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Reichenberg; Der Kampf, Jg. 2, Nr. 12, 1.9.1909. Die Werbekraft des Internationalismus; Der Kampf, Jg. 3, Nr. 4, 1.1.1910.
Abgedruckt in Josef Strasser: Der Arbeiter und die Nation, Wien, Junius Verlag, 1982, S. 68ff.
Transkription u. HTML-Markierung: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.
Ich bin nicht aus Reichenberg und ich war darum einigermaßen verdutzt, als mir zum erstenmal die Worte ans Ohr schlugen: „Ich bin ein Reichenberger.“ Wer diese Worte nur liest, wird das vielleicht nicht verstehen; man muß sie hören. Aus dem Munde eines Reichenberger Bürgers klingen sie, wie einst das eherne „civis Romanus sum“ geklungen haben muß: stolz, herrisch, drohend. Denn die spezifische Tugend des Reichenberger Bürgertums ist eine leidenschaftliche Selbstachtung. Sie offenbart sich in allen seinen Lebensäußerungen, und ihre Wirkungen sind erstaunlich. Zum Beispiel erscheint dem Reichenberger Spießer seine geliebte Vaterstadt, durch dieses Vergrößerungsglas gesehen, als die „Metropole von Deutschböhmen“. In den Vororten ist das Ansehen der Stadt freilich schon etwas geringer, immerhin ist sie noch weit über deren Bereich hinaus berühmt als das deutschböhmische Manchester. Dieses Wort hat auch seine Berechtigung, wofern man das Attribut deutschböhmisch als Proportionsbestimmung nimmt. Reichenberg verhält sich zu Manchester wie Deutschböhmen zu England. Wer sich also unser Manchester als eine große schmutzige Fabrikstadt mit den zu einer solchen gehörigen öden Proletariervierteln vorstellt, der irrt unmenschlich. Reichenberg ist, nach europäischen Begriffen, ein Landstädtchen. Sehr hübsch zwischen bewaldeten Bergen gelegen, durch Fabriken und Zinskasernen nur wenig verunstaltet, mit einem koketten Villenviertel renommierend, da und dort eine schwache Neigung zu sächsischer Sauberkeit verratend, macht die Stadt viel weniger den Eindruck eines Industrie- und Handelszentrums als zum Beispiel Aussig. Diese kräftig aufstrebende Stadt war für die Reichenberger einst ein Gegenstand geringschätzigen Spottes; nun aber, da sie eine ernste Konkurrentin im Kampfe um den Rang der Metropole Deutschböhmens geworden ist, betrachten sie sie mit einer nur mühsam unter einem hochnäsigen Gehaben versteckten neidischen Unruhe. Denn Reichenberg stagniert. Die Bevölkerungszahl ist seit Jahren stationär, ungefähr 36.000. Reichenberg hat nämlich die niedrigste Geburtenfrequenz in Deutschböhmen (im Jahre 1908 13,5 Promille). Scheinbar ein Paradoxon: Die Weber sind berühmt durch ihren Kinderreichtum, und da haben wir ein Zentrum der Textilindustrie, dessen Bevölkerung keinen Geburtenüberschuß aufweist. Aber dieser vermeintliche Widerspruch erklärt sich sehr einfach. Reichenberg ist keine Arbeiterstadt. Die Masse der in Reichenberg beschäftigten Arbeiter wohnt in den Vororten und mitunter ziemlich weit entfernten Dörfern. Und das Bürgertum von Klein-Paris an der Neiße (wie der Reichenberger Bürger trotz der deutschesten Abneigung gegen welsche Art sein Reichenberg nicht ungern nennen hört) huldigt dem Zweikindersystem. In Reichenberg gibt es also mehr Todesfälle als Geburten. Aber auch die Zuwanderung kommt der Stadt nicht zugute. Ein eng anliegender Gürtel von Vororten hindert ihre räumliche Entwicklung. Solange diese Vororte der Stadt nicht einverleibt sind, kann von einer nennenswerten Stadterweiterung keine Rede sein. Die Eingemeindung wird auch schon seit Jahrzehnten angestrebt, aber die Verwirklichung von „Groß-Reichenberg“ liegt trotzdem noch in weiter Ferne. Denn die Herren der Stadt zeichnen sich durch eine Unfähigkeit aus, die es vielen als ein Mysterium erscheinen läßt, daß sie sich behaupten können. Die Gemeindevertretung der Industriestadt Reichenberg tut nichts für die Industrie – kein anderes Verkehrszentrum Österreichs hat zum Beispiel so erbärmliche Bahnverbindungen wie Reichenberg. Unsere Stadtväter tun nichts für den einen unverhältnismäßig großen Teil der Bevölkerung umfassenden neuen Mittelstand. Nichts für das Kleinbürgertum: die kleinen Leute werden von einem vormärzlich reglementierungswütigen und topfguckerischen Magistrat geschurigelt. Die Approvisionierung der Stadt ist so miserabel, daß das Leben in Reichenberg so teuer ist wie in Wien, wenn nicht teurer.
