Karl Radek

 

Unser Kampf gegen den Imperialismus

(1912)


Karl Radek, Unser Kampf gegen den Imperialismus, Die Neue Zeit, Mai 1912.
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Der Imperialismus als die Politik des Kapitalismus

Die Grundlage aller Differenzen in unserem Verhältnis zum Imperialismus bildet die Frage nach seinem Charakter. Was ist der Imperialismus, welches ist sein Verhältnis zur kapitalistischen Entwicklung überhaupt, zur weltwirtschaftlichen Expansion im besonderen? Ist er die auswärtige Politik des krachenden Kapitalismus oder nur eine der noch jetzt möglichen Formen der kapitalistischen Machtentfaltung? Die Bedeutung dieser Fragen leuchtete dem deutschen Proletariat nur allmählich in den letzten Jahren ein. Lange Zeit schien der Imperialismus dem deutschen Proletariat eine berechtigte, von den geographischen Bedingungen aufgezwungene, gewissermaßen zur nationalen Eigenart gewordene Politik des englischen Kapitals zu sein.

Da die englische Weltpolitik solche „Erfolge“ aufzuweisen wusste, wie die aufblühenden, sich selbst verwaltenden Staaten Kanadas, Australiens, Neuseelands, bemühte man sich, selbst die englische Ausbeutung Indiens gegen die „doktrinäre“ Verurteilung eines Hyndman zu verteidigen, und sogar als der Burenkrieg das Raubgesicht des englischen Imperialismus zeigte, verdeckten es später die Zugeständnisse, die England den Besiegten machte, indem es ihnen die Selbstverwaltung gab. Der französische Imperialismus wurde nur nach einer speziellen Seite gewürdigt, als Ausfluss der Sucht, die Niederlage des Jahres 1871 durch die Auffrischung der Gloire auf kolonialem Boden wettzumachen. Als sich aber allmählich die deutsche auswärtige Politik aus einer Kontinentalpolitik in Weltpolitik zu verwandeln begann, als sie ihr wichtigstes Machtmittel, die Flotte, auszubauen begann, da schien dieser wichtigste Prozess in der Geschichte des neuen deutschen Reiches mehr Produkt eines bizarren Cäsarenwahns als historische Notwendigkeit zu sein, der man die höhere Notwendigkeit des Sozialismus entgegenstellen muss, die es aber zu studieren und zu verstehen gilt, wenn der Kampf gegen sie entsprechend geführt werden soll. Als aber der „Wahnsinn“ zum System wurde, als er das Reich von einem „Abenteuer“ ins andere stürzte, als er Milliarden zu verschlingen und Kriegsgefahren heraufzubeschwören begann, da wurde sich zwar die ganze Partei klar über die gemeinsamen Grundlagen der gesamten imperialistischen Politik des Kapitalismus, die schon vor fünfzehn Jahren von Kautsky, Parvus in ihren Grundzügen richtig erkannt wurden, aber es fehlt bis heute nicht nur eine durchdachte Erkenntnis der Entwicklungslinien des deutschen Imperialismus, sondern es mangelt an einer konsequenten Anwendung der Analyse der Triebkräfte des Imperialismus, wie sie von Kautsky und Parvus in ihren verdienstlichen, wenn auch nicht in allen Teilen gleichmäßig durchgearbeiteten Broschüren über die Kolonialpolitik aufgestellt und von Hilferding und Otto Bauer vertieft wurde, in der täglichen Agitation der Partei, in ihrer Stellungnahme zu den konkreten Fragen des Imperialismus. [1]

Die Theoretiker des Marxismus haben den Imperialismus als die Politik des Kapitalismus im Zeitalter des Finanzkapitals dargestellt. Sie haben die überseeische Expansion des Kapitals geschildert als Folge seiner Flucht vor der sich mindernden Profitrate in den Ländern des entwickelten Kapitalismus, sie haben also den Imperialismus als ebenso notwendige Folge dieser Entwicklung geschildert, wie die Kartelle und die sich in ihre Dienste stellende Schutzzollpolitik. Die überseeische kapitalistische Expansion führt in ihrer Entwicklung zur Kolonialpolitik, zum Streben nach überseeischen, dem nationalen Kapital gewissermaßen reservierten Gebieten, die sich mit dem Mutterland, das heißt zur imperialistischen Politik, in einem staatsrechtlichen Verhältnis befinden. Es gibt jetzt keine überseeische Politik, die nicht dem Imperialismus dienen würde. Denn wenn das nationale Kapital auch nicht alle überseeischen Gebiete, die es wirtschaftlich „erschließt“, in kolonialen Besitz verwandeln kann, ja nicht einmal es immer bezweckt – auch auf dem Gebiet der Weltpolitik müssen sich die kapitalistischen Staaten in den zu verfolgenden Zielen konzentrieren, und sie können nicht nach jedem an sich wünschenswerten Objekt greifen –, so dient doch die wirtschaftliche Expansion in allen Ländern, die eventuell Kolonien werden können, der imperialistischen Politik. Durch die Erweiterung seines ökonomischen Einflusses an den verschiedensten Stellen der Erde, die er nicht zu besetzen gedenkt, wird der imperialistische Staat ökonomisch für seine Hauptziele gestärkt. Indem die Massen der dem Kapital zufließenden Profite und Zinsen sich vermehren, bekommt der imperialistische Staat ökonomische Mittel zur Durchführung seines Willens in den ins Auge gefassten Gebieten, und er bekommt politische Trümpfe zur Durchsetzung seiner Ziele in die Hand. Die wirtschaftliche Festsetzung in Marokko schanzte dem deutschen Finanzkapital Millionen aus der Ausbeutung der marokkanischen Bauern zu, aber noch mehr, sie gab der deutschen Regierung die Möglichkeit der Forderung von Kompensationen von Frankreich am Kongo, die die ganze mittelafrikanische Frage aufrollen.

