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Wie entstehen rechtliche Normen? Man kann sagen, daß eine jede solche Norm die Aufhebung oder Umgestaltung irgendeiner alten Norm oder irgendeines alten Gebrauches ist. Weswegen werden die alten Gebräuche aufgehoben? Weil sie den neuen „Verhältnissen“, d.h. den neuen, tatsächlichen Beziehungen, in die die Menschen im Verlaufe des gesellschaftlichen Produktionsprozesses zueinander treten, nicht mehr entsprechen. Der Urkommunismus verschwand infolge des Anwachsens der Produktivkräfte. Die Produktivkräfte wachsen aber nur allmählich. Deshalb wachsen auch nur allmählich die neuen tatsächlichen Beziehungen der Menschen im gesellschaftlichen Produktionsprozeß. Deshalb wächst auch nur allmählich die durch die alten Normen oder Bräuche ausgeübte Hemmung und folglich auch das Bedürfnis, den neuen tatsächlichen (ökonomischen) Beziehungen der Menschen den entsprechenden juridischen Ausdruck zu verleihen. Die instinktmäßige Weisheit des denkenden Tieres folgt gewöhnlich diesen tatsächlichen Veränderungen. Wenn die alten juridischen Normen für einen gewissen Teil der Gesellschaft hinderlich sind, ihre Alltagsziele zu erreichen, ihre dringenden Bedürfnisse zu befriedigen, so wird ihr hemmender Charakter diesem Teil der Gesellschaft unbedingt und außerordentlich leicht zum Bewußtsein kommen: dazu bedarf es nicht viel mehr Weisheit als für die Erkenntnis, daß es unbequem ist, allzu enges Schuhzeug oder ein viel zu schweres Gewehr zu tragen. Aber von dem Bewußtsein, daß die gegebene juridische Form hemmend wirkt, ist es natürlich noch ein weiter Weg bis zum bewußten Bestreben, sie aufzuheben. Anfänglich suchen die Menschen, sie in jedem einzelnen Fall einfach zu umgehen. Man erinnere sich, was bei uns in den großen Bauernfamilien vor sich ging, als unter dem Einfluß des entstehenden Kapitalismus neue Verdienstmöglichkeiten auftauchten, die für die verschiedenen Familienmitglieder verschieden waren. Das übliche Familienrecht wurde dann für die Glückspilze, die mehr verdienten als die andern, hemmend. Aber diese Glücklichen entschlossen sich gar nicht so leicht und nicht so bald, dem alten Brauch den Krieg anzusagen. Lange Zeit hindurch wandten sie einfach List an und verheimlichten vor ihren Familienältesten einen Teil des verdienten Geldes. Aber die neue ökonomische Ordnung faßte allmählich festen Fuß, die alte Familie geriet immer mehr ins Wanken; die Familienmitglieder, die an der Aufhebung der alten Familienformen interessiert waren, erhoben das Haupt immer höher und höher; die Teilungen des Haushalts wurden immer häufiger, und endlich verschwand die alte Sitte und machte einer neuen Sitte Platz, die durch. die neuen Verhältnisse, die neuen tatsächlichen Beziehungen, die neue Ökonomie der Gesellschaft hervorgerufen worden war.
Das Bewußtsein der Menschen von ihrer Lage bleibt in seiner Entwicklung mehr oder weniger hinter der Entwicklung der neuen tatsächlichen Beziehungen, die diese Lage verändern, zurück. Dennoch folgt das Bewußtsein den tatsächlichen Beziehungen. Wo das bewußte Bestreben der Menschen; die alten Einrichtungen aufzuheben und eine neue rechtliche Ordnung zu errichten, schwach entwickelt ist, dort ist die neue Ordnung durch die ökonomische Struktur der Gesellschaft nicht ganz vorbereitet. Mit anderen Worten, die Unklarheit des Bewußtseins – „Fehlgriffe des unreifen Denkens“, „Unwissenheit“ – kennzeichnet in der Geschichte mitunter nur das eine, nämlich daß der Gegenstand, über den man sich bewußt werden muß, d.h. die neuen entstehenden Gegenstände, nur schwach entwickelt sind. Nun, die Unwissenheit dieser Art – die Unkenntnis und das Nichtbegreifen dessen, was noch nicht da ist, was erst im Werden begriffen ist – ist offenbar nur eine relative Unwissenheit.