Keine Klasse der Bevölkerung, am wenigsten natürlich die Arbeiterschaft, kommt bei der Reichenberger Gemeindewirtschaft auf ihre Rechnung – mit Ausnahme der Hausherren. Dennoch steht der herrschenden Clique keine kräftige Opposition gegenüber. Ein Gemeindewahlkampf ist in Reichenberg heute etwas Unerhörtes; als Ersatz wurde der Bevölkerung während der heurigen „Wahlkampagne“ eine hitzige Zeitungspolemik über einen eben in Reichenberg gastierenden Zirkus geboten. Wie derartige Zustände möglich sind? Die Reichenberger Arbeiterschaft, die unter der Wirtschaft im Rathaus am meisten leidet, kann auf die Gemeindeverwaltung keinen Einfluß nehmen. Sie ist vom Gemeindewahlrecht ausgeschlossen, und der Kritik, die sie außerhalb der Gemeindestube üben kann, verleiht keine starke Organisation den erforderlichen Nachdruck. Reichenberg ist ja, wie schon erwähnt, eine Art City; von den Arbeitern, die in der Stadt beschäftigt sind, wohnt die Mehrheit draußen. Der Kleinbürger ist in Reichenberg, wie er überall ist, wo ihn der Kapitalismus bedrängt: verwirrt, ziellos, die Beute jedes Demagogen. Am Biertisch schimpft er jahraus, jahrein in der wütigsten und unflätigsten Weise auf die Leute, denen er mit dem Stimmzettel sein Vertrauen bezeugt hat; kommt aber der Wahltag, so wählt er sie wieder. Und der neue Mittelstand? Er ist in Reichenberg sehr stark, denn die Stadt beherbergt eine Menge Ämter, Lehranstalten, gewerbliche und kommerzielle Institute etc.; da er unter den Approvisionierungsverhältnissen und der Wohnungsmisere empfindlich leidet, sollte man glauben, daß er den Beherrschern der Gemeinde eine sehr energische Opposition macht, was ihm obendrein durch die Wahlordnung sehr leicht gemacht wäre. Aber es scheint, daß der neue Mittelstand ganz unfähig ist, ein gemeinsames Bewußtsein zu entwickeln oder sich gar zu einer gemeinsamen Aktion zusammenzuschließen. In Reichenberg wenigstens ist es mit der „Intelligenz“ nicht so weit her. Ein paar Proben: Eine von den Reichenberger Intellektuellen gegründete „wissenschaftliche Gesellschaft“ nimmt keine Frauen auf, weil darunter der Ernst der Reichenberger Forschung leiden könnte. Eine andere Schöpfung der Reichenberger Intelligenz, der „Verein für kommunale Angelegenheiten“, ist auch nicht ohne. Dieser Verein sollte ein Sammelpunkt der kommunalen Opposition werden, ist aber ein Tummelplätzchen harmloser Narrheit und mißvergnügter Impotenz geworden, trotzdem sich unter seinen Mitgliedern, was besonders charakteristisch ist, auch einsichtige und kenntnisreiche Männer befinden. Kurz, die Reichenberger Stadtväter haben keine Opposition, können keine haben, und so ist dem jetzigen Regiment ein langes Leben verbürgt. Es wird nicht fallen, bevor nicht Eingemeindung und Wahlreform unvermeidlich geworden sind und so die Arbeiterschaft auf die Gemeindeangelegenheiten Einfluß bekommt. Bis dahin wird die idyllische Ruhe des Reichenberger Sumpfes – das Wort hat ein bürgerliches Blatt geprägt – nichts und niemand zu stören vermögen.
