Karl Radek


Die Gewerkschaftsbewegung
in Russisch-Polen

(1906)


Quelle: Die neue Zeit, 24. Jg. (1905-1906), 2. Bd. (1906), H. 43, S. 564-569.
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Die große Streikflut, welche sich über Russisch-Polen nach dem ersten großen Generalstreik dahinwälzte, das harte Ringen der Arbeiterklasse mit dem Kapilismus um Verbesserung der miserablen Lebenslage, gab der arbeitenden Masse gar manche Lehre. In einer Reihe mächtiger ökonomischer Streiks blickte der polnische Arbeiter als Masse, als Klasse dem Kapitalismus ins Auge. Das Märchen von der Einheit der Klasseninteressen zerstob blitzschnell. Der Klassengegensatz zeigte sich der Arbeiterklasse in grellem Lichte. Dazu kam die Erfahrung der monatelangen Kämpfe.

Auf allen Lippen schwebte das Wort „Gewerkschaften“.

Die politischen Verhältnisse erlaubten aber nicht, Gewerkschaften zu gründen. Die Massen mußten zuschauen, wie viele Erfolge des Kampfes verschwanden, eben weil keine gewerkschaftliche Organisation möglich war.

Da kam der große Oktobergeneralstreik. Das ganze Arbeiter-Rußland erschien auf dem politischen Kampfplatz. Das zu Boden geworfene Zarentum betrat den Weg der Gaukelreformen. Die Sozialdemokratie sagte der Arbeiterklasse voraus, daß die zugesagten Reformen Lug und Trug seien; die Salven, die schon in den ersten Tagen nach dem Manifest in ganz Rußland donnerten, bestätigten es. Die Masse glaubte den Reformen nicht, jedoch war sie der Meinung, daß die halbkonstitutionelle Ära doch noch einige Zeit dauern werde. Die Massen riefen nach Gewerkschaften. Ihren Nutzen fühlten sie instinktiv. Sie wußten nichts von den Grenzen der Gewerkschaftsbewegung, die Gewerkschchaften waren für sie Allheilmittel. Die Sozialdemokratie schätzte die Gewerkschaften nach dem richtigen Maße ein, hielt aber ihre Gründung für notwendig nicht nur für den ökonomischen, sondern auch für den politischen Kampf der Arbeiterklasse.

Das erste, was zu tun war, war Aufklärung der Massen über Wesen und Nutzen der Gewerkschaften. Im ganzen Lande, in allen größeren Industriezentren fanden Tausende von Versammlungen statt. Die Revolution gab uns für unsere Versammlungen die großen Fabriksäle. In den Hallen, wo die Arbeiterhand den Mehrwert für die Kapitalistenklasse schafft, versammelten sich die Arbeiter, um über den Kampf mit den Ausbeutern zu beraten. Die „Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens“ (S. D. K. P. i. L.) gab eiligst – da die Frage nicht nur für die Masse, sondern auch für die Mehrheit der Agitatoren fremd war – zwei populäre Broschüren über die Gewerkschaften heraus. Die „Polnische Sozialistische Partei“ (P. P. S.), die ihrerseits für die Gewerkschaften agitierte, tat dasselbe. Man schritt beiderseits zur Gründung von Gewerkschaften. Aber hier haperte es. Man mußte erst die Vorbereitungsarbeit leisten. Die S. D. wie die P. P. S. schufen Gewerkschaftskommissionen, die die agitatorische und organisatorische Arbeit vereinen sollten. Man mußte Schemen für die Buchführung schaffen, die provisorischen Statuten der Gewerkschaften bearbeiten und drucken lassen, die Arbeiter zum Rechnungführen gewöhnen. Die Arbeit ging fieberhaft. Sie kostete viel, viel Mühe, da es doch neue Arbeit und dazu doppelte Arbeit war. Für jeden Beruf wurden nicht eine, sondern zwei Gewerkschaften geschaffen. die S. D. schuf „sozialdemokratische“, die P. P. S. „neutrale“ Gewerkschaften.

