Georgi Plechanow


Über materialistische Geschichtsauffassung



XI

Nach Labriolas Auffassung verschmilzt die Philosophie in ihrer historischen Entwicklung zum Teil mit der Theologie, zum Teil aber ist sie die Entwicklung des menschlichen Denkens in seiner Beziehung zu den Gegenständen, die unserem Erfahrungskreise angehören. Insoweit die Philosophie von der Theologie verschieden ist, befaßt sie sich mit denselben Problemen, auf deren Lösung auch die eigentlich sogenannte wissenschaftliche Forschung gerichtet ist. Dabei ist sie bestrebt, entweder der Wissenschaft zuvorzukommen, indem sie ihr ihre eigenen mutmaßlichen Lösungen vorlegt oder die von der Wissenschaft bereits gefundenen Lösungen einfach resümiert und einer weiteren logischen Bearbeitung unterwirft. Das ist natürlich auch richtig. Aber das ist noch nicht die. ganze Wahrheit. Nehmen wir die neue Philosophie. Descartes und Bacon betrachten, als Hauptaufgabe der Philosophie, das naturwissenschaftliche Wissen zu mehren, um die Herrschaft des Menschen über die Natur zu steigern. Zu ihrer Zeit befaßt sich also die Philosophie gerade mit denselben Aufgaben, die den Gegenstand der Naturwissenschaften bilden. Man könnte daher glauben, daß die von der Philosophie gegebenen Lösungen durch den Stand der Naturforschung bestimmt werden. Dem ist jedoch nicht ganz so. Der damalige Stand der Naturwissenschaften kann uns nicht Descartes’ Stellung zu gewissen philosophischen Fragen, z.B. zur Frage der Seele u.a.m. erklären, aber diese Stellung ist wohl aus dem gesellschaftlichen. Zustand des damaligen Frankreich zu erklären. Descartes trennt streng das Gebiet des Glaubens vom Gebiet der Vernunft. Seine Philosophie steht in keinem Widerspruch zum Katholizismus, sondern sucht im Gegenteil gewisse Dogmen des Katholizismus durch neue Argumente zur bekräftigen. In dieser Hinsicht drückt sie die damalige Mentalität der Franzosen gut aus. Nach den langwierigen und blutigen Unruhen des 16. Jahrhunderts macht sich in Frankreich ein allgemeines Streben nach Frieden und Ordnung bemerkbar. Auf politischem Gebiet findet dieses Streben seinen Ausdruck in den Sympathien für die absolute Monarchie; auf dem Gebiete des Denkens – in einer gewissen religiösenjoleranz und dem Bestreben, strittige Fragen zu vermeiden, die an den unlängst beendeten Bürgerkrieg erinnern könnten. Solche Fragen waren die religiösen Fragen. Um sie nicht berühren zu müssen, war es notwendig, das Gebiet des Glaubens von dem der Vernunft abzugrenzen. Das wurde, wie wir gesagt haben, von Descartes getan. Aber diese Abgrenzung genügte nicht. Im Interesse des gesellschaftlichen Friedens. mußte die Philosophie feierlich die Richtigkeit des religiösen Dogmas anerkennen. Sie hat es auch in der Person von Descartes getan. Das ist der Grund, warum das System dieses Denkers, das mindestens zu drei Vierteln materialistisch war, von vielen geistlichen Personen mit Zustimmung aufgenommen wurde.

Aus der Philosophie Descartes’ ging logischerweise der Materialismus Lamettrie’s hervor. Aber mit demselben Recht hätte man aus ihr auch idealistische Schlüsse ziehen können. Wenn die Franzosen das nicht getan haben, so lag dafür eine ganz bestimmte gesellschaftliche Ursache vor: das negative Verhalten des dritten Standes gegenüber der Geistlichkeit im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Wenn die Philosophie Descartes’ aus dem Streben nach gesellschaftlichem Frieden entstanden ist, so kündigte der Materialismus des 18. Jahrhunderts neue gesellschaftliche Erschütterungen an.

