisation unter irgend eine politische Kontrolle zu bringen.
Wie schon im Vorhergehenden gesagt, wenn der ökonomische Zusammenbruch solche Formen annimmt, daß die Leiden der Menschen unerträglich werden, werden sie sich ein neues Produktionssystem schaffen müssen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, oder sie werden zu Grunde gehen. Alle nützlich beschäftigten Menschen müssen in den Industrien organisiert werden, um in gemeinsamer Arbeit Ordnung in das Chaos zu bringen und die Gesellschaft vor dem Untergang zu schützen, denn es ist unmöglich, daß kapitalistische Formen sich neu entwickeln können.
Zu dieser Zeit wird man feststellen, daß die alten Formen der gesellschaftlichen Verwaltung zur Weiterfunktion vollkommen ungeeignet sind. Die Menschen werden einsehen, daß es notwendig sein wird, von der politischen zur industriellen Verwaltung überzugehen.
Wir wissen, wie die politischen Verwaltungen (Regierungen) aufgebaut sind. Durch Wahlen und Repräsentation innerhalb der geographischen Grenzen eines Landes. Die Bürger wählen in ihren Bezirken ohne die zur Wahl gestellten Kandidaten zu kennen oder etwas über deren Fähigkeiten zu wissen. Eine politische Maschinerie (Parlamentarische Parteien), die das Tageslicht zu scheuen hat, präsentiert die Kandidaten und es ist ihr Geheimnis, weshalb sie die Untauglichsten aussucht. Diese Kandidaten haben nicht die Aufgabe, etwas der Gesellschaft Nützliches zu leisten, sondern werden wegen ihrer Macht innerhalb der politischen Maschinerie, oder wegen ihrer Willigkeit, die schmutzigsten Geschäfte der Bourgeoisie zu besorgen, zur Wahl gestellt. Als Resultat sehen wir eine höchst industrielle Gesellschaft, wie die Vereinigten Staaten, größtenteils geführt von Rechtsanwälten und Berufspolitikern. So hat diese Form der politischen Verwaltung die Tendenz, aus eigener Unfähigkeit, den Kapitalismus immer unmöglicher zu machen. Dies bezieht sich nicht nur auf politische Verwaltungen kapitalistischer Staaten, sondern auch auf die der sozialistischen. „Füllet alle wichtigen Aemter mit zuverlässigen Bolschewiken, ohne Rücksicht auf ihre Befähigung“, so lautete die russische Parole die den industriellen Zusammenbruch Rußlands zur Folge hatte. Die moderne, industrielle Gesellschaft ist zu kompliziert in ihrem ökonomischen Mechanismus um von Partei-Politikern und politischen Verwaltungen geführt werden zu können. Will eine industrielle Gesellschaft gedeihen, so benötigt sie eine Verwaltung von Fachleuten auf jedem Gebiet, d. h. eine industrielle Verwaltung.
Wir wollen nicht länger Regierungen, die aus der unzuverlässigsten Mischung, von Rechtsanwälten und anderen silberzüngigen Rednern, bestehen. Die Menschen einer Industrie-Gesellschaft wünschen ihre Verwaltung in ihren Werkstätten, ihrer Industrie, dem Platz ihrer Arbeit, ihres Berufs, was immer es auch sein mag. zu erwählen. Sie wünschen ihre besten und befähigsten Männer und Frauen in ihren Verwaltungsorganen. Jeder Zweig menschlicher Tätigkeit wird in dieser Verwaltung vertreten sein, wo jetzt nur ein politischer Klüngel ohne jede Befähigung herrscht. Tatsächlich kennen die meisten Politiker keine brauchbare Arbeit, ihr Handwerk ist die Parteiintrige und der Regierungsbetrug.
Vermittels des Wahlrechts in den Betrieben werden die produktivbefähigsten Arbeiter gewählt werden. Vermittels der Industrie-Verwaltung (Räte) die brauchbarsten Diener der Menschen aus allen Gebieten menschlicher Tätigkeit gestellt; mit dieser Kraft werden wir für alle Zeiten die Macht der arbeitenden Klasse verankern und jede Rückkehr der Ausbeutung unmöglich machen. Die im nächsten Kapitel beschriebene Organisierung der Industrie-Unionen ist das Mittel, mit dem die I.W.W. den Menschen kommender Zeiten die Freiheit sichern wird. Ihnen ist Wahrheit, wovon wir heute sprechen: die Industrie-Demokratie, der Industrie-Kommunismus.