Das Eindringen des deutschen Kapitals nach Persien, obwohl es sich erst in den Anfängen befindet, gab Deutschland Trümpfe in die Hand zur Aufräumung der Hindernisse, die ihm Russland in der Bagdadbahn stellte, ja zur Lockerung des Verhältnisses Russlands zu England, wodurch die allgemeinen Ziele der deutschen Weltpolitik gestärkt wurden. Der Zusammenhang zwischen der „friedlichen“ überseeischen Politik des Kapitals und seiner eventuellen Gewaltpolitik, das heißt dem Imperialismus, ist noch größer. Unter Umständen kann sich das Ziel der friedlichen Expansion eines Landes unter dem Drucke der Verhältnisse in das Ziel der gewaltsamen Expansion verwandeln: Unruhen der „friedlich“ ausgebeuteten Bevölkerung, ein Zusammenstoß mit anderen Mächten, die durch weniger friedliche Mittel das strittige Gebiet für ihre ausschließliche Expansion gewinnen wollen, können unter Umständen sehr leicht einen Umschwung der friedlichen in eine kriegerische Expansion veranlassen, selbst wenn sie früher sich nicht auf der bewusst gewählten Marschroute der Weltpolitik des in Betracht kommenden Staates befand. Darin bestand unter anderem mehrere Male die Gefahr der deutschen Einmischung in die Marokkowirren, obwohl die deutsche Regierung nach unserer festen Überzeugung, die durch neuere, tiefer eindringende Untersuchungen bürgerlicher Weltpolitiker bestätigt wird [2], kriegerische Absichten nicht von vornherein besaß. In vielen Fällen aber ist die friedliche Expansion überhaupt erst möglich als Folge der gewaltsamen. Denn was bildet den wichtigsten Gegenstand der überseeischen Expansion? Doch nicht der Export der Erzeugnisse des täglichen Gebrauchs, Textilwaren usw., nach denen das Bedürfnis in nicht entwickelten Kolonialländern nicht nur sehr gering ist, sondern das erst entwickelt werden kann wenn irgend eine staatliche Gewalt an Ort und Stelle sich befindet und dem Handelsverkehr die entsprechende Sicherheit bietet.

Eine solche Gewalt existiert in den unentwickelten Gebieten nicht, sie kann also weder durch geordnete Rechtsverhältnisse noch durch Verkehrswege der friedlichen wirtschaftlichen Expansion der kapitalistischen Länder die Wege ebnen. Das macht den Bau von Eisenbahnen und anderen Verkehrswegen durch das Finanzkapital in den unentwickelten Ländern zur Vorbedingung der „friedlichen“ Entwicklung, was wieder die Besetzung dieser Gebiete erfordert. Und eben der Export des Kapitals zum Bau der Verkehrswege, dem die Aufpfropfung des Staatsmechanismus folgt, bildet den Hauptteil der „friedlichen“ wirtschaftlichen Expansion.

Angesichts alles dessen muss aufs energischste die auch unter einem Teile der Radikalen verbreitete Auffassung abgelehnt werden, die Sozialdemokratie sei zwar eine entschiedene Gegnerin der Kolonialpolitik, sie trete aber für die friedliche überseeische Expansion Deutschlands ein. Diese Auffassung ist gänzlich falsch (weil sie den Zusammenhang zwischen friedlicher und gewaltsamer Expansion übersieht), man könnte sie als Überbleibsel aus den Zeiten des Einflusses der freihändlerischen Auffassungen auf das Geistesleben der Sozialdemokratie ruhig aussterben lassen, würde sie nicht sehr wichtige Folgen für unsere Agitation haben: sie bricht jedem konsequenten Kampfe gegen die Kolonialpolitik und den Imperialismus das Rückgrat.

Die Grundlage dieser Auffassung bildet die Annahme, die überseeische Expansion liege im Interesse der Arbeiterklasse, die durch sie Arbeitsgelegenheit bekommt. Würde diese Auffassung von der Sozialdemokratie als richtig anerkannt, dann bleibt der imperialistischen Presse nur übrig, zu beweisen – und sie kann es mit gutem Erfolg tun –, dass die Zeit der überseeischen friedlichen Expansion in Kolonialgebieten vorüber ist, dass, wer die wirtschaftliche überseeische Expansion als im Interesse der Arbeiterklasse liegend betrachtet, auch für die Mittel eintreten muss, die ihre Entwicklung sichern, das heißt für Flotte und Imperialismus überhaupt. Wer also die friedliche Expansion als im Interesse der Arbeiterklasse betrachtet, der verliert jeden Halt gegenüber dem Imperialismus. [3]

Will er aber seine ablehnende Haltung gegenüber dem Imperialismus bewahren, so bleibt ihm nur ein Weg offen: er muss die imperialistische Politik nicht als die auswärtige Politik des krachenden Kapitalismus behandeln, sondern zu beweisen suchen, es bestände für den Kapitalismus die Möglichkeit noch anderer auswärtiger Politik, die auch im Interesse der bürgerlichen Gesellschaft liege. Nur das Unverständnis der Massen der besitzenden Klassen wolle das nicht verstehen, und das mache sich der Eigennutz kleiner Cliquen von Interessenten zunutze, die die Massen des verführten Bürgertums vor ihren Karren spannen.

Diese Art der Behandlung des Imperialismus – auch sie hat im Lager des Marxismus in Deutschland eine Reihe von Vertretern – schraubt unsere Erkenntnis des Imperialismus um Jahrzehnte zurück, indem sie an Stelle des Imperialismus, wie er lebt und webt, eine ganz andere Weltpolitik zum Ausgangspunkt ihrer Stellungnahme nimmt, nämlich die Weltpolitik der schon lange verschwundenen Epoche des englischen Industriekapitals, deren theoretischen Ausdruck man bei den freihändlerischen Nationalökonomen Englands findet. Sie wiesen darauf hin, dass die Güte der Ware, nicht aber die Kanonen die kolonialen Märkte erobern, weshalb auch jede Kolonialpolitik vom Übel sei. Man müsse nur für die Sprengung der chinesischen Mauern sorgen und das Weitere der Durchschlagskraft der kapitalistischen Wirtschaftsordnung überlassen. Aber die Tatsache beiseite gelassen, dass diese theoretische Propaganda nicht einmal zum Aufgeben auch nur einer einzigen Kolonie geführt hat, so basierte diese Auffassung auf der Vorherrschaft der englischen Industrie und auf dem Glauben an die heilvolle Wirkung der freien Konkurrenz. Motivierte doch der bekannte englische Schriftsteller Josiah Tucker im Jahre 1774 die kolonialfreundliche Stellungnahme in folgenden charakteristischen Worten: „Die Kolonien treiben immer Handel mit dem Volke, das ihnen den größten Nutzen gewährt. Nirgends aber finden sie einen so guten Markt für Rohstoffe, kein anderes Land liefert ihnen die unentbehrlichen gewerblichen Erzeugnisse so billig wie England. Über Waren, die sie anderweitig vorteilhafter kaufen oder absetzen, verfügen sie auch jetzt schon nach Belieben. Damit fällt aber auch das Bedenken, dass die Freigabe Amerikas die englische Seemacht schädigen könnte.“ [4] Seit dieser Zeit hat sich vieles geändert. Keine einzige nationale Bourgeoisie hat ein Monopol auf den Weltmarkt.