Das Reichenberger Bürgertum ist natürlich national. Aber entsprechend seiner behäbigen Schwerfälligkeit hat es sich für den rabiaten Radikalnationalismus nie sonderlich erwärmen können. Der lederne Prade ist der klassische repräsentative Mann des Reichenberger Nationalismus. In der letzten Zeit hat sich im nationalen Lager Reichenbergs freilich manches geändert: die Reichenberger Gassenjugend wird jetzt national organisiert, und die Herren Wolf und Stransky haben bereits ihre Visitenkarten hier abgegeben. Ob die „Radikalisierung“ des Reichenberger Nationalismus gelingen wird, bleibt allerdings noch abzuwarten. Im übrigen zeichnet sich der Nationalismus in der Metropole Deutschböhmens durch die gleiche Großzügigkeit aus wie überall: sein Gesichtskreis reicht nicht über die Stadtgrenze hinaus. Im letzten Wahlkampf war Prades Hauptargument gegen seinen deutschvölkischen Gegenkandidaten dieses: „Reichenberg braucht keinen Abgeordneten aus Harzdorf' (ein Vorort von Reichenberg, in dem der Gegenkandidat wohnte). Das Steckenpferd des Reichenberger Nationalismus ist nun die Zweiteilung Böhmens. Unsere Nationalen schwärmen für sie aus zwei Gründen: erstens wegen der tschechischen Bürgerschule in dem Vorort Oberrosenthal, deren kaum noch zu verhindernde Errichtung ihnen schwere Sorgen macht, die sie durch die Zweiteilung mit einem Schlag loszuwerden hoffen. Und zweitens möchten sie für ihr Leben gern Hauptstädter werden und ihr Reichenberg nicht nur durch seine Räucherwürste, sondern auch durch seine aus Prag transferierte Universität berühmt sehen.
Und nun das proletarische Reichenberg, die Wiege der österreichischen Sozialdemokratie.
Nach dem Gesagten ist schon klar, daß Reichenberg nur ein geographisches und administratives Zentrum der Bewegung sein kann und die Rolle, die es in der Parteigeschichte spielt, nicht der Größe und Stärke seiner Organisation verdankt. Manches Städtchen von fünf- bis sechstausend Einwohnern hat eine fast ebenso große Lokalorganisation wie Reichenberg. Spricht man also von der Reichenberger Arbeiterbewegung, so ist immer das ganze Reichenberger Gebiet gemeint. Die Reichenberger Arbeiterschaft weist auch dieselben Charakterzüge auf wie die Arbeiterschaft auf dem Lande draußen; ein modernes städtisches Proletariat hat die Metropole von Deutschböhmen nicht hervorgebracht.
In den Reichenberger Textilarbeitern regte sich schon frühzeitig das proletarische Bewußtsein, und heute ist in großen Schichten der hiesigen Arbeiterschaft der Sozialismus schon Tradition geworden. Ursprünglich hatte dieser Sozialismus einen starken religiösen Einschlag. Die ersten sozialistischen Agitationsschriften, die nach Nordböhmen kamen, wurden fast christlich ausgelegt. Arm und reich waren nicht ökonomische, sondern moralische Kategorien – wie in den Evangelien. Nicht als wirtschaftliche Notwendigkeit begriff man die sozialistische Gesellschaft, sondern als endliche Erfüllung einer moralischen Forderung, als ein Werk der ewigen Gerechtigkeit. Der „Zukunftsstaat“ war nur eine neue Auflage des tausendjährigen Reiches.