Wie schon vorher erwähnt, hat die I.W.W. gegenwärtig 29 Industrie-Unionen organisiert, sie wiederum in sechs Abteilungen eingeteilt. Wenige darunter sind noch schwach und vorläufig nicht mehr als eine Demonstration, eine Anregung.
Das folgende ist eine Aufstellung der Industrieabteilungen und der Industrie-Unionen:
Landarbeiter-Industrie-Union Nr. 110
Holzarbeiter Industrie-Union Nr. 120
Fischer Industrie-Union Nr. 130
Blumen- und Gartenbauarbeiter-Industrie-Union Nr. 140
Metall-Bergarbeiter-Industrie-Union Nr. 210
Kohlen- und Koksofenarbeiter-Industrie-Union Nr. 220
Oel-, Gas- und Petroleumarbeiter-Industrie-Union Nr. 230
Eisenbahn-, Wege-, Kanal-, Tunnel- und Brückenkonstruktionsarbeiter-Industrie-Union Nr. 310
Schiffbauer-Industrie-Union Nr. 320
Haus- und Baukonstruktionsarbeiter-Industrie-Union Nr. 330
Textil- und Konfektionsarbeiter-Industrie-Union Nr. 410
Holz (Schreiner-Nutzholz) Arbeiter-Industrie-Union Nr. 420
Chemikalienarbeiter-Industrie-Union Nr. 430
Metallarbeiter- und Maschinenbauer-Industrie-Union Nr. 440
Druckerei- und Verlagsarbeiter-Industrie-Union Nr. 440
Nahrungsmittelarbeiter-Industrie-Union Nr. 460
Lederarbeiter-Industrie-Union Nr. 470
Glas- und Töpfereiarbeiter-Industrie-Union Nr. 480
Marine-Transportarbeiter-Industrie-Union Nr. 510
Eisenbahntransportarbeiter-Industrie-Union Nr. 520
Telegraph-, Telephon- und drahtlose T.-arbeiter-Industrie-Union Nr. 530
Städtische Transportarbeiter-Industrie-Union Nr. 540
Lufttransport- und Luftschiffsarbeiter-Industrie-Union Nr. 550
Gesundheits- und Sanitätsarbeiter-Industrie-Union Nr. 610
Park- und Landstraßenaufrechterhaltungsarbeiter-Industrie-Union Nr. 620
Unterrichtsarbeiter-Industrie-Union Nr. 630
Allgemeine Verteilungsarbeiter-Industrie-Union Nr. 640
Oeffentliche Reinigungsarbeiter-Industrie-Union Nr. 650
Unterhaltungs- und Vergnügungsarbeiter-Industrie-Union Nr. 660
Diese dezimierte Numerierung der einzelnen Unionen ermöglicht, stets neue Industrie-Unionen dem System einzufügen, sobald die Notwendigkeit herantritt.
Wie die Aufstellung zeigt, sind die Industrie-Unionen nach Berufszweigen geordnet. Wenn es notwendig wird, mehrere dieser Industrie-Unionen zu einer Abteilungsverwaltung zusammenzufallen, wird dem Rechnung getragen.
Die „gesetz“machenden Körperschaften der I.W.W. sind die Generalversammlungen (Kongresse), die Betriebsversammlungen und Bezirksversammlungen. Wenn es notwendig sein wird, werden andere beschließende Körperschaften gebildet.
Die ausführenden Organe der I.W.W. (Geschäftsführender Hauptausschuß) sind das Exekutiv Board und ein Sekretariats-Schatzmeister. Jede einzelne Industrie-Union hat einen Sekretariats-Schatzmeistei und ein General-Organisations-Komitee.
So ist die Kampffront von heute zugleich das Gerippe der Produktions- und Distributionsmaschinerie der neuen Gesellschaft, wie wir sie uns vorstellen; und wir wollen diese Maschinerie zur Industrie-Verwaltung der Zukunft machen.