Es gibt eine andere Art von Unwissenheit, die Unwissenheit in bezug auf die Natur Diese kann man als absolut bezeichnen. Ihr Gradmesser ist die Macht der Natur über den Menschen. Da aber die Entfaltung der Produktivkräfte die wachsende Macht des Menschen über die Natur bedeutet, so ist klar, daß eine Vermehrung der Produktivkräfte eine Verminderung der absoluten Unwissenheit bedeutet. Die von den Menschen unverstandenen und daher ihrer Macht nicht unterworfenen Naturerscheinungen erzeugen verschiedene Formen des Aberglaubens. Auf einer gewissen Entwicklungsstufe der Gesellschaft verflechten sich die abergläubischen Vorstellungen aufs engste . mit den sittlichen und rechtlichen Begriffen der Menschen, denen sie dann eine eigentümliche Färbung verleihen. [1] Im Prozeß des Kampfes – der durch die Entwicklung der neuen tatsächlichen Beziehungen der Menschen im gesellschaftlichen Produktionsprozeß hervorgerufen wird – spielen die religiösen Anschauungen mitunter eine große Rolle. Sowohl die Neuerer als auch die Hüter der Ordnung appellieren an die Hilfe der Götter, stellen diese oder jene Einrichtungen unter den Schutz der Götter oder erklären gar diese Institutionen durch die Offenbarung des göttlichen Willens. Es ist begreiflich, daß die Eumeniden, die einstmals bei den Griechen als Anhängerinnen des Mutterrechts galten, für den Schutz des letzteren ebensowenig getan haben, wie Minerva für den Sieg der ihr angeblich so genehmen Vaterherrschaft. Die Menschen, die die Hilfe der Götter und Fetische herbeiriefen, vergeudeten vergeblich Mühe und Zeit; die Unwissenheit, die den Glauben an die Eumeniden ermöglichte, hinderte jedoch die damaligen griechischen Hüter“ nicht, wohl zu verstehen, daß die alte rechtliche Ordnung (genauer, das alte landläufige Recht) ihre Interessen besser sicherte. Ebenso hat der Aberglaube, der die Hoffnungen auf Minerva setzen ließ, die Neuerer nicht gehindert, die ganze Unbehaglichkeit der alten Ordnung zu empfinden.
Den Dajaken auf der Insel Borneo war der Gebrauch des Keils beim Holzhacken unbekannt. Als die Europäer den Keil dorthin brachten, verboten die einheimischen Behörden feierlich dessen Gebrauch. [2] Das war scheinbar ein Beweis ihrer Unwissenheit: was kann auch sinnloser sein als der Verzicht auf den Gebrauch eines Werkzeugs, das die Arbeit erleichtert? Man denke jedoch nach, und man wird vielleicht sagen, daß sich dafür mildernde Umstände finden lassen. Das Verbot, europäische Arbeitswerkzeuge zu gebrauchen, war sicherlich eine der Äußerungen des Kampfes gegen den europäischen Einfluß, der die alte Lebensordnung der Eingeborenen zu untergraben begann. Die einheimischen Behörden fühlten unklar, daß nach der Einführung der europäischen Gebräuche von dieser Ordnung nicht ein Stein auf dem andern bleiben wird. Der Keil erinnerte sie aus irgendeinem Grunde mehr als andere europäische Werkzeuge an den zerstörenden Charakter des europäischen Einflusses. Und da verboten sie feierlich, ihn zu gebrauchen. Warum erschien gerade der Keil in ihren Augen als Symbol der gefährlichen Neuerungen? Auf diese Frage können wir befriedigend nur die Antwort geben: die Ursache, weswegen die Vorstellung vom Keil sich in den Köpfen der Eingeborenen mit der Gefahr verband, die ihre alten Lebensformen bedrohte, ist uns unbekannt. Wir können aber mit Bestimmtheit sagen, daß die Eingeborenen gar nicht fehlgingen, als sie um ihre alte Lebensordnung besorgt waren: der europäische. Einfluß pflegt in der Tat sehr rasch und stark die Gebräuche der ihm unterworfenen Wilden und Barbaren zu entstellen, oder gar zu zerstören.