Ein wüster Kampf tobt auf ihm, Und da dieser Kampf eine so rapide Entwicklung der Produktivkräfte fordert, dass diese die kapitalistische Welt aus den Fugen zu heben drohen, ist die Losung des Kapitals nicht die freie Konkurrenz, sondern Monopole, auch Monopolisierung der auswärtigen Märkte durch Schaffung von Kolonien.

Denn selbst wenn in diesen Kolonien das Prinzip der offenen Tür und gleicher zollpolitischer Behandlung jeder Ware herrschen sollte – dies wird oft nötig sein aus Rücksicht auf die Finanzen der Kolonie oder auf internationale Verträge –, so gibt der Besitz der politischen Gewalt der Bourgeoisie des Landes, dem die Kolonie gehört, einen so großen Vorsprung vor den Konkurrenten, wie es ihr nur nötig ist. Die sprachliche Gemeinsamkeit mit den kolonialen Behörden, ihre Versippung mit dem nationalen Kapital, die finanzielle Abhängigkeit von dem Mutterland bringen es mit sich, dass die Kolonie ein Ausbeutungsmonopol des kolonisierenden Landes bildet.

Wer es also für möglich hält, dem monopollüsternen Kapital unserer Ären die Weltpolitik des englischen Kapitals aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts zu empfehlen, der macht es sich unmöglich, überhaupt die von ihm bekämpfte imperialistische Politik zu erkennen und erfolgreich zu bekämpfen.

Die Annahme der Möglichkeit einer anderen als der imperialistischen Weltpolitik des Finanzkapitals führt zu weiteren Irrtümern. Für die Agitation gegen den Imperialismus folgt aus ihr, dass man die imperialistischen Affären als Produkt der Treibereien einer kleinen Clique darstellt, gegen die die breiten Schichten des Bürgertums scharf Stellung nehmen können. Da sie es aber nicht tun, so bekommt die Haltung des Bürgertums zu den imperialistischen Fragen den Charakter einer Komödie der Irrungen. Das Resultat einer solchen Betrachtungsweise für die Politik der Partei ist, dass sie nicht imstande ist, kühl und richtig die Ursachen des imperialistischen Umschwunges in den Schichten des Bürgertums zu würdigen, was zu einer ganzen Reihe allgemeiner Fehlschüsse, besonders in den Fragen des Kampfes gegen den Imperialismus, führt, auf die ich noch im weiteren zurückkommen werde.

Soll unsere Haltung gegen den Imperialismus eine unverrückbare Grundlage bekommen, so gilt es, aus dem Geistesleben die Überreste alter Ideologen auszumerzen, die einmal zum Teil eine wirkliche Basis besaßen, jetzt aber irreführend, weil den Tatsachen nicht entsprechend, sind.

Der Imperialismus ist die einzig mögliche Weltpolitik der jetzigen kapitalistischen Epoche. Er bringt zwar einer eng begrenzten Schicht der führenden kapitalistischen Kreise, den Banken und der schweren Industrie, aber hinter ihm stehen die weitesten Kreise der Bourgeoisie, Nutzen, weil er ihnen Aussichten eröffnet, die, wenn auch unerfüllbar, für die Bourgeoisie eine unüberwindbare Kraft besitzen. Er verheißt ihr die Schaffung von Monopolmärkten, auf denen sie frei von den Sorgen sein wird, die ihr jetzt der Weltmarkt verursacht. Er verheißt ihr Raum für die andauernde Entwicklung der Produktivkräfte, also die Überwindung der Gefahr der sozialen Revolution. Er öffnet ihr in der Epoche des Wachstums der materiellen Macht der Bourgeoisie und ihres gesteigerten Zerfalls den Ausblick auf eine Machtentfaltung, der sie mit höchstem Entzücken erfüllt.

Es gibt keine andere als die imperialistische Politik des Kapitalismus unserer Tage.

Es gibt keine Mittel im Kampfe gegen den Imperialismus des Kapitalismus

Die geschilderten Differenzen in der Behandlung des Imperialismus führen zu sehr wichtigen Differenzen in der Auffassung des Kampfes gegen den Imperialismus. Wer im Imperialismus nicht die Politik des Kapitalismus sieht, sondern nur die Politik kapitalistischer Cliquen, denen die antiimperialistischen Tendenzen innerhalb des Bürgertums die Wage halten oder jedenfalls sich mit Aussicht auf Erfolg entgegensetzen können, dem lächelt auch die Hoffnung, dass das Proletariat gemeinsam mit den antiimperialistischen bürgerlichen Schichten in der Lage sein wird, dem Imperialismus die ärgsten Giftzähne auszubrechen. Diese Hoffnung scheint von Zeit zu Zeit durch Tatsachen bestätigt zu werden. In Spanien nahm das Kleinbürgertum an dem proletarischen Aufstand gegen das Riffabenteuer teil, in England drängt das Kleinbürgertum nach einer Milderung des englisch-deutschen Gegensatzes. Aber nur wer an der Oberfläche der Ereignisse haften bleibt, kann in diesen Vorgängen Anzeichen einer wachsenden bürgerlichen Opposition gegen den Imperialismus sehen. Eine wirkliche Auflehnung des Kleinbürgertums gegen den Imperialismus, wie sie Spanien gesehen hat, ist nur in kapitalistisch ganz unentwickelten Ländern möglich, in denen der Imperialismus mit den Interessen oder Hoffnungen weiterer bürgerlicher Schichten noch nicht verwachsen, in denen er wirklich nur ein Abenteuer einer kleinen Hofclique ist.

Wo die Spitzen der Bourgeoisie an seinen Geschäften interessiert sind, wo die Banken die Presse beherrschen, kommt selbst in wirtschaftlich noch verhältnismäßig zurückgebliebenen Ländern, die erst an der Schwelle des Überganges vom Agrarstaat zum Industriestaat stehen, wie Österreich, Japan, Italien, keine namhafte bürgerliche Opposition gegen den Imperialismus auf. Die Bourgeoisie und das Kleinbürgertum spannen sich dort vor den Wagen des Imperialismus und glauben dabei ihre zukünftigen Interessen zu vertreten, zu verhüten, dass die alten kapitalistischen Staaten die Welt restlos unter sich verteilen. Die Annexion Bosniens und der Herzegowina hat keine antiimperialistische Opposition des Kleinbürgertums hervorgerufen, obwohl sie Österreich an den Rand des Krieges brachte und seine Finanzen arg in Mitleidenschaft zog. Dasselbe in Italien.

