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Zuerst erschienen in Proletarier, nr. 4 (Februar-März)
Abgedruckt in Pannekoek, Anton, Neubestimmung des Marxismus 1: Diskussion über Arbeiterräte, Berlin (West), Karin Kramer Verlag, 1974, 21-6.
HTML-Markierung und Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.
Die von Marx zusammen mit Engels begründete Gesellschaftslehre bildet die theoretische Grundlage des proletarischen Befreiungskampfes. Ihren wichtigsten Hauptteil bildet die Untersuchung der Entwicklungsgesetze des Kapitalismus, die im „Kapital“ niedergelegt ist; ihre praktischen Konsequenzen, die Lehre vom Klassenkampf als Hebel der proletarischen Revolution, finden sich schon im „kommunistischen Manifest“; ihre philosophische Seite (eine neue Anschauungsweise der menschlichen Gesellschaft, ihrer Triebkräfte und der Rolle des Menschengeistes in dem Prozeß der Entwicklung), die gewöhnlich als „historischer Materialismus“ bezeichnet wird, tritt in zahlreichen kleineren Werken hervor. Zusammen bilden diese ein System von wissenschaftlichen Lehren, die als geschlossene neue Weltanschauung den überlieferten bürgerlichen Lehren scharf gegenübersteht.
In der alten deutschen Sozialdemokratie wurde dieser Marxismus als offizielle Theorie anerkannt und — wenn auch nicht ohne einseitige Verzerrungen —- propagiert, vor allem in den zahlreichen Schriften Kautskys. Der Zusammenbruch der Sozialdemokratie, nicht nur ihrer Praxis, sondern auch ihrer Theorie, hat in den Kreisen der revolutionären Arbeiter ein gewisses Mißtrauen gegen den Marxismus geweckt, wozu auch sein ständiger Mißbrauch seitens der mundrevolutionären Parteien als Beschwörungsformeln gegen die Revolution beigetragen hat. Eine jüngere Generation von Kämpfern wächst nun heran, frei von den geistigen Einflüssen der alten S.P.D. Ihr Bedürfnis nach theoretischer Vertiefung und Selbstverständigung, nach Klärung der großen neuen Probleme inmitten einer neuen Welt, treibt sie zum Marxismus. Als ein Versuch in dieser Richtung, als Symptom dieses Bedürfnisses ist der Aufsatz „Materialismus und Idealismus“ in Nr. 2 des „Proletarier“ zu begrüßen. Im Anschluß daran mögen hier einige Grundbegriffe des Marxismus als neue philosophische Lehre erörtert werden.
Der Marxismus ist eine Erklärungsweise der Geschichte. Alle Geschichte ist Handeln, Tätigkeit der Menschen. Alles was die Menschen handeln und tun, geht durch Vermittlung ihrer Gedanken, ihres Wollens, ihres Geistes. Daher ist die Grundlage des Marxismus eine Wissenschaft des menschlichen Geistes. Der Marxismus ist die wissenschaftliche Betrachtung alles Geschehens in der Menschenwelt als eines natürlichen Vorganges, im Gegensatz zu der fantastischen, ideologischen Betrachtungsweise. Er ist daher auch die wissenschaftliche Betrachtung alles Geistigen in den Menschenköpfen als natürlicher Vorgänge, im Gegensatz zu der übernatürlichen Auffassung. Sein Grundsatz ist: Der menschliche Geist — und also alles, was er wirkt — wird völlig bestimmt durch die übrige reale, die materielle Welt.
Soll dieser Satz aber nicht mißverstanden werden, so ist eine Erläuterung nötig. Sie betrifft das Wort „materiell“, das auch die Bezeichnungen „materialistische Geschichtsauffassung“ und „dialektischen Materialismus“ bestimmt. Das Mißverständnis kommt daher, daß man diesem Wort die Bedeutung unterschiebt, die es in der Naturwissenschaft und der bürgerlichen Wissenschaft überhaupt hat: materiell ist alles Stoffliche, die sichtbare oder wägbare Materie im Gegensatz zum Geistigen; daher die verständnislose Bemerkung: Marx verneint die geistigen Faktoren in der Geschichte. Im Marxismus hat das Wort eine andere Bedeutung, und es wird sich zeigen, daß diese Bedeutung richtiger, logischer ist, von unseren Grundauffassungen untrennbar; daß daher die Aufforderung, weiterhin den Namen Materialismus in unserem Sinne nicht länger anzuwenden, zurückzuweisen ist.