Hinzukommen die Verwaltungsorgane mit geographischem Charakter, wie sie für lokale und regionale (weitere) Gebiete gebraucht werden, um die Funktionen der jetzigen Lokalverwaltungen zu übernehmen, wenn diese nicht mehr zur Zufriedenheit der Mehrheit der Menschen arbeiten. Diese Organe werden ebenfalls gewählt, vermittels des industriellen Wahlrechts (in den Betrieben). Sie werden nicht politischen, sondern industriellen Charakter tragen. Diese lokalen und regionalen Industrieräte haben ihr Gegenstück in den gegenwärtigen Arbeiterräten: dem russischen Sowjet, dem französischen Bureau de Travail, der deutschen Arbeiterbörse, der italienischen Camera di Lavoro, der skandinavischen Lokal-Samorganisation.
Aus Prinzip enthält sich die I.W.W. der Aufstellung einzelner Vorschriften von eiserner Härte für künftige Generationen. Wir wollen die neuen Organisationen bilden, wenn wir soweit sind, indem wir uns dem ökonomischen Zwang anpassen. Es ist dies besser, als uns schon heute irgendeinem Dogma oder einer gebieterischen Philosophie, wie Sozialismus, Bolschewismus oder Anarchismus zu verschreiben. Die I.W.W. kann Bolschewisten, Sozialisten und Anarchisten als Mitglieder haben, doch keine dieser Richtungen kann die I.W.W. als ihr Werkzeug betrachten. Die I.W.W. bahnt sich ihren Weg allein.
Wenn man uns einen kurzen Namen geben will, so nenne man uns Industrie-Kommunisten. Wir sind das Produkt der ökonomischen Verhältnisse im höchst entwickelten Industrieland der Welt; unser ganzes Leben ist mit industrieller Tätigkeit verbunden, wir denken und sprechen in Ausdrücken der Industrie und so suchen wir auch Rettung durch industrielle Organisationen. Wir sind Industrie-Kommunisten. Sozialisten, Bolschewisten, Anarchisten und alle anderen Arbeiter der verschiedensten Gedankenrichtungen nehmen unsere Philosophie, Prinzipien, Ziele, Methoden, Struktur und sogar unseren Namen an. Auf der Basis unserer Prinzipien strecken wir unsere Hand übers Meer, bereit, mit den Industrie-Unionisten aller Länder die Industrie-Internationale zu bilden. Die Internationale, die die Träume der Begründer unserer Organisation realisieren soll, und die sie den Namen wählen ließen: Die Industrie-Arbeiter der Welt.
So wichtig auch die Arbeiten der I.W.W. auf industriellem Gebiete sein können, ihre Hauptaufgabe jedoch ist immer die Erziehung der arbeitenden Massen. Durch ihre Anstrengungen auf diesem Gebiet wurde die I.W.W. eine Weltbewegung. Unglücklicherweise ist sie gegenwärtig nur in der Lage, den elementarsten, industriellen Unterricht zu geben; obwohl als erstes von allem eine höchst vervollkommnete, allgemeine Erziehung notwendig ist.
Statistiken zufolge weist die Unbildung in den U.S.A. schwankende Zahlen auf. Ungeschulte findet man nicht allein bei Negern und Ausländern, sondern ebensowohl unter den eingeborenen Weißen. Die Zahl der letzteren ist in bestimmten Teilen des Landes größer als allgemein bekannt. Auf der Basis der letzten großen militärischen Volkszählung schätzten Autoritäten die Unbildung unter den erwachsenen Bürgern auf 25 Prozent. Diese ungeschulten befinden sich erfahrungsgemäß innerhalb der Arbeiterklasse. Auf gleicher Linie bewegt sich die große Gruppe der wenig oder teilweise Geschulten. Nur ein verhältnismäßig kleiner Prozentsatz der Arbeiter kann mit dem gedruckten Wort umgehen; von 40 Millionen Arbeitern nur 10 Millionen. Der Rest ist gleichgültig oder unzugänglich, verkettet in Unwissenheit und Unbildung.