Nach einer großen Niederlage, wie es die abessinische war, entsteht zwar ein Katzenjammer, aber einige Jahr später beherrscht schon die imperialistische Ideologie die öffentliche Meinung. Vielleicht werden die Folgen des tripolitanischen Abenteuers wieder eine Ernüchterung im Kleinbürgertum erzeugen, aber es ist klar, dass diese dann für die einstweilen hinter Schloss und Riegel gebrachte tripolitanische Beute keine Bedeutung haben kann.

Und bis Italien die Kräfte zu neuen Abenteuern sammelt, wird auch dieser Katzenjammer verflogen sein. Wie ist es aber mit der angeblich antiimperialistischen bürgerlichen Bewegung in England bestellt? Wir lassen ihre Schwäche beiseite. Die Daily News fragten mit Recht vor kurzem: Was helfen die antiimperialistischen Artikel und Reden der linksliberalen Abgeordneten, wenn ihnen imperialistische Taten folgen? Es ist aber ein großer Irrtum, in dem „deutschfreundlichen“ Gebaren des englischen Kleinbürgertums und eines Teiles des englischen Handelskapitals – siehe die Haltung des The Economist – eine Opposition gegen den britischen Imperialismus zu sehen. Es ist eine Bewegung für die Erhaltung der britischen Weltherrschaft mit billigeren Mitteln, weil die großen Flottenausgaben zur Belastung des Kleinbürgertums führen können. Der Schrei: Verständigung mit Deutschland, bedeutet also nicht: nieder mit dem Imperialismus! Aber die Hoffnung auf eine bürgerliche Opposition gegen den Imperialismus ist nicht die einzige Folge dieser Unterschätzung des Imperialismus. Nicht einmal die wichtigste. Auch wenn man den Imperialismus nicht in seinem Zusammenhang mit der Kartellierung der Industrie, mit der Schutzzollpolitik, kurz, als regelrechten Ausfluss der letzten Phase der kapitalistischen Entwicklung auffasst, erliegt man leicht der Versuchung, die imperialistischen Gegensätze zu unterschätzen. Da die imperialistischen Interessen nicht als die Interessen der Bourgeoisie angesehen werden, sondern als die einzelner ihrer Cliquen, hofft man durch den Druck der proletarisch-bürgerlichen Opposition die streitenden imperialistischen Lager zu gegenseitigen Zugeständnissen zu bringen, zu einem gewissen Ausgleich, um so mehr, als die Regierungen erstens – im großen ganzen – die allgemeinen bürgerlichen Interessen Sonderinteressen der Cliquen gegenüber vertreten sollen, zweitens, weil sie die Haltung der Volksmassen während eines imperialistischen Zusammenstoßes fürchten müssen. Diese Auffassung enthält natürlich einen berechtigten Kern: wo keine großen ökonomischen Interessen des Kapitals engagiert sind und die allgemeinen weltpolitischen Ziele eines Staates zum momentanen Ausgleich drängen, endet die Krise ohne Zusammenstoß, durch einen Schacher. Natürlich kann die Möglichkeit solcher Ausgleiche keinem Zweifel unterliegen. Fraglich ist in Beziehung auf sie nur zweierlei: erstens, ob man aus diesen Ausgleichen auf die Tendenz zur Milderung der imperialistischen Gegensätze schließen kann, zweitens, welche Stellungnahme das Proletariat dieser Tendenz wie einzelnen imperialistischen Schachergeschäften gegenüber einnehmen soll. Wenn man die Anleihegeschäfte der europäischen Finanz in China und der Türkei für die letzten Jahre studiert – die Geschichte der letzten türkisch-französischen Anleihe und der augenblicklich verhandelten internationalen Anleihe für China kann als Schulbeispiel angesehen werden –, so treten zwei Tatsachen klar zutage: Die Einigung der Internationalen Finanz auf ein gemeinsames Vorgehen ist sehr schwierig, erstens, weil einzelne Gruppen der Finanz im Rahmen eines Staates schwer davon abzubringen sind, auf eigene Hand ihr Glück zu probieren gegen die andere nationale Gruppe, die sich international zu einem Raubzug assoziieren will, zweitens, weil ein Ausgleich der Interessen nationaler Gruppen untereinander sehr schwer zu finden ist. Die Verteilung der Beute erfolgt nach dem Machtverhältnis, und dieses ist weder leicht festzustellen noch unveränderlich. Darum – das ist die zweite Tatsache, auf die es ankommt – bildet ein Zusammengehen der nationalkapitalistischen Gruppen miteinander bei verschiedenen überseeischen Finanzgeschäften absolut keinen Ansporn zur Minderung der imperialistischen Machtmittel und Tendenzen. Jede nationale kapitalistische Gruppe will bereit sein, sich eventuell gegen die anderen auf eigene Hand durchzusetzen, gestützt auf die Machtmittel ihres Staates.

Würde aber auch ein Zweifel über diese Entwicklungsmöglichkeiten sachlich zu vertreten sein, so ist es ein Produkt einer gänzlichen Undurchdachtheit des Problems unserer Haltung zum Imperialismus, wenn weite Kreise der Partei den Abstand zu den imperialistischen Vergleichsgeschäften fehlen lassen und in ihnen einen zu begrüßenden Erfolg unseres Kampfes gegen den Imperialismus, einen Anfang der Annäherung der Völker sehen. Selbst wenn dieser Ausgleich international wäre, also nicht auf eine neue Mächtegruppierung, das heißt auf das Ersetzen alter Gegensätze durch neue hinausliefe – wie es bisher immer der Fall war –, so wäre sein Resultat keinesfalls das, was wir erstreben. Ein internationales Übereinkommen der imperialistischen Mächte könnte naturgemäß kein antiimperialistisches Resultat zeitigen: es würde mit einer Verteilung der Erde enden, wie sie schon einige Mal stattgefunden hat. Solch ein Zustand, der den bisher mit Kolonien wenig beglückten Ländern freien Raum für die koloniale Tätigkeit eröffnen würde, kann schon darum kein von uns zu begrüßendes Ziel des proletarischen Kampfes bilden, weil wir doch prinzipielle Gegner der Kolonialpolitik sind. Aber noch ärger sieht die Sache aus, wenn man sie nicht in der luftleeren Region der Abstraktion behandelt, sondern auf dem Boden der Wirklichkeit, an der Hand der geographischen wirtschaftlichen und machtpolitischen Faktoren, die über den Gang der Weltpolitik entscheiden. Die Welt ist ganz ungleichmäßig unter die Mächte verteilt. Eine von G. Hildebrand zusammengestellte Tabelle über dies Verhältnis von Hauptland und Kolonien zeigt dies sehr grell:

 

Zählungsjahr

Einwohner per
Quadratkilometer
des Stammlandes

Kolonialbesitz
in Prozenten
des Stammlandes

Belgien

1910

255,2

8090

Niederlande

1909

177   

6184

Portugal

1900

  58,5

2258

Frankreich

1906

  73,8

1286

England

1910

145   

9399

Deutschland

1910

120   

  491

Österreich-Ungarn

1910

  75,8

Italien

1910

121   

  171

Die zurückgesetzten imperialistischen Staaten können freien Raum für ihre wirtschaftliche Entfaltung nur auf Kosten Dritter erlangen. Geschieht das durch machtpolitisches Kräftemessen, so ist klar, dass neue Gegensätze aufgerissen werden, die an Schärfe die jetzigen übertreffen. Aber selbst wenn es zu einem Abkommen zwischen England und Deutschland über die belgischen und portugiesischen Kolonien käme, das mit pekuniärer Abfindung der beraubten Staaten enden würde, so ist auf lange Zeit ein Element der Unruhe in die Weltpolitik gebracht, und Rüsten bis zum Weißbluten müsste die Parole der schwächeren und infolgedessen auch der stärkeren Mächte sein, denn keine würde sich dann vor einem neuen „Ausgleich“ auf ihre Kosten sicher fühlen. Nicht nur neue koloniale Lasten, sondern auch neue Militärlasten werden die Folge aller Verständigungsaktionen sein. Und deshalb ist nur eine einzige Haltung der Sozialdemokratie ihnen gegenüber möglich: die Demaskierung der volksfeindlichen Ziele dieser Aktionen, der Hinweis, dass die Arbeiterklasse nichts von ihnen zu erwarten hat, dass ihre Aufgabe nur im entschiedensten Kampfe gegen den ganzen internationalen Kurs des Imperialismus besteht.

Oft wird gegen diesen Standpunkt der Hinweis ins Feld geführt, wir könnten doch nicht mit verschränkten Armen dem sich immer mehr verschärfenden deutsch-englischen Gegensatz gegenüberstehen, wir müssten ihn einzuschränken suchen, ihm die Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung nehmen. Wer von diesem Standpunkt aus sich, wenn auch nur im Prinzip zustimmend, zu den Ausgleichgeschäften der imperialistischen Staaten stellt, der erreicht alles andere als das ihm vorschwebende Ziel. Denn unser hemmender Einfluss auf die imperialistischen Treibereien wächst proportional zu dem Misstrauen, das die Volksmassen gegen die imperialistische Politik und ihre Leiter fühlen, proportional zu der antiimperialistischen Stimmung und Aktion der Arbeiterklasse. Nur die Furcht vor dem Proletariat steigert die Vorsicht der Regierung in der Vertretung der imperialistischen Interessen. Was kann aber die Aktionskraft der Arbeiterklasse mehr schwächen als die Hoffnung – und die, wie wir es gezeigt haben, noch dazu gänzlich unbegründete – auf die Verständigungsaktionen der imperialistischen Mächte? Was kann ihren scharfen Gegensatz zum Imperialismus fester einschläfern als die Taktik, die darauf hinausläuft, den Kampf gegen neue koloniale Erwerbungen zu schwächen, aus Rücksicht auf die angebliche Milderung der imperialistischen Gegensätze und des Rüstungstempos, das durch kolonialen Schacher erreicht wird? Wir stellen die Frage unseres Verhältnisses zu den Ausgleichsaktionen allgemein und verzichten zunächst auf die konkrete Schilderung der jetzigen Phase des deutsch-englischen Gegensatzes, der Rolle der Rüstungsfrage in ihr und der Behandlung, die diese Fragen in unserer Presse gefunden haben. Es handelt sich mir augenblicklich nur um die Feststellung der Hauptgesichtspunkte, unter denen sich eine proletarische Taktik im Kampfe gegen den Imperialismus aufbauen lässt.

Da der Imperialismus die Politik des Kapitals unserer Tage ist, da er in den kapitalistisch entwickelten Staaten alle bürgerlichen Schichten mitreißt, da er immer neue Gegensätze unter den Staaten schafft, liegt eine dauernde Milderung der imperialistischen Gefahr nicht im Bereich der Möglichkeit. Momentane Versuche ihrer Abschwächung, wie sie von den Großmächten vorgenommen werden, zeitigen rein imperialistische Resultate, Verschiebungen im Kolonialbesitz der imperialistischen Staaten, die, wie sie durch Machtverschiebungen entstanden sind, zu immer größerer imperialistischer Machtentfaltung führen. Angesichts dessen kann die Sozialdemokratie sich nicht auf die Suche nach weißen Salben auf die Wunden, die der Imperialismus schlägt, verlegen, sondern sie muss im prinzipiellen Kampfe gegen den Imperialismus, in der Ablehnung und Bekämpfung seiner Kombinationen ihre Aufgabe sehen.

Sozialismus gegen Imperialismus

Der Kampf gegen die imperialistischen Abenteuer nimmt in der ganzen proletarischen Welt an Stärke zu. In Deutschland hat er während der Marokkokrise einen Umfang angenommen, wie es noch vor kurzem niemand erwarten konnte. Die vortrefflich gelungene Versammlungsaktion der Sozialdemokratie zeigte, dass es der imperialistischen Agitation nicht gelungen ist, die kapitalistischen Ziele des Imperialismus vor den Massen zu verstecken, sie in nationale Ziele umzulügen. Und wem es gegönnt war, während der Wahlagitation selbst in kleinen Orten über die deutsche Weltpolitik zu sprechen, der musste das Fehlen aller nationalistischen Regungen in der Arbeitermasse mit der größten Freude feststellen. Diese Tatsache erübrigt ein besonderes Eingehen auf die Frage von den Grenzen unseres Kampfes gegen den Imperialismus. Worauf es ankommt, das ist die ununterbrochene Agitation, welche die Kluft zwischen dem Imperialismus und der Arbeiterklasse erweitert und vertieft und den objektiven Gegensatz des Imperialismus zu den Interessen der Arbeiterklasse aufzeigt. Aus diesen Tatsachen ergibt sich von selbst, dass in der ernsten Situation, in der es aufs Biegen oder Brechen gehen wird, der Imperialismus die Arbeiterklasse auf seiner Seite nicht finden kann.