Materiell bedeutet bei uns alles was wirklich ist, die ganze reale Welt, alles was auf uns wirkt. Nicht nur Nahrung und Luft, Bäume und Erde, sondern auch Farben und Töne, Worte und Gedanken. Alles Geistige ist also darin einbegriffen; wirklich, real bestehend, sind die Gedanken in unseren Köpfen, und sie wirken auch auf andere ein. Ist dann nicht Alles materiell in diesem Sinne? Nein; nicht materiell sind der Teufel, die Engelein und der liebe Herrgott, oder was sonst Menschenköpfe sich ausphantasieren. Nicht wirklich sind die abstrakte Moral und der „Geist der Menschheit“, nicht wirklich die „ewigen Menschenrechte“, die unveräußerlich hängen da oben. Aber materiell, d.h. wirklich, sind die Gedanken, die Ideen als Gedanken und Ideen, die Glaubenslehren, die Ideale, die in den Menschköpfen tatsächlich vorhanden sind und daher wirken: der religiöse Glauben an Gott und Teufel, die Sehnsucht nach Freiheit, die Begeisterung für das Recht, die Hingabe an große Ideale, die als mächtige vorwärtstreibende oder hemmende Kräfte in der Geschichte ihre Rolle spielten und spielen.
Für die bürgerliche Auffassung sind die Ideen im Kopfe und ihre phantastischen Objekte gleicher Natur, und sie faßt alles dies als das „Geistige“ zusammen; ist ihr doch der Menschengeist ein kleiner Teil des Allgeistes oder ein schwacher unvollkommener Abklatsch von Gottes Geist, und die Idee der Gerechtigkeit im Menschen ein Ausfluß der abstrakten ewigen Gerechtigkeit, die irgendwo ein gespensterhaftes Dasein führt. Daher macht sie den großen Strich zwischen all diesem erhabenen Geistigen einerseits und der schmutzigen, wenn auch sehr begehrten Materie andererseits. Für den Marxismus ist alles was im Menschengeiste ist ebenso wirklich und materiell wie der Stoff; das Geistige ist ihm so gut ein Stück Natur, ein Teil der Welt wie die Materie der Physiker, und er macht den Strich zwischen dieser wirklichen materiellen Allnatur einerseits, und den gespensterhaften Abstraktionen, denen die Phantasie der Menschen besonderes Dasein und Wesen verlieh, andererseits. Bei Dietzgen ist die marxistische Auffassung von Welt, Geist und Materie in breiter Ausarbeitung zu finden. Die bürgerliche Erklärung der Geschichte war daher ideologisch und phantastisch; die marxistische bringt alles zu den wirklich vorhandenen Kräften zurück, die er daher alle zusammen als materiell bezeichnet.
Der Marxismus sagt also nicht, daß nur die materiellen Verhältnisse, im engeren, bürgerlichen Sinne, den Geist des Menschen bestimmen; sondern er sagt, daß nur die wirkliche, aber auch die ganze wirkliche Umwelt ihn bestimmt. Neben den äußeren Lebensverhältnissen treten die geistigen Einwirkungen der Menschen aufeinander als wichtigste Kräfte auf; einerseits die Tradition überlieferter Anschauungen, die den Kindern eingeprägt und von den Herrschenden sorgsam gehegt wird, andererseits die Propaganda, die die neuen Ideen von dem einen auf die andern überbringt. Darin spricht sich aus, daß der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist; daß der geistige Besitz der Menschen an Wissen, Glauben, Anschauungen und Idealen ein kollektiver Besitz ist. Was hier, da, dort an Ideen in einzelnen Menschenköpfen entsteht, aus der Einwirkung neuer Verhältnisse heraus, wird durch den geistigen Verkehr zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft (Volk oder Klasse) zu einem Gesamtbesitz; nicht jedermann braucht es völlig neu in sich selbst zu entdecken, aber seine eigene Erfahrung hilft ihm, die neue Idee zu verstehen, die Propaganda der neuen Idee hilft ihm rascher als sonst seine Verhältnisse, seine Umwelt, seine Lage zu verstehen.
