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Zuerst erschienen in Lichtstrahlen, nr. 2, März 1915, S. 99-102;
Abgedruckt in Pannekoek, Anton, Neubestimmung des Marxismus 1: Diskussion über Arbeiterräte, Berlin (West), Karin Kramer Verlag, 1974, 17-20.
HTML-Markierung und Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.
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Die Philosophen haben die Welt verschieden interpretiert; |
Wissenschaftliche Theorien entspringen nicht dem reinen abstrakten leidenschaftslosen Denken im Menschenkopf. Sie dienen der Praxis, sie sind dazu bestimmt, den Weg der Menschen in ihren praktischen Lebensaufgaben zu erhellen. Sie werden daher selbst durch praktische Bedürfnisse hervorgerufen und ändern ihre Gestalt, wenn die Umwelt, wenn die Gesellschaft, wenn das Bedürfnis anders wird. Deshalb kann dieselbe Lehre im Wechsel der Zeiten eine ganz andere Färbung annehmen. Welch ein Unterschied besteht zwischen dem Christentum der ersten Jahrhunderte, des Mittelalters, der verschiedenen protestantischen Kirchen der Reformationszeit und dem des freisinnigen Bürgertums des 19. Jahrhunderts!
Mit dem Marxismus ist es ähnlich, bestellt. Trotzdem er eine klare wissenschaftliche Lehre ist, hat er dennoch ein verschiedenes Aussehen angenommen, je nach den Bedürfnissen der Zeit.
Der Marxismus war die Theorie der Umwälzung des Kapitalismus. Marx rief die Proletarier der ganzen kapitalistischen Welt auf: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch“, schrieb er 1847 im Kommunistischen Manifest. Und er tat noch mehr als einfach aufrufen, was ja auch viele andere zu verschiedenen Zwecken taten. Er gab den Proletariern außerdem eine Theorie, die ihnen ihr Ziel zeigte, die ihnen die Gesellschaft erklärte, und die ihnen die Sicherheit des Erfolges gab. Das war der historische Materialismus.
Der historische Materialismus erklärt das Handeln der Menschen in der Geschichte aus den materiellen, vor allem den ökonomischen Verhältnissen. Da die Menschen nicht bewußtlos handeln, sondern in ihren Taten durch Gedanken, Ideen und Ziele bestimmt werden, bedeutet das, daß die Gedanken, Ideen und Ziele nicht zufällig von selbst entstehen, sondern eine Wirkung derselben wirtschaftlichen Verhältnisse und Notwendigkeiten sind. Wenn eine wirtschaftliche Umwälzung nötig wird, wenn die alten Zustände überholt sind, erzeugt das in immer mehr Menschenköpfen das Bewußtsein ihrer Unhaltbarkeit und den Willen, sie zu ändern; dieser Wille bricht sich dann im Handeln unwiderstehlich Bahn und bestimmt die Praxis. Das Proletariat braucht daher nicht allein eine bessere Ordnung herbeizusehnen; der historische Materialismus gibt ihm die Sicherheit, daß sie kommen wird, und zwar dadurch, daß die wirtschaftliche Entwickelung der Massen treibt und befähigt, sie zu gestalten. Damit wurde der Sozialismus von einer Utopie zur Wissenschaft.
Gegner, die diese Lehre nicht verstanden, weil sie zu schroff ihren festesten Anschauungen widersprach, nannten sie fatalistisch und sagten, daß sie den Menschen zu einer willenlosen Marionette herabsetze. Daß sie darin unrecht hatten, ergibt sich aus dem oben Stehenden. Aber daß sie in diesen Irrtum verfielen, war doch auch teilweise eine Folge der besonderen Färbung, die der Marxismus in der hinter uns liegenden Zeit annahm. Diese Lehre hat zwei Seiten: der Mensch ist ein Produkt der Verhältnisse; aber er gestaltet selbst wieder die Verhältnisse um. Er ist nur Agent der wirtschaftlichen Notwendigkeiten; aber diese Notwendigkeiten können sich nur durch sein Handeln durchsetzen. Beide Seiten sind gleich richtig und wichtig, und zusammen bilden sie erst die ganze Theorie. Aber je nach den Umständen wird naturgemäß die eine oder die andere mehr hervorgehoben. In der Zeit schwerer Verfolgung nach 1878, als alles hoffnungslos aussah, als so viele Führer versagten oder der Fahne untreu wurden, als die Reihen der Kämpfer stark gelichtet waren, da wäre den Übriggebliebenen auch der Mut zusammengebrochen, hätte die Theorie ihnen nicht Zuversicht, Siegessicherheit und die Überzeugung gegeben, daß keine menschliche Gewalt gegen die Macht der ökonomischen Notwendigkeit auf die Dauer aufkommen könne. Und auch in den späteren Jahren mußte noch am stärksten betont werden, daß große politische Änderungen erst möglich werden, wenn die ökonomische Entwicklung weit genug gediehen ist. Die Verhältnisse ausreifen lassen, mußte damals die theoretische Losung sein; der Marxismus wurde zur Theorie des Parlamentarismus gegenüber dem Anarchismus. Der Marxismus half so als Lehre der völligen Abhängigkeit des Menschen von den wirtschaftlichen Verhältnissen den Sozialisten über die Jahre ihrer numerischen Schwäche hinweg, und war ihnen ein sicherer Führer für ihre Taktik.