Daß der nordböhmische Sozialismus in seinen Anfängen solche Formen annahm, hat natürlich seine guten Gründe. Den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit hatten die Reichenberger Textilarbeiter schon früh in seiner ganzen Schroffheit klar erfaßt; dafür war durch die Wollbarone gründlich gesorgt. Wie diese Herren heute zu den rücksichtslosesten Scharfmachern gehören, so waren sie immer brutale Ausbeuter und Unterdrücker. Wie diese Ausbeutung und Unterdrückung überwinden? Die Arbeiter hatten keine Organisation, nicht einmal eine Organisationsmöglichkeit, keine politischen Rechte, nichts. Als eine Machtfrage konnten sie also die Arbeiterfrage nicht auffassen, wenn sie nicht an der Zukunft ihrer Sache verzweifeln wollten. Blieb somit nur die Hoffnung auf die „Idee“. Es galt, so glaubten die ersten nordböhmischen Sozialisten, die Guten und Einsichtigen von der Erhabenheit der sozialistischen Idee zu überzeugen. Nur im Kampfe der Geister, ohne Gewaltanwendung, durch friedliche Propaganda sollte die sozialistische Gesellschaft vorbereitet werden.
Diese Auffassung mußte sich umso eher ausbreiten, als sie den nordböhmischen Textilarbeitern „lag“. Das waren keine Draufgänger, sondern Grübler, Sinnierer, ganz dem Geistigen zugewandt. Sie empfanden viel schmerzlicher die Unmöglichkeit, eine umfassende Bildung zu erwerben, als die Unmöglichkeit, sich ordentlich zu ernähren. Man fand unter ihnen viele, die, wenn sie auch ihren Magen nie ordentlich füllen konnten, doch einen wohlgefüllten Bücherkasten besaßen und sich mit allen möglichen und unmöglichen Problemen abplagten. Der Sozialismus interessierte sie – wie etwa die Kant-Laplacesche Theorie oder der Darwinismus – ganz abstrakt, ohne praktische Beziehung auf ihr persönliches Leben. Dazu kam die stark ausgesprochene Neigung, für die Sache zu leiden. Für die Sache leiden und für die Sache wirken war ein und dasselbe.
Noch ein Umstand muß hier angeführt werden. So klar auch die Reichen-berger Arbeiter erkannten, daß sie von ihren Ausbeutern eine unüberbrückbare Kluft trennte, so wenig begriffen sie damals den Unterschied zwischen Proletariat und Kleinbürgertum. Sie kannten nur Arme und Reiche, und die Armen gehörten natürlich zusammen. Litt der Handwerker nicht unter der Konkurrenz des Fabrikanten? Mußte sich der Kleinbauer nicht für den Wucherer schinden? Waren nicht beide Stiefkinder des Staates? Und waren denn die einzelnen Klassen von Armen so streng voneinander geschieden? Viele Arbeiter waren Häusler, so mancher Bauer mußte seine Kinder in die Fabrik schicken. Mußte also nicht auch der kleine Geschäftsmann, der kleine Bauer leicht für den Sozialismus zu gewinnen sein? Und so agitierte man unter diesen Schichten ebenso eifrig wie unter den Arbeitern. Der Sozialismus verlor noch mehr alle proletarische Bestimmtheit, er wurde nun auch noch kleinbürgerlich mißverstanden. Jedem ein „anständiges Auskommen“, das heißt eine kleinbürgerliche Existenz – das erschien als das Ziel der sozialistischen Bewegung. Sozialdemokrat war –ich habe diese Definition noch selber von älteren Leuten gehört – „wer seine Lage verbessern wollte“. Der Einwand, daß dann Rothschild und Schwarzenberg auch Sozialdemokraten seien, galt natürlich nicht; denn man meinte selbstverständlich nur eine „berechtigte“ Verbesserung der Lage.
