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Aus: Arbeiterpolitik, 4. Jg. Nr. 5, 1. Februar 1919, S. 342f.
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Die Niederlage der Kommunisten in Berlin wird vorläufig von entscheidender Bedeutung für ganz Deutschland, vielleicht auf lange Zeit entscheidend für den Sozialismus in ganz Europa sein. Denn sie bedeutet die Wiederherstellung der Kapitalherrschaft, gesichert durch verhüllte Militärdiktatur. Diese mag Ebert und Scheidemann noch eine zeitlang als Puppen behalten, solange es nötig scheint, Arbeiter durch Betrug zu gewinnen; aber dann werden sie fallen. Und damit die ganze Chimäre des „sozialistischen“ Staates, womit Millionen Proletarier zwei Monate lang genarrt wurden.
Wo liegen die Wurzeln der Niederlage des Proletariats? Das Wort Unreife besagt noch nichts. Man muß wissen, worin diese Unreife bestand; denn nur so ist die Kraft für spätere erfolgreichere Kämpfe zu gewinnen. Will man alles in eine einzige Formel zusammenfassen, so kann man sagen: die Erbschaft der alten Sozialdemokratie hat die Niederlage bewirkt. Und der künftige Sieg wird nur kommen durch Abschüttelung dieser Erbschaft.
Freilich: nicht bloß ein Schuldkonto hat die sozialdemokratische Vergangenheit. Aus der 50jährigen Propaganda und Schulung hat die deutsche Arbeiterschaft ein tiefes Klassenbewußtsein mitgebracht. Daß alle gleichsam sofort wußten, daß Kapital und Arbeit einander gegenüberstehen, und daß nur der Sturz der Kapitalherrschaft Freiheit bringen könne — was z. B. in Rußland bei der Revolution die Massen erst mühsam erlernen mußten — das hat der deutschen Revolution ein schnelles Tempo gegeben und bewirkt, daß die Arbeiter sofort überall stürmisch vordrangen bis zu den fernsten Machtpositionen. Ziel und Kampffront kannten sie sofort. Daß sie sich aber in bezug auf den Weg zum Ziele, über die Scheidungslinie betrügen ließen, daß sie zu einem Teil die Agenten des Kapitals als Führer und Helfer ansahen und in den entscheidenden Momenten nicht das richtige Handeln trafen, das ist den Kampf- und Denkformen zuzuschreiben, die die alte Sozialdemokratie in ihrer Zeit der Verknöcherung in die Massen eingeprägt hatte.
Ueber die alte Mehrheits-Partei braucht nicht viel gesagt zu werden. Nur beschränkte, kleinbürgerlich denkende Arbeiter — aber deren gab und gibt es noch viele — konnten glauben, daß Ebert und Scheidemann den Sozialismus bringen würden, und daß sie es gekonnt hätten, wenn sie nur wollten. Die Wahrheit, daß der Sozialismus und die Freiheit nur von den Arbeitern selbst erkämpft werden kann, wo sie dem Kapital selbst gegenüberstehen, in den Arbeitsstätten, den Straßen — diese Wahrheit braucht nicht einmal betont zu werden. Denn die Praxis des Handelns der „Volksbeauftragten“ muß jedem die Augen darüber öffnen, daß all ihr Handeln nur gegen die Arbeiter gerichtet war und auf die Wiederbefestigung der alten „Ordnung“ und der alten Gewalten hinzielte. Für das Proletariat hatten sie schöne Worte, wie Sozialismus, Freiheit u. a.; aber ihre Taten — und dasselbe gilt für all ihre Anhänger den Hauptteil, das Partei- und Gewerkschaftsbeamtentums — kennzeichnen sie als Handlanger der Reaktion, als ergebene Diener des Kapitals. Ist das sonderbar? Wiederherstellung der alten Ordnung bedeutet für sie Wiederherstellung der Zustände, unter denen sie sich schön und gut befanden und eine bedeutsame Rolle spielten, mit der Hoffnung, noch höhere Posten zu erreichen. Von einer proletarischen Revolution dagegen hatten sie wenig Verbesserung zu erwarten.
