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Aus: Arbeiterpolitik, 4. Jg. Nr. 5, 1. Februar 1919, S. 344f.
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In ganz Europa breitet sich der Kommunismus aus, der den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat bewußt führt, um die proletarische Diktatur zu errichten. Nicht in allen Ländern ist der Kampf zu derselben Höhe der Entwicklung und damit zu demselben Grad der inneren Klarheit gediehen. In den rückständigsten Ländern zeigt er sich nur erst als eine spontane Auflehnung gegen die Bourgeoisie und die alte Sozialdemokratie, ohne noch zu einer neuen Anschauung fortzuschreiten. In den fortgeschrittensten Ländern hat er zu einer neuen geistigen Orientierung, zu einer neuen Anschauungsweise geführt, den wir Kommunismus nennen. Aber überall findet die neue Richtung die ganze bürgerliche Welt, einschließlich der bisherigen Sozialdemokratie gegen sich.
Zentrum und Hochburg des Kommunismus und der proletarischen Revolution bildet die russische Republik. Hier sind, aus der Not der Praxis spontan auswachsend, die Formen geschaffen worden, die das Wesen des Kommunismus bestimmen und den Arbeitern anderer Länder als Vorbild dienen: die Formen der proletarischen Klassenherrschaft im Gegensatz zu der formellen bürgerlichen Demokratie, zu der sich überall die Sozialdemokratie bekannte. Gegen die Ausnutzung der formellen Demokratie durch die Arbeiter in der früheren Periode konnte die Bourgeoisie nicht viel einwenden und auch nicht viel machen: sie hat sich auch als nicht direkt gefährlich gezeigt. Aber gegen die Ausrichtung einer Klassenherrschaft des Proletariats, gegen die proletarische Diktatur muß sie sich mit allen Mitteln zur Wehr stellen; denn das gilt ihre Existenz als ausbeutende Klasse. Daher der ständige Kampf mit allen Mitteln gegen das bolschewistische Rußland. Zuerst schnitt der deutsche Imperialismus die besten Lebensmittel- und Rohstoffgebiete von ihm ab. An allen Seiten wurde es umgeben von feindlichen Randstaaten. Dann trat der Ententeimperialismus als sein hartnäckigster und mächtigster Feind auf. Er stachelte die Tschechoslawaken im Ural an, schickte ihnen Waffen und Hilfskorps und drang vom Norden, vom Eismeer vorwärts. Aber auch in anderer Weise, auf dem Wege der Verschwörung, suchte er die Sowjetrepublik zu vernichten. In dem Genfer Blatt Le Nouvelle Internationale vom 23. November wird ein Brief abgedruckt Herrn Marchand, Korrespondent des Figaro, eines Patrioten ohne bolschewistische Sympathien, am 4. September an den Präsidenten Poincare gerichtet; dort beschreibt der Verfasser mit Empörung die Verschwörung der Entente-Konsuln in Petrograd, bei der er zugegen war, und die beabsichtigte, durch Sprengung der Eisenbahnbrücken in Petrograd eine künstliche Hungersnot und dadurch eine Rebellion hervorzurufen. Diese Verschwörung ist auch von der Sowjetregierung ans Licht gezogen und sie wirft Licht auf die Mittel, die der Ententeimperialismus im Kampfe gegen den Kommunismus für erlaubt hält.
Mit dem Zusammenbruch des deutschen Imperialismus bekamen die Ententeregierungen die Hände im Osten frei. Sie schickten die Balkanarmee nach Odessa und Bessarabien und eine Flotte nach Estland. Es schien, als sollte eine große militärische Expedition Rußland von allen Seiten angreifen. Nachher sind offenbar Bedenken gekommen. Einerseits war die Sache militärisch wohl nicht so leicht: eine große Armee in die endlosen Steppen hineinschicken, um eine Bevölkerung von fünfzig Millionen, die sich selbst befreite, wieder in die alte Knechtschaft zurückzuzwingen, hat große Schwierigkeiten.