Wie schlecht es um die Erziehungsfrage steht, beweisen die Kriegszählungen. Psychologen bestimmten nach Prüfung von 1 700 000 Armee-Rekruten, daß das intellektuelle Durchschnittsalter des zum Militärdienst tauglichen Amerikaners 13 Jahre beträgt. Weniger denn ein Drittel der Bevölkerung steht über diesen Durchschnitt und nur 4 1/2 Prozent weisen eine höhere Intelligenz auf, wie dieselbe offizielle Statistik besagt.
Dies ist ein schlimmer Zustand, der die relative Langsamkeit in der Arbeit unserer Organisation erklärt.
Die Gewerkschaften sind zum größten Teil eine bloße Verschwörung, geführt von einem Renommisten, der alles weiß, während die Mitglieder nichts zu wissen brauchen, außer dem Zahlen ihrer Beiträge. Bei der I.W.W. ist es anders. Es erfordert einen etwas trainierten Verstand, mit einer Intellektualität überhalb der statistisch festgestellten Zahl von 13 Jahren, um ihre weltumspannende Bedeutung zu begreifen. Die Unwissenheit ist daher das größte Hindernis, das wir zu überwinden haben. Es ist um vieles größer als die kapitalistische Verfolgung. Die Kapitalisten wissen, was sie tun, wenn sie sich weigern, Schulen zu bauen.
Ein unwissender Arbeiter ist für das Trachten und Sehnen seiner Klasse in dieser kritischen Zeit ebenso gefährlich, wie ein Blattern- oder Pestkranker für unsere Gesundheit. Aus diesen Gründen versuchen wir taktvoll, doch fest und unermüdlich, unsere ungeschulten Genossen zum Lernen zu bewegen. Die Lerngelegenheiten sind mannigfaltig, wenn wir uns nur danach umsehen. Einem ungeschulten Mann ist die zusammenhängende Darlegung irgend eines Gegenstandes nicht beizubringen und seine Meinung in großen Angelegenheiten ist so gut wie wertlos. Ueber seine eigenen Erfahrungen hinaus weiß er wenig oder gar nichts. Ihm sind geistig die Augen verbunden, doch er bleibt trotzdem immer unser Bruder und Genosse.
Was wir von dem Ungeschulten sagten, läßt sich auch auf die wenig Geschulten anwenden. Sie sind wohl imstande, ein Wort zu buchstabieren und ihren Namen zu kritzeln, jedoch vollkommen unfähig, selbständig zu denken. Was sie „geistig“ bewegt, sind allein die Skandalgeschichten der bürgerlichen Presse. Wie sein ungeschulter Bruder treibt auch er hilflos dem sozialen Untergang zu, bis jemand ihm zu Hilfe kommt.
Seit ihrer Entstehung zeigte die erste Seite des offiziellen Organs der I.W.W. beständig die drei Worte: „Erziehung, Organisierung, Befreiung.“ Diese drei Worte besagen alles. Bevor wir uns selbst befreien können, müssen wir geschult und organisiert sein.
Wenn die Menschen einen friedlichen Uebergang wollen, so sollten sie Schulhäuser bauen, wünschen sie eine Katastrophe, so sollen sie deren Türen schließen. Anstatt verzweifelte Menschen mit Gefängnisstrafen und Maschinengewehren zu unterdrücken, sollte man sie unterrichten, damit sie die sozialen Probleme beseitigen können. Ehe nicht die Arbeiter eine gute Allgemeinbildung haben, fällt ein gutes Teil unserer industriellen Erziehung auf unfruchtbaren Boden; oder aber sie kann nur elementarster Natur sein und somit nur eine winzige Hilfe in der Bewältigung der gigantischen Probleme des Tages, dies um so mehr, da die heutigen Probleme so kompliziert sind, daß ihnen nur ein hochentwickelter Verstand gewachsen ist.
Wie es auch sein mag, es besteht keine Aussicht auf ausschlaggebende Verbesserungen im Erziehungswesen und dies so lange, bis sich alle Lehrer in einer großen Union organisieren und mit vereinten Kräften für ein weitreichendes Programm guter Allgemeinbildung mit besonderer Betonung der Geschichte, praktischen Oekonomie und der Entwicklungslehre in ihren verschiedensten Betrachtungen einsetzen.
