Leo Trotzki

 

Die Fragen von Wendelin Thomas [1]

(6. Juli 1937)


Zuerst veröffentlicht in englischer Sprache in Socialist Appeal, 21. August 1937.
Nachgedruckt in Writings of Leon Trotsky (1936-37), herausgegeben bei Pathfinder Press.
Übersetzung: Internationale Sozialisten.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Geschätzter Genosse!

Ich glaube nicht, daß die Fragen, die Du mir gestellt hast, eine direkte Beziehung zu den Untersuchungen der New Yorker Kommission haben oder Einfluß auf deren Schlußfolgerungen haben könnten. Nichtsdestoweniger bin ich vollkommen bereit, Deinen Fragen zu antworten, um alle, die sich dafür interessieren, mit meinen wirklichen Ansichten vertraut zu machen.

Wie viele andere siehst Du die Wurzel allen Übels im Prinzip „Der Zweck rechtfertigt die Mittel“. Dieses Prinzip ist in sich selbst sehr abstrakt und rationalistisch. Es läßt die allerverschiedensten Deutungen zu. Aber ich bin bereit, die Verteidigung dieses Prinzips auf mich zu nehmen – vom materialistischen und dialektischen Standpunkt. Ja, ich schätze daß es keine Mittel gibt, die an sich oder in Verbindung mit einem absoluten, über der Geschichte stehendem Prinzip gut oder schlecht sind. Diejenigen Mittel, die dazu beitragen, die Macht des Menschen über die Natur zu vergrößern und die Macht von Menschen über Menschen abzuschaffen, sind gut. In diesem breiten historischen Sinn können die Mittel nur durch den Zweck gerechtfertigt werden.

Bedeutet das jedoch nicht, daß Falschheit, Verrat und Betrug zulässig und gerechtfertigt sind, falls sie zum „Zweck“ führen? Alles hängt von der Natur des Ziels ab. Falls das Ziel die Befreiung der Menschheit ist, dann können Falschheit, Verrat und Betrug nicht die geeigneten Mittel sein. Die Epikuräer wurden von ihren Gegnern angeklagt, zu den Idealen eines Schweins hinabzusinken, als sie „Glücklichsein“ verteidigten. Worauf die Epikuräer nicht ohne Berechtigung antworteten, daß ihre Gegner Glücklichsein auf eine ... schweinische Art verstanden.

Du beziehst Dich auf Lenins Worte, daß eine revolutionäre Partei das „Recht“ hat, ihre Gegner in den Augen der Massen verhaßt und verächtlich zu machen. In diesen Worten siehst Du eine prinzipielle Verteidigung des Unmoralischen. Allerdings vergißt Du herauszustreichen wo, in welchem politischen Lager die Vertreter erhabener Moral sich befinden. Meine Beobachtungen zeigen mir, daß im politischen Kampf im allgemeinen weitverbreitete Übertreibung, Verzerrung, Falschheit und Verleumdung benutzt werden. Die Revolutionäre sind immer die am meisten Verleumdeten; in ihrer Zeit Marx und Engels und ihre Freunde; später die Bolschewiki, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg; zur heutigen Zeit die Trotzkisten. Der Haß der Besitzenden gegenüber der Revolution; der bornierte Konservativismus des Kleinbürgertums; die Eitelkeit und Überheblichkeit der Intellektuellen; die materiellen Interessen der Arbeiter-Bürokraten – alle diese Faktoren fließen zusammen in der Jagd nach dem revolutionären Marxisten. Zur selben Zeit vergessen die Herren Verleumder nicht, über die Unmoral der Marxisten entrüstet zu sein. Diese heuchlerische Entrüstung ist nichts als eine Waffe des Klassenkampfs.

In den von Dir zitierten Worten wollte Lenin lediglich sagen, daß er die Menschewiki nicht länger als proletarische Kämpfer betrachtet, und er macht es sich zur Aufgabe, sie in den Augen der Arbeiter hassenswert zu machen. Lenin drückte seinen Gedanken mit charakteristischer Leidenschaft aus und machte zweideutige und unwürdige Interpretationen möglich. Aber auf der Basis von Lenins Gesamtwerk und seiner Lebensarbeit erkläre ich, daß dieser unversöhnliche Kämpfer ein sehr loyaler Gegner war, denn trotz aller Übertreibungen und Extreme strebte er immer danach, den Massen zu sagen, was ist. Der Kampf der Reformisten gegen Lenin auf der anderen Seite war durch und durch mit Heuchelei, Falschheit, Betrügerei und Verleumdungen durchzogen, unter dem Vorwand universeller Wahrheiten.