Vom Anfang der Agitation an diskutierten die Massen lebhaft, ob die Gewerkschaften parteilos, neutral sein oder in einem gewissen Zusammenhang mit der Partei stehen sollen. Die Frage wurde noch vor der „konstitutinellen“ Ära auf Fabriksversammlungen wie Parteizusammenkünften diskutiert und bildet noch heute den Brennpunkt in Hunderten von Versammlungen.

Die Parteikonferenz der sozialdemokratischen Partei, welche im Oktober vorigen Jahres stattfand, entschied sich für „Parteigewerkschaften“. Es war für die S. D. klar, da die Massen noch keinen sozialdemokratischen Begriff von den Gewerkschaften hatten. Sie waren noch in dem Wahne, daß die Gewerkschaften ein Allheilmittel sind. Es war also die Pflicht der Sozialdemokratie, ihnen zunächst den Zusammenhang des ökonomischen und politischen Kampfes zu erklären, ihnen die Grenzen der Gewerkschastsbewegung zu erläutern, ohne jedoch die Gewerkschaften zu unterschätzen. Wenn sie dem Arbeiter die Bedeutung de Arbeiterschutzes un der Arbeiterversicherung klarlegen, den Weg, der zu sozialen Reformen führt, zeigen, so weisen sie ihn auch auf ein bestimmtes politisches Programm, zum Sozialismus. Die Gewerkschaften müssen also den Massen klar und unzweideutig sagen, da das Ziel der ganzen Arbeiterbewegung nur der Sozialismu sein kann. Aber nicht nur das: die Gewerkschaften müssen den Arbeiter auf ein politisches Programm hinweisen. Ein Beispiel: Die Gewerkschaften agitieren für den gesetzlich gesicherten Achtstundentag. Sie müssen den Massen also sagen, welche Institution des Staates und welches Staates ihm das Achtstundengesetz geben soll. In Russisch-Polen erklärte die P. P. S. bis jetzt als nächstes Ziel der Arbeiterklasse die Unabhängigkei Polens! Den Achtstundentag soll also die Arbeiterklasse erkämpfen im unabhängigen Polen und nicht in Rußland vom Reichsparlament? Jetzt will die P. P. S. eine Föderation mit Rußland. Sie will also (klar hat sie es nicht erklärt, da Klarheit weniger die Halb- als die Ganznationalisten ziert) die Arbeiterschutz- und Versicherungsgesetzgebung der Kompetenz des Parlaments des föderierten Russisch-Polen zuweisen und den Kampf um diese Gesetze abgesondert vom russischen Proletariat führen. Die Sozialdemokratie dagegen, die die Autonomie Russisch-Polens in der russischen demokratischen Republik anstrebt, will diese Gesetze zusammen mit der Arbeiterklasse ganz Rußlands im Reichsparlameut erkämpfen.

Die Gewerkschaften müssen also unbedingt: den Massen den einen oder den anderen Weg zeigen – neutral können sie auf keinen Fall bleiben.

Nicht minder klar drängt zu diesem Standpunkt die politische Situation. Wir gründen Gewerkschaften während der Revolution. Sobald sie eine größere Macht erreichen, werden sie im Interesse ihrer Entwicklung, im Interesse der ganzen Arbeiterklasse tapfer der politischen Bewegung der Arbeiterklasse zur Seite stehen müssen und den Massen die Notwendigkeit des Kampfes für den Sieg der Revolution demonstrieren, indem sie aus dem ökonomischen Kampf alle Schlüsse ziehen, die für den politischen zu ziehen sind. Ja, sie müssen den ökonomischen Kampf in ihren Händen konzentrieren, ihn zu einer Triebfeder des politischen machen. Diese beiden Argumente sind der Inhalt des sozialdemokratischen Standpunktes. Die Form gab ihm die spezielle Parteisituation in Russisch-Polen.