Tylor spricht davon, daß die Dajaken, die den Gebrauch des Keils laut verurteilten, ihn dennoch benutzten, wenn sie es insgeheim tun konnten. Da habt ihr „Heuchelei“ nebst Unwissenheit. Aber woher kam das? Offenbar war es erzeugt durch die Erkenntnis der Vorzüge der neuen Art des Holzhackens, begleitet von der Furcht vor der öffentlichen Meinung oder der Verfolgung seitens der Behörden. So kam es, daß die instinktmäßige Weisheit des denkenden Tieres die Maßnahme kritisierte, deren Entstehung dieser Weisheit zu verdanken war. Und sie hatte in ihrer Kritik recht: den Gebrauch europäischer Werkzeuge verbieten hieß keineswegs, den europäischen Einfluß ausschalten.
Um mit Labriola zu sprechen, hätten wir sagen müssen, daß die Dajaken im gegebenen Fall eine Maßnahme getroffen haben, die ihrer Lage nicht entsprach, mit ihr nicht übereinstimmte. Wir hätten vollkommen recht. Und wir hätten zu dieser Bemerkung Labriolas hinzufügen können, daß die Menschen sehr oft solche mit ihrer Lage nicht übereinstimmende und ihr nicht entsprechende Maßnahmen ausdenken. Was aber folgt daraus? Nur so viel, daß wir bemüht sein müssen aufzudecken, ob nicht zwischen derartigen Irrtümern der Menschen einerseits und dem Charakter oder Grad der Entwicklung ihrer gesellschaftlichen Beziehungen anderseits irgendein . Zusammenhang besteht. Ohne Zweifel besteht ein solcher Zusammenhang. Labriola meint, daß die Unwissenheit ihrerseits erklärt werden kann. Wir sagen: nicht nur erklärt werden kann, sondern auch erklärt werden muß, falls die Gesellschaftswissenschaft imstande sein soll, eine exakte Wissenschaft zu werden. Wenn die „Unwissenheit“ durch gesellschaftliche Ursachen erklärt werden kann, so ist jede Berufung auf sie, ist alles Gerede hinfällig, daß in der „Unwissenheit“ der Schlüssel des Rätsels stecke, warum die Geschichte diesen und keinen anderen Verlauf genommen hat. Der Schlüssel zur Lösung liegt nicht in der Unwissenheit, sondern in den gesellschaftlichen Ursachen, die die Unwissenheit erzeugt und ihr diese und nicht eine andere Form, diesen und nicht einen anderen Charakter verliehen haben. Wozu sollen Sie Ihre Forschung auf einfache nichtssagende Berufungen auf die Unwissenheit beschränken? Wenn von der wissenschaftlichen Geschichtsauffassung die Rede ist, so zeugt die Berufung auf die Unwissenheit nur von der Unwissenheit des Forschers.
1. M.M. Kowalewski sagt in seinem Buch Gesetz und Brauch im Kaukasus: „Eine Analyse der religiösen Vorstellungen und der Formen des Aberglaubens der Ishawen führt uns zu der Schlußfolgerung, daß dieses Volk unter dem offiziellen Deckmantel der christlichen Orthodoxie sich bis jetzt noch auf der Stufe der Entwicklung befindet, die von Tylor so treffend als Animismus bezeichnet wurde. Bekanntlich wird dieses Stadium gewöhnlich von dem Zustand begleitet, daß sowohl die öffentliche Moral als auch das Recht absolut der Religion untergeordnet sind“ (Bd.II, S.82). Die Sache ist aber die, daß nach Tylor der primitive Animismus weder auf die Moral noch auf das Recht irgendeinen Einfluß hat. Auf dieser Entwicklungsstufe „gibt es zwischen Moral und Recht keine gegenseitige Beziehung, oder diese Beziehung bleibt im Keime stecken“. „Dem wilden Animismus fehlt beinahe vollständig das sittliche Element, das in den Augen. des zivilisierten Menschen das Wesen einer jeden praktischen Religion ausmacht ... die sittlichen Gesetze haben ihre besonderen Gründe.“ (La civilisation primitive, Paris 1876, Bd.II, S.463-464.). Aus diesem Grunde wäre es richtiger zu sagen, daß die verschiedenen Formen des religiösen Aberglaubens sich erst auf einer gewissen verhältnismäßig hohen Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung mit den sittlichen und rechtlichen Begriffen verflechten. Wir bedauern sehr, daß der Raummangel uns nicht erlaubt, hier zu zeigen, wie der moderne Materialismus dieses erklärt.
2. E. B. Tylor, La civilisation primitive, Paris 1876, Bd.I, S.82.
Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008