Die Mitglieder der I.W.W. haben im Laufe der Jahre tausende Reden gehalten und wohl 10 Millionen Stück Literatur in Form von Büchern, Pamphleten, Zeitungen, Broschüren und Flugblättern etc. verteilt. Der auf diese Weise meist verbreitetste Unterricht war allgemeiner soziologischer Natur. Bis jetzt war die Organisation noch nicht in der Lage, sich in größerem Umfange auf höheren industriellen Unterricht zu spezialisieren, jedoch standen schon Pläne unter Diskussion, die sich damit befassten. Erwägt wurde die Einrichtung eines dauernden „Büros für industrielle Untersuchungen“, und ein „Unterrichtsbüro“ mit der Absicht, sich auf eine Industrie nach der anderen zu spezialisieren, um eine Serie von Industrie-Union-Handbüchern herauszugeben, sowie noch andere industrielle Literatur, in bezug auf das gesamte industrielle Gebiet. Solch eine Serie von Handbüchern, Blätter und Pamphlete würde den Griff der Arbeiter fester machen, wenn sie der Situation, die Produktion zu übernehmen, gegenüberstehen. Dieser Plan kann schon in nächster Zeit Wirklichkeit werden. Die I.W.W. gibt über ein Dutzend Tages-, Wochen- und Monatsschriften heraus, die durch unseren Sekretär-Schatzmeister zu beziehen sind.
Das Programm der I.W.W. ist auf den ersten Blick ein ökonomisches Dokument; doch wenn man sich näher damit befaßt, wird man feststellen, daß es im wesentlichen ein Dokument der „Hoffnung, des Glaubens und der Liebe“ ist. Hoffnung auf endgültige Gerechtigkeit, Glauben an die Menschlichkeit und Liebe untereinander. „Einen geschädigt heißt alle geschädigt,“ heißt es in unserem Programm und dies muß der goldene Grundsatz der proletarischen Lebensauffassung sein.
Die Zauberkraft unseres Evangeliums liegt nicht in den materiellen Vorteilen unseres Programms. Männer würden nicht allein für einige Dollar und Cents in die Gefängnisse gehen. Eine Tatsache ist, daß unsere Prinzipienerklärung die Posaune des jüngsten Gerichtes für die kapitalistische Gesellschaft ist. Die Prinzipienerklärung der I.W.W. ist eins der mächtigsten ethischen Dokumente unseres Zeitalters. Ja, für viele bedeutet die I.W.W. eine Religion. Sie hat für viele erreicht, was noch keine Religion vermochte, sie hat sie geschützt, gab Frieden ihrem Sinn und Hoffnung für die Zukunft.
Was uns auch unter dem schrecklichsten Druck zusammenhält, ist nicht nur der ökonomische Zwang, Unionen zu bilden, sondern auch die Hoffnung auf menschliche Solidarität und der weltumspannenden Bruderschaft von Männern, die auf demselben Boden kämpfen wie wir.
Die Menschen werden müde und erschlaffen geistig in der Hölle der heutigen Gesellschaft; sie schauen nach einer besseren Zukunft aus, wenn nicht für sich selbst, dann für künftige Generationen. Sie schauen aus für Befreiung aus der kapitalistischen Gesellschaft. Sie sehnen sich nach Frieden, Reinheit, Gerechtigkeit, Liebe und Glück und sie merken, daß ihnen die I.W.W. den Weg dorthin weist.
Die Empfindungen, die Ideen, die ethischen Grundsätze, welche leicht zwischen den Zeilen des I.W.W.-Programms zu lesen sind, wurden daher zur Religion der Armen, die sie durch die größten Prüfungen und Trübsale trägt und sie vor dem Zusammenbrechen und dem Aufgeben der Hoffnung schützt. Diese Religion hilft ihnen, ein reines Leben zu führen, macht sie mutig gegen die Starken und freundlich gegen die Schwachen und Schutzlosen und bereit, zu jeder Zeit ihre Person zu opfern, wo immer der verzweifelte Kampf der Massen in Flammen ausbricht. Sie ist das freundliche Licht, das sie durchs Leben führt.
Zuletzt aktualisiert am 14.2.2009