Das wichtigste Problem unserer ganzen Bewegung bilden im jetzigen Augen blick die Parteikämpfe in der polnischen Arbeiterklasse. Sie ist in ihrer enormen Mehrheit sozialistisch und bekennt sich mit größtem Enthusiasmus zum sozialistischen Endziel, sie weiß, da Klassengegensätze jede Nation in zwei Nationen spalten, in die Besitzlosen und die Besitzenden. Ein in Anbetracht unserer politifche1 Verhältnisse großer Prozentsatz gehört der Organisation einer der sozial listischen Parteien an, und dies wird sich schnell steigern, sobald wir nur erst werden legale Vereine gründen können. Aber es gilt jetzt, den Sozialismus der Massen zu vertiefen, den Massen nicht nur die Formeln des Sozialismus einzupauken, sondern ihnen auch ermöglichen, vom Klassenstandpunkt die politische Lage zu beurteilen und in sie als seine Kraft bewußter Faktor einzugreifen. Bis jetzt erschien die Arbeiterklasse auf der politischen Bühne der mächtigen russischen Revolution von ihrem Klasseninstinkt getrieben, der Parole der sozialistischen Parteien folgend. Sie wußte, daß es um die Niederwerfung des Zarismus geht. Welches jedoch die konkreten nächsten Ziele des Kampfes seien, dessen war sich die Masse unbewußt. Auf einer Versammlung jubelte sie dem sozialdemokratischen Agitator zu, der für die Republik und Autonomie Polens sprach; auf der zweiten dem Agitator vom rechten Flügel der P. P. S., welcher die Unabhängigkeit Polens mit wunderschönen Worte anpries, auf der dritten Versammlung klatschte sie Beifall dem Agitator des linken Flügel der P. P. S., welcher die Föderation Russisch-Polen mit Rußland verherrlichte. Manchmal geschah das auf ein und derselben Versammlung ...

So entsteht in den Köpfen der Arbeiter ein arger Wirrwarr. Es muß Klarheit geschaffen werden, wenn sie auch unter den größten Schmerzen geboren wird. In der russischen Revolution spielt das Proletariat die erste Rolle, in seinen Händen liegen die Geschicke der Revolution. Das Proletariat muß als bewußte Klasse kämpfen, und sein Bewußtsein muß es während der Revolution erringen. Die Gewerkschaften können sich diesem Kampfe nicht entziehen, sie müssen ihr möglichstes tun, um von ihrem Standpunkt aus auf ihrem Gebiet zur Klärung beizusteuern. Deshalb sagen wi offen in den Statuten unserer Gewerkschaften, daß sie als ihre politische Vertreterin die Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen betrachten; unsere Gewerkschaften geben 5 bis 15 Prozent von ihren Einkünften für Parteizwecke, sie bleiben in ständiger Fühlung mit der Partei und agitieren rege im Sinne unseres Parteiprogramms. Das soll nicht bedeuten, daß sie nur Parteimitglieder aufnehmen. Nein! Sie wenden sich an die Massen, aber sie sagen der Arbeiterklasse nicht eine halbe, sondern die ganze Wahrheit: nicht nur Gewerkschastskampf, sondern auch Kampf um den Sozialismus! Nicht nur Gewerkschaften, sondern auch Sozialdemokratie! Das ist unser Standpunkt.