Es dauerte ziemlich lange, ehe sich die nordböhmische Arbeiterschaft von dieser Auffassung freimachte. Der Freigeist, der nun zwanzig Jahre erscheint, stand in seinen Anfängen noch in ihrem Banne. In seiner ersten Nummer –einer Programmnummer! – wird man die Ausdrücke Kollektivismus, Kapitalismus, Klassenkampf u.s.w. vergeblich suchen. Desto mehr ist von Vernunft, Wahrheit und Gerechtigkeit die Rede. Die Neigung zu dieser Phraseologie des kleinbürgerlichen Radikalismus wurde unterstützt durch den freidenkerisch outrierten, theoretisch an den seichtesten Rationalismus anknüpfenden Antiklerikalismus, der damals unter der nordböhmischen Arbeiterschaft gang und gäbe war, und an dem heute die Nationalen, die den Arbeitern gern das Gambettasche „Der Klerikalismus ist der Feind“ einreden möchten, vergebliche Wiederbelebungsversuche unternehmen.
Der kleinbürgerlich mißdeutete Sozialismus trieb die absonderlichsten Blüten. In den Dörfern entstand, lange vor Bernstein und ohne allen Aufwand an Gelehrsamkeit, der Bernsteinianismus in klassischer Reinheit und Schönheit. Die ganze revisionistische Blockpolitik wurde da antizipiert in den Gemeindeausschüssen. Unsere Dorfmillerands karikierten im vorhinein den sozialistischen Minister. Doch davon ein andermal ausführlicher.
Heute sind von diesem verwaschenen Sozialismus nur mehr kümmerliche Reste vorhanden. Die Reichenberger Arbeiterschaft hat in nicht ganz zwei Jahrzehnten eine durchgreifende Metamorphose durchgemacht.
Den ersten Anstoß dazu gab die Entwicklung der gewerkschaftlichen Bewegung. Die Gewerkschaft hat sich im Reichenberger Gebiet nur sehr schwer durchgesetzt. Aus verschiedenen Gründen. Vor allem fand sie hier eine Jahrzehnte alte Bewegung mit einer festen, eingealterten Organisationsform, dem Bildungsverein, vor. Die Bildungsvereine waren lange die Träger der Bewegung gewesen, sie hatten im Rahmen ihrer Möglichkeiten Bedeutendes geleistet, ja sie waren eine Zeitlang überhaupt die einzig mögliche Form der Organisation gewesen. Was Wunder, daß die älteren Genossen, die diese Vereine unter den größten Schwierigkeiten gegründet und in die Höhe gebracht hatten, sie nun mit Leidenschaft verteidigten. Ihr Hauptargument war der Hinweis auf die Unmöglichkeit, die kleinen Leute gewerkschaftlich zu organisieren. Sehr hinderlich waren der Entwicklung der gewerkschaftlichen Bewegung auch die im Verhältnis zu den Weberlöhnen horrend erscheinenden gewerkschaftlichen Beiträge; sowohl die Bildungsvereine als auch die alten Fachvereine – eine merkwürdige Kreuzung von Zunft und Gewerkschaft – hatten lächerlich niedrige Beiträge eingehoben. Dazu kam noch, daß von den Arbeitern viele keineswegs ganz besitzlos waren; sie besaßen ein Häuschen, einen Kartoffelacker, es waren Bauernsöhne unter ihnen, die von der Landwirtschaft noch nicht losgelöst waren. Was sollte denen die Streikunterstützung, die Arbeitslosenunterstützung? Wenn sie einmal streikten oder gelegentlich ein paar Wochen ohne Arbeit waren, so blieben sie einfach zu Hause; sie hatten ja eine Kuh im Stall oder wenigstens einen Haufen Erdäpfel im Keller – da konnten sie schon eine Weile aushalten.
So entfesselte die Frage: Gewerkschaft oder Bildungsverein? einen erbitterten Kampf innerhalb der Arbeiterschaft. Er endete selbstverständlich mit dem Siege der Gewerkschaften. Dessen Tragweite erkannten damals wohl nicht einmal die Sieger. Heute läßt sie sich ermessen. Vor allem hatten die nordböhmischen Arbeiter in der Gewerkschaft endlich eine rein proletarische Organisation gewonnen – eine Organisation, die schon vermöge des Materials, aus dem sie gebildet war, von einem anderen Geist beherrscht sein mußte als die alten Bildungsvereine. Zweitens war die Gewerkschaft eine Kampforganisation. Früher oder später mußte ihren Mitgliedern klar werden, daß es in dieser Welt vor allem nicht auf die „Bildung“, auf den „Geist“ ankommt, sondern auf den Willen; daß nicht der Kampf der Geister, sondern nur der Klassenkampf die Arbeiter ans Ziel führen kann.