Und dann zeigte sich in England und Frankreich unter den Massen ein immer größerer Unwillen, sich für einen solchen Krieg gebrauchen zu lassen. Dadurch wird ein direkter Angriffskrieg in hohem Maße gelähmt. Das bedeutet nicht, daß das Ententekapital seine Absichten aufgibt und den russischen Kommunismus unbehelligt lassen will. Es verharrt bei der Absicht, ihn möglichst zu schwächen. Es unterstützt die Truppen in den feindlichen Randgebieten, die Kosaken, die Ukrainer, die Finnen, die Tschechoslowaken, die reaktionären russischen Generäle dadurch, daß es ihnen Offiziere und vor Allem Geschütze und Kriegsmaterial — das jetzt massenhaft freigekommen ist — zur Verfügung stellt; und daneben versucht es nun den Hunderttausenden russischen Kriegsgefangenen, die jetzt unter seiner Aufsicht aus Deutschland zurückbefördert werden, Armeen gegen die Sowjetregierung zu bilden. Zugleich will die englische Regierung — laut ihres Vorschlages in Paris — in listiger Weise die moralische Kraft der Sowjetregierung schwächen durch die Einladung zu einem Kompromiß und einer Wiederherstellung der bürgerlichen Demokratie, um dann aus der Ablehnung dieser Zumutung den eigenen Arbeitern die Verruchtheit des Bolschewismus zu demonstrieren.
Während in Rußland der Kommunismus sich noch kräftig behauptet, greift er in den besiegten Mittelstaaten Europas immer weiter um sich. In Deutschland haben die bisherigen Kämpfe äußerlich eine Niederlage gebracht, die beweist, daß der Kommunismus noch nicht allseitig die ganze arbeitende Masse ergriffen hat; aber sie haben bewirkt, daß für den Kern des Proletariats jetzt der gegensätzliche Charakter von Kommunismus und Sozialdemokratie klar hervortritt. In Ungarn und Oesterreich verbreitet sich der Kommunismus unter den Arbeitern immer mehr; die furchtbare Arbeitslosigkeit und die Lebensmittelnot treiben sie in die Opposition zu den von Sozialdemokraten gebildeten Regierungen.
Aber wie steht es in den Ententeländern selbst? Wir sind gegen den Bolschewismus gefeit, erklärte ein französischer Politiker, durch unseren Sieg; der Bolschewismus ist eine Krankheit besiegter Völker. Bis zu einer gewissen Höhe hatte er Recht. Denn erstens steigert die Niederlage im Krieg das Kriegselend im höchsten Maße, und dann ist eine besiegte Regierung so sehr geschwächt, daß sie leicht gestürzt werden kann. In den Ententeländern sind daher die Symptome anders und ist die Bewegung notwendig rückständig und weniger bewußt. Die englischen Proletarier sind in ihrer Masse noch nicht für den Kommunismus, aber sie sind auch nicht bereit, gegen den Kommunismus zu kämpfen. Gegen den deutschen Imperialismus, den ,,Kaiserismus“, waren sie bereit, in den Krieg zu ziehen; aber jetzt drängen sie stürmisch auf Demobilisierung. So lähmen sie die Regierung in hohem Maße in dem Kampf gegen den ausländischen Kommunismus. Das ist der Hauptgrund, weshalb es zu einem kräftigeren Auftreten gegen Rußland — und in Zukunft gegen Deutschland — nicht kommen kann.