Die Argumente der P. P. S. für die Neutralitä der Gewerkschaften sind sehr charakteristisch fü den Sozialismus dieser Partei. Gewerkschaften sind Organisationen des ökonomischen Kampfes, sagt die P. P. S. Sie müssen als solche möglichst die größte Zahl der Arbeiter vereinigen, sie können also nicht auf Unterschiede der Parteiangehörigkeit schauen. Kein einziges Wort über den unzureichenden Charakter des gewerkschaftlichen Kampfes, über seinen Zusammenhang mit dem politischen Kampfe, denn das könnte ja als Argument für die sozialdemokratischen Gewerkschaften dienen. Die P. P. S. muß sich also auf den Standpunkt des eng begrenzten Gewerkschaftlertums stellen und die Entwicklung des Bewußtseins der Massen hemmen. Zwar schreibt die P. P. S. in den Statuten der neutralen Gewerkschaften: Die Gewerkschaften betrachten die sozialistischen Parteien als ihre politische Vertretung. Aber das ist nur ein leeres Wort:. Es steht zwar in den Statuten, aber wenn es die zentralen Gewerkschaften den Arbeitermassen erklären wollten, so müßten sie den Zusammenhang des politischen und ökonomischen Kampfes erläutern, also sich den Verfechtern der Parteigewerkschaften anschließen. Es bleibt ihnen also nichts übrig, als entweder diesen Punkt ihrer Statuten als Phrase zu betrachten und nur den ökoüomischen Kleinkrieg zu führen, oder zu heucheln. Wenn die Sozialdemokraten in einer „neutralen“ Gewerkschaft die Mehrheit bildeten, so würde die Gewerkschaft unter der Maske der Parteilosigkeit sozialdemokratische Politik treiben, oder, wenn die Mehrheit von den Anhänger der P. P. S. gebildet würde, dasselbe im Sinne der P. P. S. tun. Also statt Klarheit Wirrwar und demoralisierende Heuchelei oder eine der proletarischen Bewegung schädliche Neutralität. Einen dritte Ausgang gibt es nicht.

Da der sozialdemokratische Standpunkt sich sachlich nicht bekämpfem läßt, erzählt die P. P. S. den Massen, daß in der ganzen Welt die auf dem Klassenkampfstandpunkt stehenden Gewerkschaften neutral sind, daß „selbst“ Karl Marx und der Genosse August Bebel Anhänger der Neutralität der Gewerkschaften sind ... Um die Sozialdemokratie des Königreich Polen und Litauen ganz zu „kompromittieren“, erzählt weiter die P. P. S. in ihrer Presse und in den Versammlungen, daß auch die Sozialdemokratie Rußlands, deren Glied unsere Partei ist, neutrale Gewerkschaften im Sinne der P. P. S. gründet. Welch eine grobe Fälschung der Hinweis auf das Ausland ist, brauche ich in der Neuen Zeit nicht erst hervorheben. Was die Sozialdemokratie Rußlands aubetrifft, so wird durch eine kleine Erläuterung die grobe Fälschung bewiesen. In Rußlan steht erstens die Masse fern von der Sozialdemokratie, und zweitens gibt es fast keine Unterschiede in dem politischen Programm der Sozialdemokratie und der Sozialisten-Revolutionäre {die jedoch einen sehr kleinen Einfluß auf die Arbeitermassen haben). Das Problem der Situation, in der sich die Sozialdemokratie Zentralrußlands befindet, heißt nicht ein politisches Programm, das die Massen auf Abwege führt, ausrotten und ein anderes ein pflanzen (so ist es in Russisch-Polen), sondern die Arbeitermasse für den : Sozilismus gewinnen, ihren Kampf im Sinne des einzigen politischen Programms, das überhaupt in den Massen propagiert wird, leiten. Dazu braucht man die wenigen unter dem Einfluß der Sozialisten-Revolutionäre sich befindenden Arbeiter nicht abzuschütteln, dazu muß man die Massen in die Gewerkschaften hineinziehen. Die Gewerkschaften heißen „neutral“. Früher gründete die Sozialdemokratie „neutrale“ Arbeiterdeputiertenräte, um die Masse in den Strom der sozialdemokratischen Politik zu reißen, jetzt gründet die Sozialdemokratie neutrale Gewerkschaften, und in ihnen die bis jetzt dem Sozialismus gegenüber neutralen Arbeiter in Sozialdemokraten zu verwandeln. Die Gewerkschaften sollen und müssen der Sozialdemokratie bei jedem politischen Schritte Hilfe leisten, erklärt unsere russische Bruderpartei. Die Resolution, welche in der Gewerkschaftsfrage vom unlängst stattgefundenen Vereinigungsparteitag der Sozialdemokratie Rußlands angenommen wurde, erklärt, „die Parteigenossen haben die Pflicht, in die Gewerkschaften einzutreten, einen regen Anteil an deren ganzer Tätigkeit zu nehmen, immer das Klassenbewußtsein und die Klassensolidarität ihrer Mitglieder zu verstärken, um die Gewerkschaften in ihrer Agitation und ihrem Kampf organisch mit der Pärtei zu verbinden“. Die P. P. S. sagt: Die Gewerkschaften müssen neutral politischen Parteien gegenüber sein. Die Sozialdemokratie Rußland erklärt: Die neutralen Gewerkschaften müssen sozialdemokratisch Politik treiben. Die P. P. S. muß in ihrer gewerkschaftlichen Agitation den Zusammenhang des ökonomischen und politischen Kampfes verschweigen oder sie muß in Heuchelei verfallen, die Sozialde~nokrati Rußlands erklärt in ihrer Resolution, „der ökonomische Kampf kann zu einer dauernden Verbesserung der Lage der Arbeitermassen und zur Stärkung ihrer Klassenorganisation nur in dem Falle führen, wenn er regelrecht mit dem politischen Kampf verbunden ist. Für die P. P. S. ist die Neutralität der Gewerkschaften ein Prinzip, für die Sozialdemokratie Rußlands ein von der Situation aufgeworfener Ausgangspunkt. Durch ihre Neutrdlitätspropaganda hemmt die P. P. S. das Wachstum des sozialdemokratischen Bewußtseins der sich schon sozialistisch fühlenden Arbeitermasse, während die Sozialdemokratie Rußlands dadurch, daß sie den sozialdemokratischen Gedanken in die Gewerkschaften der bis jetzt neutralen Masse hineinträgt, dem Sozialismus den besten Dienst erweist. Den besten Beweis, daß sie nichts Gemeinsames mit dem Standpunkt der P. P. S. hat, lieferte die Sozialdemokratie Rußlands, indem sie der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen; auf dem Vereinigungsparteitag volle Freiheit gab, ihr Verhältnis zu den Gewerkschaften zu regeln je nach den Bedürfnissen der Situation in Russisch-Polen. In verschiedenen Situationen muß die Sozialdemokratie sich verschiedener Mittel bedienen, um ihre Grundsätze im Leben durchzuführen, aber ihr Standpunkt in denselben Problemen muß derselbe sein. In der Gewerkschaftsbewegung kann er nicht heißen: Hier Gewerkschaften – dort Sozialdemokratie, sondern: Gewerkschaften und Sozialdemkratie als Einheit des Emanzipationskampfes der Arbeiterklasse.

