Clara Zetkin

 

Brief an Jossif Pjatnitzki

(19. Juni 1929)


E. Reuter, W. Hedeler, H. Helas, K. Kinner (Hrg.): Luxemburg oder Stalin. Schaltjahr 1928 – Die KPD am Scheideweg, Karl Dietz Verlag, Berlin 2003, Dok.122.
Kopiert mit Dank von der verschwundenen Webseite Marxistische Bubliothek.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Clara Zetkin
Berlin W 30, den 19. Juni 1929
Rosenheimer Str. 19 I r.
per Adr[esse] Pniower

Lieber Freund und Genosse Pjatnitzki,

Donnerstag Mittag kamen wir an. Ich meldete dem ZK noch am gleichen Tage meine Ankunft und ersuchte um das mir nötige Material über den Parteitag.

Freitag früh erschien mein alter Freund Wilhelm [Pieck] als Führer einer Delegation der internationalen Vertretung beim Parteitag. Sie bestand aus den Genossen Gallacher, Sémard, dem Delegierten aus der Sowjetunion und einem Übersetzer.

Genosse Gallacher sang einen Hymnus auf die Güte und Kraft der KPD, ihrer erstaunlichen Leistungen und die großen Verdienste der Führung. Genosse Sémard erklärte, sie seien gekommen, „um mich über die Situation in der KPD, in der deutschen Arbeiterklasse und die Lage in Deutschland aufzuklären und zu informieren“, da ich nicht genügend informiert sei.

Ich antwortete darauf, daß ich den Genossen für ihr Bemühen dankbar sei und ihre Meinung mit der mir gegenüber ihrem Amt und ihrer Kenntnis der Materie zukommenden Bescheidenheit anhöre. Indessen dürfe ich wohl, und ohne anmaßend zu sein, darauf verweisen, daß ich auf Grund meiner vieljährigen Arbeit unter dem deutschen Proletariat und meines sehr gewissenhaften Studiums der Materialien und Dokumente von allen Strömungen – niemand könne bestreiten, daß ich die deutsche Sprache kenne – immerhin einige Sachkenntnis der innerparteilichen und außerparteilichen Situation besitze. In der Folge habe ich mir eine eigene Meinung gebildet.

Nach etwas verlegenen Redensarten der Delegierten erklärten sie mir den weiteren Zweck des Besuches. Es handle sich um die Feststellung meiner Meinung und meiner Bereitwilligkeit, mich für die Vorschlagsliste der Mitglieder des zu wählenden ZK aufstellen zu lassen. Ich erklärte darauf wörtlich: Ich lehne grundsätzlich nie eine Arbeit, einen Arbeits- oder Kampfesposten ab, der mir von der Partei anvertraut wird. Das gilt auch für den vorliegenden Fall. Indessen müsse ich betonen, daß ich die jetzige Politik der Partei und insbesondere die Politik der jetzigen Zentrale entschieden mißbillige, für schädlich, gefährlich halte. Sie stehe im schroffsten Widerspruch zu den unter Lenins Führung vom 3. Weltkongreß festgelegten Grundsätzen kommunistischer Politik. Sie stehe ebenso im schroffsten Widerspruch zu der gegenwärtigen Situation und ihren Aufgaben für die KPD. Diese Politik macht meiner Überzeugung nach die KPD unfähig, sich ideologisch und organisatorisch zur revolutionären Massenpartei zu entwickeln und mit Niederkämpfung des Reformismus, mit Umwandlung der reformistischen Arbeiter in revolutionäre Klassenkämpfer als Führerin der Mehrzahl der Proletarier, der Werktätigen, die proletarische Weltrevolution zu beschleunigen und zu organisieren. Ich werde meine Einstellung schriftlich formulieren, nachdem ich alles Material erhalten habe. Bis jetzt habe ich davon nur einen Teil erhalten, nämlich die Thesenentwürfe, aber keinen Bericht, keine Beschlüsse. Es gab noch freundschaftliches Hin- und Herreden ohne Belang. Ich kommentiere den Vorgang nicht. Ich kritisiere ihn nicht. Ich stelle ihn einfach streng sachlich fest. Nicht aus Lust und Liebe zum Erzählen. Ich will jedoch das Meine tun, um etwaiger Legendenbildung vorzubeugen, gegen die ich allerdings auch dadurch nicht geschützt bin.

Die ärztlichen Konsultationen haben begonnen. Sie dürften etwa zwei Wochen dauern. Ich bin zu schwach, um sie rasch nacheinander, ohne Zwischenpause auszuhalten. Erst nach den Untersuchungen wird festgestellt werden, wohin ich zur Kur gehen soll. Bitte, lieber Freund, vergessen Sie nicht Ihr Versprechen, die Zentrale betreffs der Schreibmaschine und der Auszahlung der Gehälter für uns drei zu benachrichtigen.

Alles Gute, Beste. Mit herzlichem Gruß und Handschlag

Clara Zetkin


Zuletzt aktualisiert am 19.7.2008