Aber daneben ist es nicht zu bezweifeln, daß auch der Kommunismus selbst in diesen Ländern an Boden gewinnt. Wir erfahren wenig davon, weil noch immer die strengste Zensur den Briefverkehr und die Zeitungen bewacht. Aber gerade die Tatsache, daß diese Zensur noch immer so streng gehandhabt wird, beweist, wie sehr die Regierungen dort dem Eindringen bolschewistischer Ideen und wahrheitsgetreuer Nachrichten aus Rußland fürchten. Aus der Zeit der englischen Parlamentswahlen wurde über eine Versammlung in London berichtet, wo Muir von der Gasarbeiterunion den Bolschewismus verteidigte; ähnliche sind wohl anderswo vorgekommen; und in Glaskow erhielt Meclean, ein gründlich marxistisch durchgebildeter Kommunist, der während des Krieges Werftarbeiterstreiks leitete und lange Jahre verhaftet war, eine große Stimmenzahl. In England lehnt die kommunistische Bewegung an die spontane Streikbewegung an, die schon in den Jahren vor dem Krieg gegen den Willen der großen Gewerkschaften in den Arbeitermassen aufloderte; sie findet keine bedeutende und erstarkte sozialistische Bewegung sich gegenüber, sondern eine alteingerostete Gewerkschaftsbewegung, die aus praktischen Gründen geübt wird, aber keine geistige Macht über die Köpfe besitzt, weil sie selbst keinen geistigen Gehalt besitzt.
Auch in Frankreich sucht die Zensur das Eindringen des Bolschewismus und das Durchsickern von Nachrichten nach außen zu verhindern. Das gelingt aber nicht völlig. So berichtet neulich ein holländisches Blatt (N. Rotterdamer) am 15. Januar aus Paris:
„Der sozialistische Bund des Seine-Departements (De Paris) hatte am letzten Sonntag eine große Versammlung ausgeschrieben zur Besprechung der Demobilisierung, der brennendsten und schwierigsten Augenblicksfrage in Frankreich. Die Zusammenkunft war kaum vom Abgeordneten Aubriot eröffnet worden, als sich schon zeigte, daß der revolutionäre Geist die Versammlung völlig beherrschte und daß man dort die Mehrheitssozialisten Albert Thomas, Renaudel, Brackee genau so betrachtete als die Spartakusleute in Deutschland Ebert und Scheidemann betrachteten. Albert Thomas hatte es sogar vorgezogen, ganz wegzubleiben. Der Abgeordnete Bracke wurde während seiner Rede fortwährend unterbrochen von Rufen: Hoch Lenin, hoch Trotzky, Hoch Liebknecht.
Der Abgeordnete Leval wurde zuerst angehört; als er sich aber erfrechte zu sagen, daß man die französische Demokratie beleidigen würde, wenn man glaube, sie sei dem Bolschewismus verfallen, brachen auf der Versammlung heftige Proteste los und laut wurde die Internationale gesungen. Der Abgeordnete Renaudel konnte gar nicht zu Worte kommen, so heftig wurde er bei seinem ersten Auftreten niedergeschrien. Er verschwand nach einigen vergeblichen Versuchen ans Wort zu kommen. Dann versucht Kamerad Perieat dasselbe, aber jedes seiner Worte wird begrüßt durch denselben Ruf der Versammlung: Hoch Lenin, hoch Trotzky, hoch Liebknecht. Der Vorsitzende hatte schon längst den Vorstandstisch verlassen und fand es nicht mehr nötig die Versammlung offiziell zu schließen.“
Hier zeigt sich, wie die Taten des Kommunismus Rußland und Deutschland schon bei den Pariser Arbeitern ihren Widerhall finden. Es zeigt die Stimmung der Sympathie, unter dem Einfluß der eigenen Unzufriedenheit gegen ihre Regierung — freilich auch nicht viel mehr. Wir brauchen uns keine Illusionen zu machen, als sei eine Revolution in den Ententeländern nahe. Aber diese Stimmung bewirkt doch, daß die Regierungen zu einem Niederwerfen der Revolution in andern Ländern nicht fähig sind. Und geht in Mitteleuropa die Revolution weiter, dann wird von dort eine neue gewaltige Treibkraft auf die Länder der Sieger wirken.
Zuletzt aktualisiert am 24.12.2008