Anton Pannekoek

 

Herman Gorter

(September 1927)


Anton Pannekoek. Herman Gorter, in Kommunistische Arbeiterzeitung Organ der Kommunistischen Arbeiter-Internationale, 6. Jg, 1927, Nr. 9, S. 1-2
HTML-Markierung und Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.



Unser Genosse Herman Gorter ist plötzlich gestorben. In ihm hat das revolutionäre Proletariat einen seiner treuesten Freunde und vorzüglichsten Mitkämpfer verloren. Er gehörte zu den besten Kennern der marxistischen Theorie, und er war einer der ganz wenigen, die durch alle Kämpfe und Spaltungen hindurch dem revolutionären Kommunismus treugeblieben sind.

Als Sohn eines geschätzten Schriftstellers am 26. November 1862 geboren, studierte er die alten Klassiker und wurde Gymnasiallehrer. Alle junger Mann überraschte er die literarische Welt Hollands mit einem Dichtwerk „Mai“, das sofort und noch immer als eins der vorzüglichsten Kunstwerke der holländischen schönen Literatur anerkannt wurde. Die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderte waren eine Sturm- und Drangperiode; eine Reihe begabter Schriftsteller und Dichter traten auf, stellten im hartem Kampfe mit der formalistischen Tradition als Maß der Schönheit die Wahrheit und die treue Wiedergabe der klaren Empfindung aus, und ihr Wirken hat Sprache und Literatur völlig umgebildet. Aber in den neunziger Jahren versiegte allmählich die Quelle; die Geister trennten sich suchend. Gorter sah auch mit Verwunderung die Kraft dieser Bewegung steril werden; er vertiefte sich in die Schönheit der großen Literatur früherer Zeiten, der Griechen im Altertum, der Italiener im Mittelalter, der Engländer zu Anfang der neuen Zeit, und wunderte sich, wo wohl die Quelle ihrer Kraft gewesen war. Er stürzte sich in die Philosophie, übersetzte Spinoza, studierte Kant, aber sie brachten ihm keine Antwort und keine neue Kraft. Da wandte er sich zu den Schriften von Marx, und hier fand er endlich was er suchte: das klare Verständnis der gesellschaftlichen Entwicklung als Grundlage der geistigen Produktion der Menschen. Immer in der Geschichte, wenn eine Klasse sich erhob, sich emporkämpfte, wenn die Welt sich ihr auftat, offenbarte sich die neue Energie: das neue Machtgefühl, die neue Begeisterung in einer neuen Blüte der schönen Literatur und so war auch die literarische Bewegung, deren er selbst ein Teil war, ein geistiger Wiederhall der anfangenden kapitalistischen Entwicklung Hollands. Aber von Marx lernte er nun auch die Beschränktheit der bisherigen bürgerlichen Entwicklung, durch ihn lernte er den Klassenkampf des Proletariats verstehen; und von da an war all sein Denken und Empfinden der Sache der kämpfenden Arbeiterklasse gewidmet. Seine neue Erkenntnis und Abrechnung mit seiner Vergangenheit hat er dann in einer Artikelserie „Kritik der literarischen Bewegung der Achtziger in Holland“ gegeben. In seinen letzten Lebensjahren ist er auf diese Fragen zurückgekommen in einer Behandlung der großen Weltliteratur aller Zeiten in Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung; aber diese Arbeit ist leider nicht zu einem endgültigen Abschluß gekommen.