Die Geschichte, sagten wir, ist Handeln der Menschen. Was bestimmt das menschliche Handeln? Erstens die unmittelbaren Triebe, die zwingenden Bedürfnisse des Lebens: Hunger und Kälte treibt sie, wie die Tiere auch, Nahrung und Deckung zu suchen. Beim Menschen nimmt dies die Form des Gedankens, des bewußten Willens an. Aber auch andere Kräfte bestimmen sein Handeln: sittliche Triebe, geistige Einflüsse, Opfermut, Einsicht, Befreiung, Ideale verursachen oft ein Handeln gegen das unmittelbare Interesse. In revolutionären Zeiten sieht man die treibende Macht grosser Ideen. Unwissende Gegner glauben, damit den Marxismus widerlegen zu können: also nicht bloß materielle Kräfte bestimmen die Geschichte. Aber es ist klar, daß dies ein Mißverstehen ist. Der Marxismus leugnet die Macht der sittlichen, geistigen, idealen Kräfte nicht, sondern fragt: woher stammen sie? Nicht vom Himmel, sondern aus der wirklichen Welt selbst; erzeugt durch die Nöte der ökonomischen Entwicklung verbreiten sie sich durch Rede und Schrift, Literatur, Kunst, Propaganda, durch alle Mittel geistigen Verkehrs, während sie stets aus dem Boden, worin sie wurzeln, Nahrung nehmen und gewinnen so eine Riesenkraft. Die bürgerliche ideologische Geschichtsschreibung führt die große französische Revolution auf die neuen Ideen der Freiheit und der Menschenrechte zurück; der Marxismus erklärte sie aus den Bedürfnissen des emporkommenden Kapitalismus. Er besagte damit nicht, daß die bürgerliche Erklärung unrichtig, sondern daß sie unvollständig ist und die Sache im Dunkeln läßt; die neuen Ideen sprossen eben aus den Bedürfnissen der emporstrebenden Klasse der Bourgeoisie hervor.
Die Aufgabe der marxistischen Geschichtsforschung war daher: überall die wirtschaftlichen Wurzeln der großen historischen Ereignisse bloßlegen. Dabei wurde nur zu oft — wie auch in dem obigen kurzen Ausdruck für die Ursachen der französischen Revolution — die geistige Zwischenstufe als selbstverständlich übergangen. Diese Form der Darstellung gibt aber leicht zu Mißdeutungen Anlaß, als sei der Mensch gleichsam ein passives willenloses Werkzeug der materiellen Kräfte; in den sonst vorzüglichen historischen Werken Kautskys macht der Marxismus oft den Eindruck eines toten Mechanismus.
Diese Unterlassung wird aber zum prinzipiellen Fehler, wenn man den Marxismus auf die Gegenwart anwendet. Wenn für heute die wirtschaftlichen Ursachen und die Revolution als notwendiges Ergebnis unmittelbar nebeneinander gesetzt werden, wird die Theorie zum Fatalismus, dessen „marxistische“ Losungen und Gebote sind: die Verhältnisse ausreifen lassen, abwarten, sich nicht provozieren lassen, vor allem nicht eingreifen — an diesem Fatalismus ist der Marxismus der zweiten Internationale zugrunde gegangen.