Kam die Wahlreform. Sie wirkte auf unsere politischen Organisationen wie ein reinigendes Gewitter, indem sie sie mit einem Schlag von den unverläßlichen bürgerlichen Elementen säuberte, die bis dahin mit der Partei „sympathisiert“ hatten. Die Organisation ist darum nicht schwächer geworden. Im Gegenteil; die Zahl der politisch Organisierten ist heute weitaus größer als vor der Wahlreform – ganz abgesehen davon, daß die Organisationen durch jenen „Verlust“ an Geschlossenheit und Schlagfertigkeit gewonnen haben.
Eine weitere Verschärfung der Klassengegensätze bewirkte die Entwicklung der Konsumvereinsbewegung. Sie brachte uns um die Sympathien der Krämer. Durch ein paar Bierboykotts haben wir es mit den Gastwirten verschüttet. Ein Milchkrieg, den wir vor einigen Jahren führten, brachte die Organisation um manchen Freund und das Parteiblatt um manchen Abonnenten.
So hat sich in Nordböhmen in den letzten Jahren ein gewaltiger Umschwung vollzogen. Die Klassengegensätze sind heute hier so schroff wie sonst wohl nirgends im Reiche. Sowohl die Arbeiter als auch ihre Ausbeuter und Unterdrücker sind heute ganz andere Menschen als vor zehn Jahren. Die Unternehmer gefallen sich von Tag zu Tag besser in der Rolle der Herren im eigenen Haus und passen, nach zwei kläglich mißglückten Aussperrungen, ungeduldig auf eine günstige Gelegenheit zu einer neuen Machtprobe. Die bürgerlichen Parteien unterstützen das Scharfmachertum durch freilich mehr wütige als erfolgreiche Versuche, die geistig und moralisch minderwertigen Elemente der Arbeiterschaft völkisch zu organisieren, wie sie das Streikbrecherzüchten nennen. Und das Ideal unserer einst österreichisch-gemütlichen Bürokraten wird mehr und mehr der schneidige preußische Assessor. Polizeiliche und gerichtliche Drangsalierungen der Arbeiter werden immer häufiger.
Aber auch die Arbeiter sind heute andere. Anderthalb Jahrzehnte Organisationsarbeit haben ihnen nicht nur eine Macht gegeben, von der sie einst nicht einmal zu träumen gewagt hätten, sie haben auch ihre Psychologie vollständig verändert Der Reichenberger Arbeiter ist kein Träumer mehr. Er weiß heute, worauf es ankommt und hat seine Kräfte gebrauchen gelernt. Die Organisation hat ihn, den einst so Bedürfnislosen, Ansprüche erheben und durchsetzen gelehrt. In der Organisation der Jugendlichen wächst ein Geschlecht von prächtigen Frechdachsen heran, das unternehmungslustig ist, ohne darum weniger zu denken. Denn der theoretische Sinn ist den Reichenberger Arbeitern geblieben. Man findet im Reichenberger Gebiet eine Menge junge Genossen, die in der sozialistischen Literatur wohlbeschlagen sind. Sie sind nur realistischer als ihre Väter. Sie grübeln weniger über die ewigen Fragen der Menschheit und befassen sich um so ernster mit den Fragen, die der Tag ihnen stellt. Auch die Frauen fangen sich zu rühren an. Seit kurzer Zeit findet man in den politischen Versammlungen auffallend viele Frauen, und in rascher Aufeinanderfolge entstehen Frauenorganisationen – in einem Gebiet, in dem die Textilindustrie dominiert, eine sehr bedeutsame Erscheinung.