In diesen Gedankengängen bewegten und bewegen sich die Diskussionen. Die organisatorische Arbeit schreitet vorwärts, obwohl sie von der zurückflutenden Welle der Reaktion etwas gehemmt wurde. Man konnte wie früher leicht Fabrikversammlungen einberufen, aber Versammlungen der Organisationen sind viel schwieriger zu veranstalten. Das illegale Drucken von Statuten und Formularen kostet noch viel Mühe; dennoch geht es vorwärts. Als vor fünfzehn Jahren in Russisch-Polen Gewerkschaften (Streikkassen) von dem damals existierenden Vorläufer der Sozialdemokratie, von dem „Arbeiterbund“ (nicht zu verwechseln mit dem „Jüdischen Arbeiterbund“, der einige Jahre später entstand) in Warschau, Lodz, Zyrardow gegründe wurden, fristeten sie nur ein sehr kurzes Leben. Die Organisation einer etwas größeren Zahl führt bald zu vielen Verhaftungen; man konnte Massenversammlungen nicht mehr einberufen, und das führte zu Mißtrauen zu den unbekannten Leitern der Gewerkschaften. Jetzt ist es trotz der schwierigen Lage anders. Das Zarentum lebt noch, aber es ist im höchsten Grade desorganisiert. Seine Spitzelbande ist im Kampfe mit der Masse ohnmächtig. Die Agitation in den Fabriken geht trotz des Kriegszustandes flott von der Hand, die Organisationen veranstalten Ausflüge, auf denen die Organisationsfragen besprochen werden. Die Gewerkschaften führen in manchen Produktionszweigen schon ein regelrechtes Leben, sie gewöhnen die Masse an das regelmäßige Zahlen der Einlagen und führen den ökonomischen Kampf. Einen Hemmschuh für ihre schnelle Entwicklung bildet die schlechte wirtschaftliche Lage, die noch durch das provokatorische Vorgehen der Fabrikanten verschärft wird. Dennoch werden die Gewerkschaften immer mehr für die Massen unentbehrlich und bemühen sich, während der heißen Kämpf ihre innere Organisation und aus den Reihen der Arbeiter Leiter fü die Organisationen auszubilden.