Gerade in der Gegenwart sehen wir, was der Marxismus in Wirklichkeit ist; zwischen der ökonomischen Notwendigkeit als Ursache und der ökonomischen Revolution als Resultat liegt ein riesiges Zwischengebiet als ihre Verbindung: die lebendigen, empfindenden, denkenden, suchenden und kämpfenden Menschen mit ihren alten und neuen Anschauungen und Idealen. In unserer Epoche sehen wir den Prozeß vor sich gehen, wie durch die Köpfe der Menschen hindurch die Gesellschaft sich umwälzt. Die gewaltigen ökonomischen Umwälzungen, zuerst das Aufblühen des Kapitalismus, dann sein Zusammenbruch, wirken auf ihren Geist ein. Aber seine Wirkungen schreiben sich dort nicht wie auf ein weißes Blatt ein. Die Köpfe sind voll mit Anschauungen, die aus früheren kleinbürgerlichen, friedlichen Verhältnissen stammen und vielfach sogar als Tradition aus noch älteren Zuständen überliefert sind. Die neuen Erfahrungen und Eindrücke (direkt und durch Propaganda vermittelt) fügen sich zu dem alten Inhalt, müssen sich damit vereinigen, ausgleichen, den Kampf aufnehmen, sie umbilden oder zerstören. Je nach persönlicher Veranlagung und Umständen geht das verschieden und ungleich rasch; aber auf die Dauer gewinnt die neue Idee und verbreitet sich immer stärker, treibt die Menschen mit immer größerer Wucht zur Tat bis endlich die Kraft zur Revolution ausreicht.
Also: die Menschen müssen die Gesellschaft umwälzen; ohne das aktive Eingreifen des Proletariats kommt keine Revolution, kein Kommunismus; die „Notwendigkeit“, von der der Marxismus spricht, geschieht durch Vermittlung der Menschen; der menschliche Wille und seine Einsicht sind Glieder in der Kette, die Ursache und Resultat zusammenbindet. Und auch darf man nicht sagen: da die wirtschaftlichen Verhältnisse das Bewußtsein bestimmen, unabhängig von dem was wir wünschen, müssen wir abwarten, bis diese die Massen zum Willen und zur Tat treiben. Das ist unmarxistisch gedacht. Der Satz, daß das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimmt, bedeutet nicht, daß die ökonomisch-gesellschaftlichen Verhältnisse von heute das Bewußtsein von heute bestimmen. Auch die früheren Verhältnisse bestimmen das Bewußtsein von heute: das tritt hervor in der gewaltigen Macht der Tradition. Die Kampfbedingungen und Anschauungen aus der Zeit der zweiten Internationale — und noch ältere Traditionen — herrschen noch mit großer Macht über den Geist der Arbeiter und hemmen sie in der klaren Erkenntnis der neuen Kampfbedingungen und Ziele. Der menschliche Geist ist immer zurück gegen seine Aufgaben. Daher tritt die Notwendigkeit einer intensiven Propaganda ein, um die neue Wirklichkeit, die neuen Aufgaben auf die Gehirne und Herzen einwirken zu lassen, sie das Ideal des Kommunismus kennen zu lehren, und vor allem ihnen den Weg zu zeigen, wie sie ihre Kraft steigern können. Die Aufgabe der Revolution in ihrem ersten Stadium ist: das Bewußtsein des Proletariats auf die Höhe der Zeit, auf die Höhe seiner Aufgaben zu erheben. Daher ist der Satz vollkommen richtig, daß in Westeuropa mit seiner gewaltigen Macht der bürgerlichen Tradition, das Hauptproblem die Selbstbewußtseinsentwicklung des Proletariats ist.
Es ist also nicht richtig ausgedrückt, daß in den Marxismus ein idealistisches Moment hineingebracht werden soll. Der Idealismus(1), die Begeisterung, der Wille zur revolutionären Tat, sie sind gerade die Faktoren, die er als Zwischenglieder in der gesellschaftlichen Entwicklung voraussetzt. Nur gegenüber einer dürren, fatalistischen Verzerrung des Marxismus, die der zweiten Internationale eigen war, gilt es die Bedeutung dieser Momente der menschlichen Aktivität im Marxismus jetzt kräftig hervorzuheben.
(1) Der Name „Idealismus“ für die philosophischen Systeme vor Marx, die von der „Idee“ als Grundlage der Welt ausgingen, und denen Marx seinen „Materialismus“ gegenüberstellte, hat nichts zu tun mit Idealismus, Hingabe an Ideale.
Zuletzt aktualisiert am 9.12.2008