Schon daraus allein ist ersichtlich, daß die Entwicklung des philosophischen Denkens in Frankreich nicht nur aus der Entwicklung der Naturforschung zu erklären ist, sondern auch aus dem unmittelbaren Einfluß der sich entfaltenden gesellschaftlichen Beziehungen auf das philosophische Denken. Das tritt noch mehr in Erscheinung, wenn wir uns aufmerksam die Geschichte der französischen Philosophie von einer anderen Seite ansehen.

Wir wissen bereits, daß Descartes die Verstärkung der Herrschaft des Menschen über die Natur als die Hauptaufgabe der Philosophie betrachtete. Der französische Materialismus des 18. Jahrhunderts hielt es für seine Hauptpflicht, gewisse alte Begriffe durch neue zu ersetzen, auf deren Grundlage normale gesellschaftliche Beziehungen aufgebaut werden könnten. Von einer Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkräfte ist bei den französischen Materialisten beinahe nicht die Rede. Das ist ein sehr wesentlicher Unterschied. Woraus ist er entstanden?

Die Entfaltung der Produktivkräfte wurde im Frankreich des 18. Jahrhunderts außerordentlich stark durch die alten gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse, durch die veralteten gesellschaftlichen Einrichtungen gehemmt. Diese Einrichtungen zu beseitigen, war eine unbedingte Notwendigkeit im Interesse einer weiteren Entfaltung der Produktivkräfte. In dieser Beseitigung lag der ganze Sinn der damaligen gesellschaftlichen Bewegung in Frankreich. In der Philosophie fand die Notwendigkeit dieser Beseitigung ihren Ausdruck in der Form des Kampfes gegen die veralteten abstrakten Begriffe, die auf dem Boden der veralteten Produktionsverhältnisse entstanden war.

Im Zeitalter Descartes’ waren diese Beziehungen noch lange nicht veraltet; ebenso wie die anderen gesellschaftlichen Einrichtungen, die auf ihrem Boden erwachsen waren, hinderten sie nicht die Entfaltung der Produktivkräfte, sondern förderten sie. Deshalb dachte damals auch niemand daran, sie zu beseitigen. Darum machte sich die Philosophie direkt zur Aufgabe, die Produktivkräfte zu steigern, und das war die praktische Hauptaufgabe der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Entstehung.

Wir sagen das in Erwiderung auf Labriola. Aber vielleicht sind unsere Erwiderungen überflüssig; vielleicht hat er sich nur ungenau ausgedrückt, ist aber im Grunde genommen mit uns einverstanden? Wir wären sehr froh darüber; jeder empfindet Genugtuung darüber, daß kluge Leute sich mit ihm einverstanden erklären.