Der alte Opportunismus, die zarte Rücksicht auf die Mitläufer, die „Solidität“, wie die alten Genossen ihre beschauliche Gutmütigkeit nannten – all das ist heute fast völlig verschwunden. Die Reichenberger Arbeiter sind, wie die Gegner sagen, ruppige Gesellen geworden. Ihre Politik zieht immer mehr die Konsequenzen aus den tatsächlichen Verhältnissen. Sie haben kein Verständnis mehr für das Zusammenwirken mit dem bürgerlichen Freisinn, und der Nationalismus hat ihnen nicht die kleinste Konzession abgezwungen; nirgends wird der Internationalismus so schroff betont wie in Reichenberg. Diese Entwicklung zur Intransigenz hat bisher keine von den üblen Folgen gezeitigt, die man ihr so gern nachsagt. In unseren Organisationen herrscht ein reges Leben, sie werden täglich größer, stärker, schlagfertiger. Das proletarische Reichenberg stagniert nicht.
(...) Wir haben im letzten Jahrzehnt – nachdem die Bildungsvereine, in denen das Mitläufertum systematisch großgezogen wurde, durch die Gewerkschaften überwunden waren – auf die Mitläufer nicht die geringste Rücksicht genommen. Wir haben ihnen nicht die kleinste Konzession gemacht, nicht einmal die, uns „gute Deutsche“ zu nennen. Wir haben nicht nur leichten Herzens mitangesehen, daß sie der Partei den Rücken kehrten, wir haben ihren Exodus nach Kräften gefördert.
„Und das soll ein Erfolg sein?“ wird hier so mancher Genosse ausrufen. „Die Leute vor den Kopf stoßen, statt sie zu erziehen?“ Gemach, ich bin ja noch nicht fertig. Man weiß in Reichenberg zwischen Mitläufer und Mitläufer zu unterscheiden. Wir wissen, daß die Mitläufer in zwei Gruppen zerfallen: die eine besteht aus Leuten, die sich der Partei anschließen, weil sie den Sozialismus schon ein bißchen verstehen. Wesentlich anders ist die zweite Gruppe beschaffen; sie setzt sich aus Leuten zusammen, die mit der Partei sympathisieren, weil sie den Sozialismus mißverstehen. Es ist nun – das hat die Reichenberger Praxis, die frühere, nicht die jetzige, bewiesen – ein grober Irrtum, daß die zweite Gruppe allmählich, so schön „pomali“, zum Sozialismus erzogen werden kann, wenn man nur mit ihren Vorurteilen recht schonend umgeht; sie kann nur Verwirrung stiften und dadurch die Entwicklung der Partei hemmen. Dagegen wird – das haben wir in Reichenberg ebenfalls erfahren, und täglich erfahren wir es von neuem – die erste Gruppe von der Partei umso stärker angezogen, je rücksichtsloser wir die Parteigrundsätze propagieren. Wir haben ein Jahr des heftigsten Kampfes mit den Nationalen hinter uns, aber wir können mit diesem Jahre zufrieden sein. Es hat uns große Erfolge gebracht. Von der Erziehung der Masse zu sozialistischem Denken wollen wir gar nicht reden. Wir reden heute nur von der Entwicklung unserer Organisation und unserer Presse. Zu einer Zeit, in der zum Beispiel die Arbeiter-Zeitung (nach dem Bericht des Parteisekretärs an den Parteitag) zurückging, hat unser Parteiblatt, trotzdem in der Textilindustrie eine Krise herrschte, zweitausend Abnehmer gewonnen. Von diesen ging zur Zeit des bosnischen Abenteuers und infolge der Verschärfung der Krise fast ein Drittel wieder verloren; im vergangenen Herbste haben wir aber, trotzdem die Krise noch immer nicht überwunden war, das Verlorene wiedergewonnen. Und unsere Organisationen entwickeln seit einigen Monaten eine so rege Tätigkeit, daß die Zentrale nur mit der Anspannung aller Kräfte den an sie gestellten Anforderungen entsprechen kann. Alle Organisationen haben in dieser Zeit Mitglieder gewonnen, und geradezu erstaunlich ist der Aufschwung der Frauenorganisation und der Jugendorganisation. Unsere heutige Organisation unterscheidet sich nicht nur qualitativ gewaltig