Deine Einschätzung des Kronstädter Aufstands von 1921 ist grundsätzlich falsch. Die besten, aufopferungsvollsten Matrosen waren vollständig von Kronstadt abgezogen worden und spielten eine wichtige Rolle an den Fronten und in den lokalen Sowjets. Übrig blieb die graue Masse mit großen Ansprüchen („Wir sind von Kronstadt“), aber ohne politische Erziehung und unvorbereitet für revolutionäre Opfer. Das Land war am Verhungern. Die Kronstädter forderten Privilegien. Der Aufstand wurde getragen vom Wunsch, bevorzugt Nahrungsmittelrationen zu bekommen. Die Matrosen hatten Kanonen und Schlachtschiffe. Alle reaktionären Elemente, sowohl in Rußland und im Ausland, stürzten sich sofort auf diesen Aufstand. Die Weißen Emigranten forderten Hilfe für die Aufständischen. Der Sieg dieses Aufstandes konnte nicht anderes mit sich bringen, als den Sieg der Konterrevolution, vollkommen unabhängig von den Ideen, die die Matrosen in ihren Köpfen hatten. Aber sogar die Ideen selbst waren zutiefst reaktionär. Sie spiegelten die Feindseligkeit der rückständigen Bauernschaft dem Arbeiter gegenüber wider, die Wichtigtuerei des Soldaten oder Matrosen gegenüber dem „zivilen“ Petersburg, den Haß des Kleinbürgertüms gegenüber revolutionärer Disziplin. Die Bewegung hatte deshalb konterrevolutionären Charakter und konnte von dem Zeitpunkt, als die Aufständischen Besitz von den Waffen in den Forts ergriffen, nur noch mit Hilfe von Waffen niedergeschlagen werden.

Nicht weniger irrtümlich ist Deine Einschätzung von Macho. Er war in sich selbst eine Mischung von Fanatiker und Abenteurer. Er wurde zur Konzentration derselben Tendenzen, die den Aufstand von Kronstadt herbeiführten. Die Kavallerie ist im allgemeinen der reaktionärste Teil der Armee. Der Reiter verachtet das Fußvolk. Machno schuf eine Armee von Bauern, die sich ihre eigenen Pferde besorgten. Dies waren nicht die heruntergekommenen Dorfarmen, die die Oktoberrevolution zuerst aufweckte, sondern die starken und gutgenährten Bauern, die sich davor fürchteten, ihren Besitz zu verlieren. Die anarchistischen Ideen von Machno (das Ignorieren des Staates, Nichtanerkennung der Zentralgewalt) entsprach so sehr dem Geist dieser Kulaken-Kavallene wie nichts anderes es vermochte. Ich sollte noch hinzufügen. daß der Hass gegenüber der Stadt und dem städtischen Arbeiter von seiten der Gefolgschaft Machnos durch einen militanten Antisemitisnius ergänzt wurde. Zur selben Zeit als wir einen Kampf auf Leben und Tod gegen Denikin und Wrangel ausfochten, versuchten die Anhänger von Machno eine unabhängige Politik auszuführen. Sich gegen die Zügel sträubend, dachte der Kleinbürger (Kulak), er könne seine widersprüchlichen Ansichlen auf der einen Seite den Kapitalisten und auf der anderen Seite den Arbeitern aufzwingen. Dieser Kulak war bewaffnet; wir mußten ihn entwaffnen. Das ist genau was wir taten.

Dein Versuch zu schlußfolgern, daß Stalins Verleumdungen von der „Unmoral“ der Bolschewiki herrühren, ist grundsätzlich falsch. In der Periode, als die Revolution für die Befreiung der unterdrückten Massen kämpfte, nannte sie alles beim richtigen Namen und bedurfte keiner Verleumdungen. Das System der Fälschungen beruht auf der Tatsache, daß die stalinistische Bürokratie für die Vorrechte der Minderheit kämpft und gezwungen ist, ihre wirklichen Ziele zu verbergen und zu maskieren. Anstatt eine Erklärung in den materiellen Bedingungen der geschichtlichen Entwicklung zu suchen. schaffst Du die Theorie von der „Erbsünde“, die zur Kirche paßt, aber nicht zur Sozialistischen Republik.

Hochachtungsvoll, Dein L. Trotzki

 

Anmerkung

1. Wendelin Thomas (geb. 1884) war ein früherer kommunistischer Abgeordneter des Reichstages in der Weimarer Republik (von 1920-24) und ein Mitglied der Untersuchungskommission über die Beschuldigungen gegenüber Leo Trotzki, die die Moskauer Schauprozesse untersuchte. – Trotzki schrieb diesen Brief von Coyoacan, Mexiko, wo er zuletzt im Exil war.

 


Zuletzt aktualiziert am 21.7.2008