Am Ende der neunziger Jahre schloß er sich der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Hollands an. Bald war er in dieser emporkommenden Bewegung einer der beliebtesten Agitatoren, wegen der einfachen Klarheit seiner Darlegung der Prinzipien. Einige vorzügliche Agitationsschriften sind auch von ihm verfaßt worden. Aber dann geriet er in Streit mit den politischen Führern der Partei, die sich mit dem Wachsen der Bewegung mehr und mehr dem Reformismus zuwandten. Mit Van der Goes und Henriette Roland-Holst gab er die Monatsschrift „De Nieuwe Tijd“ heraus, die zu einem Organ marxistischer Theorie und prinzipieller Kritik wurde. In allen wichtigen Streitfragen, die da auftauchten: die Agrarfrage, die Schulfrage, die Taktik bei dem Eisenbahnerstreik, die Wahlen, stand er voran in der scharfen Bekämpfung des Opportunismus. Zeitweilig kam er dabei auch in die Parteileitung, aber schließlich (1906) wurde diese Gruppe von den reformistischen Politikern in die Minorität gedrängt und als Parteischädlinge denunziert. Diese Kämpfe, die in allen Ländern in ähnlicher Weise stattfanden, brachten ihn in nähere Berührung mit der deutschen Sozialdemokratie. Obgleich er durch die Praxis der holländischen Bewegung völlig in Anspruch genommen, nur selten an der „Neuen Zeit“ mitarbeitete, trat er in ein Freundschaftverhältnis zu Kautsky, das, obgleich später als ihre Wege sich trennten, weniger betätigt, doch immer ungelöst geblieben ist. Das war nicht das einzige Mal, daß, infolge der offenen Ehrlichkeit und Großzügigkeit seines Wesens und der strengen Sachlichkeit seiner Kampfes, Freunde, die er sich als Mitkämpfer gewonnen hatte, nachher, als sie durch die Entwicklung der Arbeiterbewegung Gegner geworden waren, doch seine Freunde geblieben sind.

Der Streit in der holländischen Partei brach ein paar Jahre später wieder aus, als einige jüngere Genossen, Wyn Koop und Van Ravestein, die leitenden Parteipolitiker auf ihrem eigenen Gebiet der praktischen Parlamentspolitik anzugreifen anfingen und dazu ein Oppositionsblatt, die „Tribüne“ gegründet hatten. Nach vielen Kämpfen wurden sie ausgeschlossen und gründeteten 1909 eine neue Partei, die SDP, die nachher zur Kommunistischen Partei wurde. Gorter hatte sich ihnen angeschlossen und war auch hier der angesehenste Führer, obgleich er den Anderen die praktische Tagespolitik überlassen mußte. Es kam hier hinzu, daß jetzt seine körperliche Kraft nachließ. Er besaß zwar eine eiserne Konstitution, konnte außerordentliche Anstrengungen ertragen, und, während er viele Privatstunden gab, war er zugleich unermüdlich in der Agitation. Aber bei dem Konflikt, der zu der Gründung der neuen Partei führte, wurde er zu stark belastet, er schonte sich nicht und war oft 24 Stunden pro Tag beschäftigt; da hat die Überanstrengung ihn mitgenommen und ihn an die Grenzen menschlicher Kraft gemahnt.

Gorter war im tiefsten seines Wesens Dichter, d. h. ein Mensch, der das große, Allgemeine der Welt unmittelbar in sich klar empfindet und in schöner, das ist in wahrer Sprache auszudrücken weiß. Aus den ruhelosen Agitationsjahren und dem theoretischen Studium hatte sich stets fester die neue sozialistische Weltanschauung als unmittelbare Empfindung in ihm entwickelt und drängte zum Ausdruck. Zuerst schrieb er „Ein kleines Heldengedicht“, das Aufwachen des Klassenbewußtseins in einem Arbeiter und einer Arbeiterin, als Epos des Proletariats, in kleiner stiller Sphäre. Dann erschien 1912 die erste — nachher stark erweiterte — Fassung seines größten Werkes „Pan“, das in symbolischer Form die Befreiung der Menschheit durch den Kampf der Arbeiter darstellt. Gegenüber „Mai“, dem kristallklaren sonnigen Weltblick der unbewußten Jugendillusion, ist Pan das inhaltschwere, schwarz- und lichtgemalte Epos der gereiften Weltanschauung des bewußten Mannes.