von der Organisation in der Blütezeit des Mitläufertums, sie ist auch bedeutend größer, als jene war, und wächst jetzt in einem noch nicht dagewesenen Tempo. Wer nicht zugeben will, daß das der Intransigenz zu danken ist, der wird wenigstens zugeben müssen, daß es trotz der Intransigenz möglich ist. Als vor nun bald anderthalb Jahren die deutsche Volksseele in Böhmen zu kochen anfing und die Nationalen darangingen, die Arbeiterschaft für ihre „Organisationen“, die völkische Arbeiterpartei und die Jungmannschaft, zu gewinnen, wurde auch bei uns manchen Genossen bang. Sie meinten, daß wir doch „ein bißchen“ national werden müßten, um den Ansturm der Nationalen besser abwehren zu können. Aber wir haben uns weder durch das Kriegsgeheul der Nationalen noch durch die Warnungen unserer Schwarzseher beirren lassen. Wir haben uns nicht dazu herbeigelassen, als „gute Deutsche“ aufzutreten. Im Gegenteil, wir haben in unserer dogmatischen Verbohrtheit den Internationalismus nur noch schroffer hervorgekehrt. Wir sind von der Auffassung ausgegangen, daß die nationalistische Phrase im Proletariat nur auf das Gesindel und höchstens noch auf ein paar unreife junge Leute Eindruck machen kann, und der Erfolg hat uns recht gegeben. Die Reichenberger deutschvölkischen Arbeiter haben sich – was gewiß nicht der Fall gewesen wäre, wenn wir uns mit ihnen tiefer eingelassen hätten, als notwendig war – in zwei Parteien gespalten und dreschen nun aufeinander los, daß es eine wahre Freude ist. Und für die Jungmannschaft ist nach einem kurzen Wonnemond eine böse Herbstzeit angebrochen. Ihre besseren Elemente haben an Saufgelagen und Gassenjungenstreichen kein Gefallen gefunden und kehren ihr nun den Rücken: in den letzten Wochen ist eine ganze Menge Exjungmannen unserer Jugendorganisation beigetreten. Aber auch sonst hat die nationale Jugendorganisation schmerzliche Verluste zu verzeichnen. Die Spenden für Eßwaren und Getränke – das ist die ökonomische Grundlage der Jungmannenbewegung – fließen nicht mehr so reichlich wie im Anfang, und dadurch hat die nationale Idee natürlich sehr an Reiz eingebüßt. Mit der Bekehrung der Arbeiter, der jugendlichen wie der erwachsenen, zum Nationalismus ist's also nichts. Der intransigente Internationalismus hat eine stärkere Anziehungskraft als selbst der schmackhafteste und süffigste Nationalismus. Aber Scherz beiseite: ich habe in der Agitation die Beobachtung gemacht, daß der Masse der Arbeiter der intransigenteste Internationalismus am verständlichsten ist und daß sie instinktiv der Auffassung zudrängt, die Genosse Bauer in seinem Artikel und schon auf dem Parteitag vertreten hat: daß der schroffste Kampf gegen den Nationalismus unsere nächste Aufgabe ist. Als die Regierung im Frühsommer mit ihren Steuervorlagen hervortrat, hielten wir in allen größeren Städten Protestversammlungen ab. Sie waren sehr mäßig besucht. Zur selben Zeit hielten wir eine Reihe von Versammlungen mit der Tagesordnung: National oder sozialdemokratisch? ab. Alle waren überfüllt, ja einige gestalteten sich zu leidenschaftlichen Massenkundgebungen gegen den Nationalismus. Die Arbeiter haben das richtige Gefühl, daß der Nationalismus in und außer dem Parlament unserer Partei die größten Hindernisse in den Weg wälzt, daß der Kampf gegen ihn die Hauptsache ist, und daß nur der intransigente Internationalismus in diesem Kampfe reüssieren kann. Trägt unsere Politik diesem Gefühl der Massen Rechnung, so werden wir wohl die Mitläufer verscheuchen, aber dafür die indifferenten Arbeiter in unsere Reihen zwingen. Mir scheint, das wäre – auch vom Standpunkt unserer Opportunisten – kein übler Tausch.
Zuletzt aktualisiert am 15.6.2008