Der größte Teil der Fehler, die im Kampfe gegen den Imperialismus selbst bei seinen prinzipiellen Gegnern unterlaufen, resultiert aus der Eigenart des deutschen Imperialismus. Die geographische Lage Deutschlands bewirkt, dass der deutsche Imperialismus sehr stark in der Kontinentalpolitik verankert sein muss. Er muss damit rechnen, dass bei jeder machtpolitischen Entscheidung die Würfel auf dem Kontinent fallen werden, und dass sein diplomatischer Aufmarsch immer mit der Schaffung einer günstigen Konstellation auf dem Kontinent beginnen muss. Das hat bei dem deutschen Bürgertum schließlich die Einsicht in die Notwendigkeit der Vereinigung von Kontinental- und Weltpolitik, des Ausbaus von Heer und Flotte erweckt. Restlos ist der Gegensatz der beiden Strömungen in der deutschen Politik noch heute nicht ausgemerzt, früher aber musste sich die weltpolitische Richtung sehr mühselig ihren Weg bahnen. Sie wurde bekämpft durch die Junker, da diese in ihr einen Ausfluss der scheel angesehenen Industrialisierung Deutschlands sehen, und von dem Konkurrenzneid der Offizierskreise des Landheeres, die ein Ast am Baume des Junkertums sind. Die liberalen Bourgeois waren auch keine Freunde der Weltpolitik. Schon lange, nachdem Deutschlands Handelspolitik sich auf dem Boden des Schutzzolls befand, hielten sich die Liberalen bis weit in das nationalliberale Lager – siehe die Haltung Bambergers zu der Kolonialpolitik [5] – in den Fragen der Weltpolitik an die freihändlerische Auffassung von der Überflüssigkeit der Weltpolitik. Von dem Bürgertum kühl behandelt, wie konnte der deutsche Imperialismus von den Vertretern der Arbeiterklasse anders als eine exotische Pflanze betrachtet werden, bei deren Bekämpfung man auf Bundesgenossen rechnen kann? Und dass der Kampf gegen den Imperialismus auf die leichte Achsel genommen, dass er nicht mit der ganzen prinzipiellen Schärfe geführt wurde, ist auch zu einem großen Teile der Eigenart des deutschen Imperialismus zuzuschreiben. Die langen Jahre der gänzlichen Versumpfung der deutschen Kolonialpolitik reizten zu allem anderen eher als zu einem prinzipiellen Kampfe gegen sie, als den letzten Zufluchtsort des Kapitals vor dem Sozialismus. Viel leichter war der Kampf gegen sie mit den Ziffern des kolonialen Handelsverkehrs und des Kolonialetats in der Hand, wobei man auf die Unterstützung eines großen Teiles der bürgerlichen Presse rechnen konnte.

In derselben Richtung wie die Versumpfung der deutschen Kolonialpolitik und die Kolonialmüdigkeit der Bourgeoisie wirkte auf unseren Kampf gegen den Imperialismus die Art, wie er sich sein Flussbett suchte. Jetzt, nach zwanzig Jahren imperialistischer Politik, kann man auf Grund ihres Studiums ihre Richtlinien wohl erkennen. [6] Aber sie sind nicht das Produkt eines von Anfang an bewussten Strebens der deutschen Regierung; der imperialistische Kurs machte viele Schwankungen durch, er wurde von den verschiedensten Einflüssen nach allen Richtungen gezerrt, bis er sich irgendwo stabilisierte. Diese Irrungen und Wirrungen mussten den Eindruck eines persönlichen Zickzackkurses erwecken, sie wurden von bürgerlicher Seite scharf angegriffen. Und obwohl die bürgerliche Kritik der auswärtigen deutschen Politik noch weniger Zeichen einer durchdachten Richtung aufweist, noch mehr in eine Zickzackkurspolitik ausmündet als die amtliche Politik, die schließlich unter dem Drucke der objektiven Bedingungen in die richtige – vom imperialistischen Standpunkte! – Bahn einlenkte, so weckte diese bürgerliche Unzufriedenheit mit den ersten Schritten des Imperialismus Hoffnungen auf das Bürgertum, sie drückte den Kampf der Sozialdemokratie aus der Bahn des prinzipiellen Kampfes gegen den Imperialismus, weil er kapitalistische Politik ist, in die des Kampfes gegen ihn als schlechte kapitalistische Politik.

Die sprunghafte Entwicklung des deutschen Imperialismus, die seine „normalen“ Entwicklungstendenzen verdeckte, zeitigte noch eine Verirrung der Taktik, an die wir bisher nicht erinnert haben. Eben weil die Ziele der imperialistischen Politik anderer Staaten klar vorlagen, während die deutschen in der Luft zu schweben schienen, wurde im Kampfe gegen den deutschen Imperialismus seiner Unsinnigkeit oft der Sinn des englischen, französischen Imperialismus, ihre verhältnismäßige Begründetheit gegenübergestellt, worunter nicht nur der prinzipielle Kampf litt, sondern wodurch wir uns zugleich auch Blößen unseren Gegnern gegenüber gaben und unseren ausländischen Bruderparteien den Kampf gegen ihren Imperialismus erschwerten, was sich dokumentarisch belegen lässt.