Dabei mußte der historische Materialismus notwendig eine stark fatalistische Färbung bekommen, und so hat er sich in den Geist der Wortführer und Theoretiker jener Zeit eingeprägt. Abwarten, inzwischen Propaganda treiben, die wachsenden Proletariermassen organisieren, denn die Verhältnisse arbeiten für uns; die ökonomische Entwickelung wird uns den Erfolg geben — das war die Taktik. Und die theoretischen Arbeiten jener Zeit, vor allem Kautskys, zeigen uns überall in der Geschichte das übermächtige Walten der ökonomischen Verhältnisse.
Bewußt ausgeprägt wurde diese Färbung in dem letzten Jahrzehnt, als die Verhältnisse kräftigerem Auftreten günstig wurden. Das klingt widerspruchsvoll, ist aber doch leicht verständlich. Als es politisch notwendig wurde, zu neuen taktischen Methoden zu greifen, eine energische Tätigkeit für wichtige Grundrechte zu beginnen, als schwere Gefahren durch den Imperialismus herannahten und die Massen in dem Wahlrechtskampf auftraten, wurden sich die leitenden Parteikreise immer mehr der Gefahr bewußt, mit der diese neue Taktik, die von seiten der herrschenden Mächte scharfe Abwehr bewirken würde, ihre altgewohnte ruhige Tätigkeit bedrohte. Sie winkten ab, hielten die Massen zurück und traten den Vorwärtsdrängenden entgegen. Kautsky vertrat die Theorie, daß es unmarxistisch sei, das Proletariat zu solcher Tätigkeit anzuspornen; nur Anarchisten und Syndikalisten drängen zu Taten; der wahre Marxist wisse, daß man die Verhältnisse erst ausreifen lassen müsse. Während die überwuchernde Macht der Parteibürokratie das frische Drängen lähmte und die Parteitaktik erstarrte, versteinerte in der Feder ihrer theoretischen Wortführer die weltumwälzende Lehre des Marxismus zu einem dürren Fatalismus. Wozu Aktionen, die so viele Gefahren mit sich bringen, wenn die ökonomische Entwickelung uns doch von selbst, gefahrlos, vorwärts bringt, unsere Macht stetig wachsen läßt und uns schließlich den Erfolg in den Schoß werfen wird?
Die Arbeiter, die diesen Marxismus hinnahmen, haben bisher nichts gegen solche Lehren eingewendet. Die Gegner der Sozialdemokratie waren nicht so fatalistisch, die Verhältnisse tatenlos ausreifen zu lassen, bis die wirtschaftliche Entwickelung Deutschland von selbst den erforderten Platz auf der Welt brachte. Sie wußten, daß darum gekämpft werden mußte, daß ohne Kampf nichts zu gewinnen ist, und sie bereiteten sich seit Jahren in musterhafter Weise auf diesen Kampf vor. Das Proletariat ließ sich leiten, ließ sich durch den künstlich aufgeblasenen Lärm des großen Wahlsieges betören und lebte in den Tag hinein.
Jetzt ist es daher an der Zeit, die andere vernachlässigte Seite des Marxismus hervorzuheben — jetzt, da die Arbeiterbewegung sich neu orientieren muß, die Enge und Passivität der alten Zeit von sich werfen muß, um die Krise zu überwinden. Die Menschen müssen selbst ihre Geschichte machen, ihr Los zimmern. Zwar machen sie sie nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie. Der Mensch selbst ist das aktive umbildende Element in der Geschichte. Gewiß, die Wirtschaft muß ihn treiben; aber er muß handeln. Ohne sein Handeln geschieht nichts; und Handeln im Sinne der Umbildung der Gesellschaft ist noch etwas anderes, als einmal in fünf Jahren einen Zettel in die Urne werfen. So leicht baut sich keine neue Welt auf. Der menschliche Geist ist nicht nur Produkt der wirtschaftlichen Verhältnisse, sondern auch Ursache der Umänderung dieser Verhältnisse. Die großen Umwälzungen der Produktionsweise (wie vom Feudalismus zum Kapitalismus, von diesem zum Sozialismus) kommen nur dadurch zustande, daß die neuen Notwendigkeiten den Geist des Menschen umbilden und zu einem bestimmten Wollen veranlassen; indem dieses Wollen zum Handeln wird, ändert der Mensch die Gesellschaft um, damit sie den neuen Bedürfnissen entspricht. Der Marxismus hat uns gezeigt, wie frühere Geschlechter, als sie ihre Welt umänderten, durch wirtschaftliche Kräfte getrieben wurden; er zeigt uns jetzt, daß die heutigen Menschen, durch wirtschaftliche Notwendigkeit getrieben, Hand ans Werk legen müssen, wenn sie die Welt anders haben wollen.
Zuletzt aktualisiert am 9.12.2008