Würde er sich mit uns nicht einverstanden erklären, so hätten wir nur bedauernd wiederholt, daß dieser kluge Kopf sich irrt. Damit hätten wir vielleicht unseren subjektivistischen alten Käuzen Anlaß gegeben, noch einmal darüber zu kichern, daß es schwer sei, unter den Anhängern der materialistischen Geschichtsauffassung die „echten“ von den „unechten“ zu unterscheiden. Darauf hätten wir aber den subjektivistischen Alterchen geantwortet, daß sie „über sich selber lachen“. [1*] Jemandem, der sich selber den Sinn eines philosophischen Systems zu eigen gemacht hat, fällt es leicht, die wahren Anhänger dieses Systems von den falschen zu unterscheiden. Hätten sich die Herren Subjektivisten die Mühe genommen, die materialistische Erklärung der Geschichte zu durchdenken, so hätten sie selber gewußt, wo die wahren „Schüler“ sind und wer sich den großen Namen fälschlicherweise zulegt. Da sie sich aber diese Arbeit nicht gemacht haben und auch nicht, machen werden, so werden sie notgedrungen aus der Ratlosigkeit nicht herauskommen. Das ist das gemeinsame Los aller Rückständigen. die aus der aktiven Armee des Fortschritts ausgeschieden sind. Apropos über Fortschritt. Erinnern Sie sich noch, lieber Leser, der Zeit, als die „Metaphysiker“ geschmäht wurden, als Philosophie nach „Lewis“ und teilweise nach dem Lehrbuch des Kriminalrechts des Herrn Spassowitsch studiert wurde und als für „fortschrittliche“ Leser besondere „Formeln“ ausgedacht wurden, die außerordentlich einfach und selbst für jüngere Schulkinder verständlich waren? Eine herrliche Zeit war das! Sie ist dahin, diese Zeit, zerronnen wie Dunst. Die „Metaphysik“ beginnt von neuem die russischen Geister anzulocken, „Lewis“ kommt aus dem Gebrauch. Und die ominösen Fortschrittsformeln werden von allen vergessen. Jetzt pflegen sich sogar die subjektivistischen Soziologen – die bereits „ehrwürdig“ und „prominent“ geworden sind – außerordentlich selten an diese Formeln zu erinnern. Bemerkenswert ist zum Beispiel, daß sie niemandem einfielen gerade zu einer Zeit, als sie scheinbar höchst notwendig waren, d.h. als man bei uns darüber zu diskutieren anfing, ob wir vom Wege des Kapitalismus auf den Weg der Utopie abschwenken können. Unsere Utopisten versteckten sich hinter dem Rücken eines Mannes, der die phantastische „Volksproduktion“ verteidigte und zugleich sich für einen Anhänger des modernen dialektischen Materialismus ausgab. Der sophistisch verdrehte dialektische Materialismus erwies sich also als die einzige beachtenswerte Waffe in den Händen der Utopisten. In Anbetracht dessen wäre sehr nützlich, sich darüber zu, unterhalten, wie die Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung den „Fortschritt“ auffassen. Freilich, darüber wurde schon mehr als einmal in unserer Presse gesprochen.

Aber erstens bleibt die moderne materialistische Auffassung des Fortschritts für viele noch unklar, und zweitens wird er bei Labriola durch manche sehr geschickte Beispiele illustriert und durch manche sehr richtige Argumente erläutert, obwohl er leider dennoch nicht systematisch und vollständig dargelegt wird. Labriolas Betrachtungen müssen ergänzt werden. Wir hoffen es in einem freieren Augenblick tun zu können. Jetzt aber müssen wir schließen.

Bevor wir aber die Feder niederlegen, möchten wir den Leser noch einmal bitten, nicht zu vergessen, daß der sogenannte ökonomische Materialismus, gegen den sich die – dazu noch sehr wenig überzeugenden – Einwände unserer Herren Volkstümler und Subjektivisten richten, mit der modernen materialistischen Geschichtsauffassung sehr wenig gemein hat. Vom Standpunkt der Theorie der Faktoren stellt sich die menschliche Gesellschaft als schwere Fracht dar, die verschiedene „Kräfte“ – Moral, Recht, Ökonomie usw. usw. – jede von ihrer Seite aus auf dem historischen Wege dahinschleppen. Vom Standpunkt der heutigen materialistischen Geschichtsauffassung sieht die Sache ganz anders aus. Die historischen „Faktoren“ erweisen sich als einfache Abstraktionen, und sobald ihr Nebel zerrinnt, wird es klar, daß die Menschen nicht einige voneinander getrennte Geschichten: die Geschichte des Rechts, die Geschichte der Moral, der Philosophie usw., machen, sondern nur eine Geschichte ihrer eigenen gesellschaftlichen Beziehungen, die in jeder gegebenen Zeit durch den Zustand der Produktivkräfte bedingt werden. Die sogenannten Ideologien sind bloß vielgestaltige Widerspiegelungen dieser einzigen und unteilbaren Geschichte in den Köpfen der Menschen.


Anmerkung des Übersetzers

1*. Worte einer der Hauptpersonen in der Schlußszene des Revisor von Gogol.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008