Ist die Quelle einer Reihe von Mängeln in unserem Kampfe gegen den Imperialismus in der Eigenart des deutschen Imperialismus zu suchen, so liegt die Ursache anderer Fehler auf dem Gebiete des geistigen Lebens der Partei, das nicht Schritt hielt mit dem Tempo der kapitalistischen Entwicklung. Während diese den Boden Deutschlands stürmisch für den Sozialismus vorbereitete, die materiellen Bedingungen der sozialen Revolution reifen ließ, entspricht diesem Reifegrad des materiellen Unterbaus nicht die Ausbreitung der sozialistischen Erziehung der Massen, denen die Erkenntnis noch nicht eingegangen ist, dass der Imperialismus die letzte Karte ist, die der Kapitalismus ins Spiel wirft. Nicht nur die breiten Massen, die außerhalb des Einflusses der Sozialdemokratie, ohne Glauben an die eigene Kraft, unter dem Joche des Kapitalismus ächzen, wissen noch nichts vom Sozialismus, sondern weite Kreise der Sozialdemokratie halten die Erscheinungen des Imperialismus für einen Beweis dafür, dass der Sozialismus noch eine Frage einer sehr fernen Zukunft ist. Die Tatsache, dass der Sozialismus nur als Bewegung der großen Mehrheit des Volkes siegen kann, verschließt ihnen die Augen für eine zweite Tatsache: dass ein namhafter Teil der Arbeiterklasse nur in dem Prozess des Machtkampfes der sozialdemokratischen Arbeiterschaft die Gleichgültigkeit, das Misstrauen gegen die eigene Macht abstreifen und sozialistisch werden kann, dass also der Weg zur Macht und der Kampf um Macht nicht erst dann beginnen kann, wenn die überwältigende Mehrheit sich unter dem Banner der Sozialdemokratie sammelt. Das Fehlen dieser Erkenntnis, dass bei der Höhe und Schärfe der Klassengegensätze, die in Deutschland existieren die Ära der Massenkämpfe schon angebrochen ist, dass ebenso bei Gelegenheit von imperialistischen wie von wirtschaftlichen oder politischen Konflikten der Mächte der Reaktion mit der Arbeiterklasse der Stein ins Rollen kommen kann, hat Konsequenzen für unseren Kampf gegen den Imperialismus. Da der Sozialismus für weite Kreise der Partei keine „aktuelle“ Frage ist, kann er nicht als eine konkrete Antwort auf die imperialistischen Fragen gelten. Nicht Sozialismus als Gegenparole auf den imperialistischen Kriegsruf, sondern realpolitische Antworten werden gesucht. Man kümmert sich nicht darum, dass es ganz phantastische Antworten sind und dabei rein bürgerliche, die man in der Form der Befürwortung rein imperialistischer Kombinationen – „deutsch-englische Verständigung“ usw. – ausfindig macht. Sie haben den Vorzug, dass sie in dem Rahmen des Kapitalismus bleiben, und denen, die beweisen, dass dieser „Vorzug“ durch den „Nachteil“ erkauft wird, dass sie keine Kandaren, sondern Zwirnsfäden für den Imperialismus sind, antwortet man mit dem Vorwurf: Das ist doch die lange schon von der Partei verworfene Politik des „Alles oder nichts“.

Eines wird dabei vergessen: Alles oder nichts – Sozialismus oder Wüten des imperialistischen Brandes –, diese Alternative ist keine Alternative der Losungen, die man stellt, wenn man „anarchosyndikalistisch“ gesinnt ist, und die man verlacht, wenn man Realpolitiker ist. Es ist eine objektive Alternative, die vom Kapitalismus gestellt ist. Er spielt va banque, und von diesem halsbrecherischen Spiele lässt er sich nicht durch gute Ratschläge abhalten, weil er durch seine ganze Lage zu ihm getrieben wird. Will er nicht der freien Entwicklung der sozialen Kräfte, das heißt dem Sozialismus Raum lassen, so muss er sich durch Syndikate, Trusts, Schutzzölle, Kolonien, das heißt durch Imperialismus zu fesseln versuchen. Er schafft dabei Gegensätze, die ihn in die Luft sprengen können. Da er aber nicht zurück kann, so bleibt uns nur eines zu tun: durch den Kampf um Demokratie uns im Kampfe gegen den Imperialismus zu stärken und durch Agitation und Aktion gegen den Imperialismus uns für den Augenblick vorzubereiten, in dem wir ihm, wenn er durch Explosion zu Boden geworfen ist, das Genick brechen können.

Die Abneigung gegen die Politik der „reinen Negation“ in den Fragen des Imperialismus schöpft in den radikalen Parteikreisen Kraft aus zwei Quellen. Die erste ist die Tradition der Marxschen auswärtigen Politik, die zweite eine Analogie mit unserer reformerischen Tätigkeit in den inneren Fragen. Die Väter des wissenschaftlichen Sozialismus seien doch immer für konkrete Lösungen der auswärtigen Fragen, für oder gegen Italien, für diese oder jene Lösung der Orientfrage eingetreten, wird oft eingewendet. Dieser Einwand aber lässt außer acht, dass die Bedingungen, unter denen die Stellungnahme unserer Altmeister erfolgte, in jedem Punkte sich geändert haben. Die Arbeiterklasse war damals als eine ihrer besonderen historischen Aufgaben bewusste Klasse gar nicht vorhanden, und die Stellungnahme Marx‘, Engels oder Lassalles zu den Fragen der auswärtigen Politik sollte keinesfalls die Marschroute der proletarischen Aktion festlegen. Sie erfolgte, um der bürgerlichen Demokratie zu zeigen, in welcher Richtung sie den Gang der Ereignisse beeinflussen soll. Oft erschienen die Arbeiten unserer Altmeister, die dahin abzielten, anonym in bürgerlichen Blättern. Und auch der Gegenstand ihrer Stellungnahme war ganz anders: nicht um die Unterjochung anderer Völker, nicht um die Belastung der Arbeiterklasse, nicht um die Schaffung der Möglichkeit, die freie Entwicklung der Produktivkräfte auf eine Zeitlang zu hemmen, handelte es sich in der Zeit der Kämpfe um die Entstehung nationaler Staaten in Mittel- und Südeuropa, wie jetzt bei den imperialistischen Staaten. Umgekehrt handelte es sich um die Schaffung des Terrains für den Kampf um den Sozialismus. Und wie es fraglich ist, ob das Proletariat zu dem Träger der auswärtigen Politik werden konnte, die Marx damals befürwortete, wenn es damals als selbständige soziale Kraft existiert hätte – denn dann wäre es nicht nötig gewesen, eine bürgerliche Aufgabe zu erfüllen, wie die Schaffung des Bodens für die Entwicklung des Proletariats –, so kann es keinem Zweifel unterliegen, dass diese Politik nichts mit den Aufgaben zu tun hat, die jetzt vor dem Proletariat der kapitalistisch entwickelten Staaten stehen. Wie interessant die Marxsche auswärtige Politik für die historische Betrachtung ist, sie kann uns keinesfalls als Wegweiser für unsere Stellung zum Imperialismus dienen.

Noch weniger als der Hinweis auf Marx kann die Analogie mit der Taktik der Sozialdemokratie in den inneren Fragen als beweiskräftig angesehen werden; sie bildet nur ein Hemmnis der Entwicklung einer proletarischen Taktik in den Fragen der auswärtigen Politik. Wir kämpfen um Reformen auf dem Gebiet der inneren Politik, aber nur so weit, als sie im Rahmen des Kapitalismus durchführbar sind. Aber wir haben immer den Kampf um Reformen abgelehnt, die undurchführbar waren, selbst wenn er agitatorisch momentan sehr wirksam gewesen wäre. Weder für das „Recht auf Arbeit“ noch für eine allgemeine staatliche Garantie des Mindestlohns ist die Sozialdemokratie eingetreten, weil sie diese Reformen für unvereinbar mit dem Bestehen des Kapitalismus hielt.