Und nun kam von 1914 an die schwere Zeit seines Lebens, da der Niedergang der revolutionären Arbeiterbewegung seinen tief empfindlichen Geist immer wieder schwer traf. Er kämpfte weiter, ohne sich entmutigen zu lassen, er machte sich auch durch seinen scharfen theoretischen Blick klar, dass es nicht anders sein konnte; aber trotzdem blieb es, wie für so viele unter uns, ein immer nagender Schmerz. Als durch den Ausbruch des Weltkriegs die sozialdemokratische Bewegung zusammenbrach, schrieb er „Der Imperialismus, der Weltkrieg und die Sozialdemokratie“, eine Abrechnung, die die Quelle des Zusammenbruchs in dem Reformismus der Arbeiterklasse selbst aufdeckte. Diese Schrift wurde deutsch in Amsterdam gedruckt, aber sie ist in Deutschland, durch den Kriegszustand, nur sehr wenig bekannt geworden. Auch in der Zeit den schwersten Niederganges behielt er sein Zutrauen in das Proletariat, das sich wieder in einer neuen revolutionären Bewegung erheben werde. Und als die russische Revolution ausbrach und ein Jahr später eine revolutionäre Welle über Europa zog, nahm er mit seiner ganzen feurigen Hingabe Teil an diese Bewegung. In der Schweiz, wo er sich gesundheitshalber aushielt, stand er mit den Russen der Gesandtschaft in regem Verkehr; hier schrieb er 1913 sein Werk „Die Weltrevolution“. Er ging dann mit ihnen, als sie November 1918 ausgewiesen wurden, nach Berlin und trat dort mit der anfangenden Revolutions-Bewegung in Verbindung. Seitdem ist er ein ständiger Mitarbeiter in der deutschen kommunistischen Bewegung geblieben. Vor allem wurde das notwendig, als die kommunistische Arbeiterbewegung, bei der sein ganzes Herz war, wieder und jetzt eine noch größere, weil unerwartete Enttäuschung brachte; als die beginnende Revolution nicht durch Macht von außen, sondern durch Schwäche von innen, durch Abwendung von den eigenen Prinzipien zusammenbrach. Er war unter den Ersten, die die Gefahr des Opportunismus in der westeuropäischen Taktik Lenins erkannten; in seinem „Offenen Schreiben an den Genossen Lenin“ setzte er die Unrichtigkeit dieser Taktik auseinander; auf einer Reise nach Rußland hat er in persönlichen Unterredungen mit Lenin und in Konferenzen mit den Führern der 3. Internationale sie zu überzeugen gesucht. Aber er sah und verstand bald, weshalb es vergebens war: Rußland konnte nicht anders als sich zu einem bürgerlichen Staat entwickeln. Von da an hat er seine Mitwirkung der KAP gegeben. Bei dem inneren Streit, der in der KAP ausbrach, hat er sich zu der Essener Richtung gehalten, deren Wortführer er sehr schätzte; doch hat er sich oft dahin ausgesprochen, daß die Berliner Richtung ihren praktischen Kampf in mustergültiger Weise führte. Er betrachtete den Gegensatz nicht als wesentlich und den Streitpunkt als vorübergehend; wiederholt sprach er von einer Hoffnung, sie wieder zusammenbringen zu können.

Sein Gesundheitszustand war in diesen letzten Jahren stark zurückgegangen als Folge vieler Überanstrengung, und der niederdrückenden Wirkung der Enttäuschungen durch den Verlauf der Arbeiterbewegung. Aber sein Geist erhob sich zu immer größerer Klarheit und größtem Weitblick der Weltanschauung. Er arbeitete ohne Rast, die neue Schönheit, die er in sich empfand, zum Ausdruck zu bringen; er vertiefte sich in den Marxismus, in die großen Dichter der Vergangenheit, in den Kommunismus, und er sprach noch in den letzten Tagen davon, daß er jetzt noch Vollkommeres schaffen könne, als er bisher gemacht hatte. Aber seine Krankheit verschlimmerte sich auf einmal während eines Aufenthaltes in der Schweiz, und aus der Heimreise starb et am 15. September in Brüssel.

Gorter war eine urkräftige, jugendfrische Natur, körperlich und geistig harmonisch ausgebildet. Von der Tiefe seines Naturempfindens zeugt jede Seite seiner Dichtungen. Schriftsteller und Historiker durch Veranlagung, gründlicher Kenner der Philosophie, wußte er sich später in schwierige Fragen der Naturwissenschaft einzuarbeiten, um seine Weltanschauung allseitig auszubilden und zu begründen. Solcher Mann mußte zum Sozialismus kommen, um zu völliger Harmonie mit der Welt zu gelangen. Seitdem gehörte seine ganze Liebe der Arbeiterklasse, war seine ganze Arbeit dem Kommunismus gewidmet. Sein Andenken bleibt als einer der reinsten und klarsten Köpfe der Arbeiterbewegung, als ein Beispiel der neuen werdenden Menschheit.



Zuletzt aktualisiert am 9.12.2008