Allerdings wäre es nicht gerecht, die Bedeutung der alten sozialdemokratischen Prinzipien für die heutigen Kämpfe nach den Taten der Verräter dieser Prinzipien zu beurteilen. Die Hüter der echten radikalen sozialdemokratischen Parteitradition sind die Unabhängigen. Die Unabhängige Partei hat noch große Massen von Arbeitern hinter sich, die aufrichtig den Sozialismus wollen und jeden Kompromiß mit der Bourgeoisie verwerfen. Manche, auch unter den Führern, sind revolutionär gesinnt, reden eine revolutionäre Sprache und halten damit die Masse in ihrem Banne. Was war ihre Rolle? Dieselbe wie vor dem Kriege und während des Krieges: sie haben radikale Worte gegeben als Ersatz für radikale Taten. Die alte Sozialdemokratie in ihrer guten Zeit gebrauchte immer große radikale Worte: das war ihr Recht, als darin die aufrichtige Absicht steckte: wir sind noch schwach, aber in dem Maße, als wir stärker werden, werden unsere Taten dem mehr entsprechen. Aber als gehandelt werden mußte, blieben als die schlimme Erbschaft die Worte, denen man keine Taten folgen zu lassen beabsichtigte. Wie sehr die Gewohnheit der Wortproteste den Leuten im Blute steckte, zeigte ein zufälliger Vorgang: als während der Ebert-Haase-Regierung die Ukrainer Revolutionäre sich beklagten, daß die deutsche Regierung die deutschen Soldaten gegen sie kämpfen ließ, antworteten die Unabhängigen: wir mißbilligen das aufs schärfste; wir haben dagegen energisch protestiert. Also, was wollt ihr noch mehr? Wir haben unsere Schuldigkeit getan! Und das ist auch ihre Rolle gewesen während der Berliner Kämpfe, die entscheidend für den Fortgang der Revolution waren. Durch ihren Wortradikalismus hielten sie große Massen von Berliner Arbeitern zuerst an sich gekettet, und dann vom Kampfe zurück.
Hätte der Spartakusbund sich viel früher von der Gemeinschaft mit den Unabhängigen frei gemacht, so wäre der Gang der Ereignisse vielleicht anders gewesen. Dann wäre die kleinere, aber zuverlässige Truppe nicht so rasch in einen Entscheidungskampf hineingedrängt worden. Jetzt übte er freilich seinen Einfluß auf die ganze radikale Berliner Arbeiterschaft; aber er hatte sie nicht völlig für sich. Das zeigte sich schon in dem Schwanken der revolutionären Obleute der Betriebe, ob sie bei der Trennung ganz mit den Kommunisten mitgehen sollten; die alte Ergebenheit an die Unabhängigen hielt sie fest. Als nun die Reaktion vordrang und Eichhorn beseitigen wollte, traten die Massen zu seiner Verteidigung auf, die Unabhängigen riefen zum Kampfe und die Kommunisten traten in die vordersten Reihen. Dann aber gingen die Unabhängigen sofort ans Verhandeln mit der Regierung; sie glaubten damit Ebert zu schwächen, aber die einzige Wirkung war, daß sie ihre eigene Massen flau machten, während Ebert die reaktionärsten Truppenteile mit Geschützen kommen ließ. Sie erhoben den Ruf nach „Einstellung des Brudermordes“ — als ob der Klassenkampf zwischen Soldaten der Reaktion und revolutionären Arbeitern ein Bruderzwist wäre! — und lähmten damit die Aktion der Arbeiter; aus Furcht vor dem Kampf zogen sie ihre Massen aus dem Kampf und ließen die Kommunisten verbluten. Und als Ebert gesiegt hatte, erschien in der „Freiheit“ ein „Proteststurm“, eine lächerliche Reihe von Resolutionen von Arbeitergruppen, die Eberts Zurücktreten forderten — als ob er, als ob die siegreiche Reaktion weichen würde vor den machtlosen Worten derer, die die Kämpfer in den Stich gelassen und dadurch die Niederlage verschuldet hatten! Als ob die Welt durch Worte bewegt wird und nicht durch Taten, durch Hingabe der ganzen Person!
Woher immer diese Wankelmütigkeit, dieses Wollen-und-nicht-können, dieser Zwiespalt zwischen Wortradikalismus und Tatenfurcht? Weil die Unabhängigen, als die Hüter einer nicht mehr zeitgemäßen Theorie, zwar oft revolutionär sein möchten, aber mit ihrer Einsicht, ihrer Erkenntnis den Sozialpatrioten wesensgleich sind, daher diese hartgesottenen Reaktionäre immer als verirrte Brüder ansehen und mit ihnen zusammengehen möchten, daher auch vor denjenigen Taten, die jetzt nötig sind, zurückschrecken, weil sie nicht zu ihrer alten Theorie passen. Die sozialdemokratischen Lehren aus der Zeit vor dem Kriege sind jetzt das schlimmste Hemmnis für die proletarische Revolution geworden. Nur wer diese überwindet, kann ein fester Kämpfer für die neue Welt sein. Nichts ist daher so notwendig als unaufhaltsam Aufklärung bringen über das Wesen des Kommunismus und seinen Unterschied gegen die sozialdemokratische Anschauungsweise. Dann werden die Arbeiter die Lehren verstehen, die aus der Praxis dieser entscheidenden Zeiten auf sie einstürmen.
Zuletzt aktualisiert am 24.12.2008