Wollt ihr gegen Arbeitslosigkeit und Elend gesichert sein, so kämpft gegen den Kapitalismus, das war die Antwort der Sozialdemokratie auf die Wunderrezepte sozialer Quacksalber, die unheilbare Wunden des Kapitalismus heilen wollten. Der Imperialismus ist eine unheilbare Krankheit des Kapitalismus, die die Welt mit allgemeinem Siechtum bedroht. Der Hinweis auf andere heilbare Krankheiten kann nicht als Argument gelten gegen die, die dem Imperialismus gegenüber erklären: Ignis et ferrum sanat!

Die Probe aufs Exempel

Von neuem ist die Regierung an die deutsche Nation mit enormen Rüstungsvorlagen herangetreten, die heute eine halbe Milliarde neuer Ausgaben erfordern, morgen eine halbe Milliarde neuer Einnahmen erfordern werden und die internationalen Gegensätze auf die Spitze treiben. Dass eine Aktion gegen diesen neuen gigantischen Vorstoß des deutschen Imperialismus zu entfalten ist, braucht nicht gesagt zu werden. In welchen Formen sie einzuleiten ist, darüber werden die verantwortlichen Parteiinstanzen entscheiden. Wir wollen hier nur an diesem praktischen Beispiel zeigen, welchen Inhalt die Aktion haben kann, je nachdem man eine einheitliche, durchdachte Taktik verfolgt oder unsere Stellungnahme von den geistigen Überbleibseln vergangener Epochen beeinflussen lässt.

Im ersten Falle zeigen wir den Massen die Ziele des Imperialismus und fragen sie: Wollt ihr diesem kapitalistischen Götzen zuliebe neue Lasten und neue Gefahren über euch ergehen lassen? Wir zeigen ihnen die Konsequenzen dieser imperialistischen Politik und appellieren an ihren Willen zur Befreiung, stärken ihren Glauben an sie.

Im zweiten Falle versuchen wir den Massen zu beweisen, dass selbst vom bürgerlichen Standpunkt dieser neue Vorstoß des deutschen Imperialismus nicht nötig war, dass das bürgerliche Deutschland auch bei einer Verständigung mit England gut fahren kann. Dabei laufen wir nicht nur Gefahr, dass die Imperialisten uns – mit einem gewissen Rechte von ihrem Standpunkt aus – antworten werden: Der kürzeste Weg zur Verständigung mit England führt durch eine Rüstungsverstärkung – Spitze gegen Spitze soll man Gaben empfangen, wie es im Hildebrandlied heißt –, sondern wir haben uns die Hände gebunden in der prinzipiellen Agitation gegen die Kolonialpolitik, obwohl eine Freimachung der Bahn zu ihr das Ziel der neuen Rüstungsausgaben bildet.

In dem einen Falle stehen wir klar zum Gefecht, im zweiten verwirren wir uns in einem Labyrinth von Widersprüchen, sind genötigt – wir, die realpolitische Partei –, die Augen vor den wirklichen Zusammenhängen zu schließen, gehen mit abgebrochener Spitze des Speeres, mit fremdem Banner in der Hand in den Kampf.

Die Wahl sollte doch leicht sein!

Anmerkungen

1. Wer sich die Mühe gibt, die Reden unserer Reichstagsabgeordneten zum Etat des Auswärtigen, zu Militär- und Marineetat für die letzten 20 Jahre durchzustöbern, wird sehen, dass es sich hier um wirkliche Entwicklungsstufen der sich in der Partei durchsetzenden Erkenntnis des Imperialismus handelt. Das Studium der Behandlung dieser Fragen in unseren großen Blättern wird dieses Urteil nur bestätigen.

2. Was in diesen, Punkte über die alldeutschen Enthüllungen über die Absicht der Regierung, einen Teil Marokkos an sich zu reißen, zu halten ist, sagt treffend der Lassallebiograph Professor Hermann Oncken: „Gewagt bis zum äußersten, auf des Messers Schneide verlaufend, war freilich das ganze Spiel von Anfang an. Schon mit dem Erscheinen des Panther vor Agadir wurde ein Mittel gewählt, dessen Intensitätsgrad auf das schärfste überlegt war; ein Rippenstoß von höchstmöglicher Energie und Deutlichkeit, um die Franzosen überhaupt zu Verhandlungen zu nötigen, und doch gerade noch nicht so feindselig, um England und Frankreich verbunden in den Krieg zu treiben. Und zur Gewagtheit dieses Dessins gehörte es weiter, dass Herr v. Kiderlen seine letzte Karte nicht aufdecken konnte: er musste möglichst lange die Franzosen ins Glauben erhalten, dass es ohne anderweitige Konzessionen auf eine Festsetzung in Marokko selbst abgesehen sei, und eine Zeitlang sogar die Engländer (das war die Karte, deren Aufdeckung sie alsbald ihm zu entreißen suchten) in eine gewisse Unklarheit darüber versetzen, was eigentlich mit der symbolischen Form militärischer Pression bezweckt werde. Er musste ebenso sehr die Alldeutschen in dem Glauben lassen oder gar befestigen, dass Marokko das eigentliche Ziel sei, denn er brauchte nach außen hin auch diese lärmende Dissonanz; er ließ eben nach Bismarckschem Rezept alle Hunde bellen um seinen Zweck, die Nötigung zur Kompensation, der englischen Weltkonstellation zum Spotte mit höchster Kaltblütigkeit zu erreichen.“ Hermann Oncken, Deutschland und England, Heidelberg 1911

3. Die Auffassung selbst, als habe die Arbeiterklasse ein Interesse an der überseeischen Expansion, brauche ich wohl an dieser Stelle nicht zu widerlegen.

4. A. Zimmermann, Kolonialpolitik, Leipzig 1905. S. 41.

5. Interessantes Material, wenn auch nicht vertieft, darüber in den, gut dokumentierten Werke Dr. Kurt Herrfuhrts: Fürst Bismarck und die Kolonialpolitik, Berlin 1900

6. Ich versuche sie in meiner Broschüre: Der deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse, Bremen, Verlag der Bremer Bürgerzeitung, 1912, darzustellen.


Zuletzt aktualiziert am 8.8.2008