Wenn der Augenblick kommt, in welchem das Zarentum zusammenbricht, beginnt ein neuer heißer Kampf der Gewerkschaften mit dem Unternehmertum das sicherlich den Massen die wirtschaftlichen Erfolge der Revolution zu rauben sich bemühen wird. Schon jetzt sehen wir gewaltige Vorspiele dieses Kampfes, schon jetzt greifen die Kapitalisten zu massenhaften Aussperrungen, obwohl. die Lage der Arbeiter sehr schlecht ist. Es wird manchen Genossen interessieren, zu erfahren, welche Richtung der Gewerkschaftsbewegung die Oberhand gewonnen hat. Ich kann aus meiner eigenen Beobachtungen niederschreiben, Ziffern fehlen leider noch. Die Oberhand der einen oder der anderen Richtung ist in verschiedenen Berufen und Orten verschieden. Anfangs hängt es meistens davon ab, in welchen Industriegruppen eines Ortes die eine oder die andere Partei mehr politische Anhänger hatte. Die Diskussionen verschieben dann diese zufälligen Majoritäten. Im allgemeinen genommen kann man sagen, daß in der Textilindustrie, im Bäcker- und Schuhmachergewerbe die sozialdemokratische, in der Metall- und Holzindustrie die neutralen Gewerkschaften die Mehrheit der Anhänger haben. Die deutschen Textilarbeiter in Lodz – die Nachricht wird gewiß die deutschen Genossen freuen – gehören fast durchweg der sozialdemokratischen Gewerkschaft an.

Was die Organisationsformen anbetrifft, so gründen beide Richtungen Landesorganisationen. Mit den Gewerkschaften Rußlands, die auch erst im Werden begriffen sind, existieren bis jetzt nur lose Verbindungen. Erst der gemeinsame Tageskampf wird die Organisationen zusammenschmieden. Es sei noch bemerkt, daß die Beiträge in den sozialdemokratischen Gewerkschaften höher sind als in den neutralen.

Wie erwähnt, führen die jungen Gewerkschaften jetzt einen schweren Kampf in vielen Berufen gegen die Anschläge des Kapitals auf die bis jetzt erlangten Verbesserungen. Die polnischen „Herren im Hause“ greifen schon wacker zu Aussperrungen und werfen Tausende von Arbeitern, welche auch , für sie politische Freiheiten hungernd und blutend erkämpfen, auf das Pflaster. In diesen Kämpfen wächst das Klassenbewußtfein der Arbeiter mächtig, und die Gewerkschaften werden mit einem Geiste erfüllt, vor dem später die Kapitalisten zittern werden.

Der Gewerkschaftskampf dringt bei uns auch in Gebiete, auf welchen in Deutschland volle Ruhe herrscht. Die Heimarbeiter in der Schuh- und Kleidungsindustrie führen schon ein Jahr lang einen hartnäckigen Kampf um Arbeitswerkstätten. Die Sklaven der Heimarbeit sind unter dem Hauche der Revolution erwacht.

Unter dem Zeichen der Revolution ziehen die Gewerkschaften aus in den Kampf. Und die Revolution wird ihnen den Geist geben trotz mancher Neutralitätsduselei.


Zuletzt aktualiziert am 20.08.2010