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Zuerst erschienen in der Presse Korrespondenz der „Bremer Bürgerzeitung“ vom 24.08.1912.
Abgedruckt in Claudio Pozzoli (Hrsgb.): „Jahrbuch Arbeiterbewegung 1975“, Frankfurt a.M.: Fischer, 1975, S. 137-140.
HTML-Markierung und Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.
Eigentlich ist der Ausdruck unrichtig. Wenn man von dem Instinkt der Massen redet, denkt man nicht an angeborene Fähigkeiten, wie die Instinkte der Tiere. Instinktives Handeln ist Handeln aus dem unmittelbaren Empfinden heraus, im Gegensatz zum Handeln auf Grund von verstandesmäßiger Überlegung. Der größte Teil unserer Handlungen und Urteile findet ohne bewusstes Nachdenken statt; aber das instinktive Empfinden, das uns dabei leitet, ist nicht angeboren, sondern ein Niederschlag unserer gesamten Lebenserfahrung. Diese Lebenserfahrung, die Verhältnisse, worin man aufgewachsen ist und worin man lebt, bestimmen das, was man in der Regel den Instinkt der Massen nennt.
Die wichtigsten Lebenserfahrungen sind dabei diejenigen, die den Mitgliedern derselben Klasse gemeinsam sind und aus ihrer ökonomischen Lage entspringen. So wird das instinktive Empfinden der Arbeitermassen durch ihre Ausbeutung, durch ihr Verhältnis zum Kapital, durch den Charakter ihrer Arbeit bestimmt. Wenn die materialistische Geschichtsauffassung von Marx betont, dass die Klassenlage und die Klasseninteressen das Handeln der Menschen bestimmen, so ist der Vermittler dabei das instinktive, durch die ökonomische Lage bestimmte Klassenempfinden. Aus ihrer Klassenlage wächst in den proletarischen Massen die Feindschaft gegen das Kapital und das Verständnis für die Mittel und Ziele ihres Befreiungskampfes auf. In diesem Sinne ist der Instinkt der Massen der Hebel der politischrevolutionären Entwicklung der Menschheit. Daher findet man unter den revolutionären Vorkämpfern aufsteigender Klassen, die sich durch wissenschaftliche Überlegung geleitet an ihre Seite stellten, – wie z. B. Lassalle – die begeisterten Lobpreiser des Instinktes der Massen. Umgekehrt, wenn Theoretiker und Führer mit den Massen in Konflikt gerieten; da sie natürlich der Ansicht sind, dass sie selbst Recht haben, haben die Massen Unrecht. Dann ziehen sie, wie Kautsky vor einigen Wochen in der „Neuen Zeit“[1*], gegen diejenigen los, die „die Unfehlbarkeit des Instinktes der Massen“ preisen, erklären, dass sie nicht „die theoretische Einsicht vor dem Instinkt der Massen kapitulieren“ lassen wollen, und wettern gegen die „blinden Instinkte“, die keine Argumente wägen. Nun liegt es auf der Hand, dass die Frage, ob wirklich der Instinkt der Masse immer Recht hat, in diesem Sinne gar keinen Sinn hat. Denn wenn ich sage, dass dieser Instinkt Recht hat, so bedeutet das nur, dass er mit mir derselben Meinung ist; ein anderer wird ihn dann unrichtig nennen. Ein wirklicher objektiver Sinn steckt nur, darin, wenn wir sagen, dass der Instinkt der Massen durchweg richtig ausdrückt, was ihnen auf Grund ihrer Klassenlage notwendig ist Natürlich nicht im absoluten Sinne. Denn das Bewusstsein bleibt bei der raschen Entwicklung der materiellen Verhältnisse immer zurück es wird nicht nur durch die heutige, sondern auch durch die Erinnerung an die frühere Lage bestimmt; daher braucht der Geist Zeit, dem Gebot der neuen Wirklichkeit unbeeinflusst durch die Tradition zu gehorchen.
Hierin liegt einer der Gründe für Konflikte zwischen dem Theoretiker und der Masse. Der marxistische Theoretiker untersucht verstandesmäßig die heutigen Klassenverhältnisse und deren Konsequenzen, ohne dabei die hemmende Tradition zu berücksichtigen, die er gerade besiegen und beseitigen will. Insoweit ist das Recht, die Richtigkeit an seiner Seite. Aber nicht ganz; denn er schält oft neue Tendenzen scharf heraus, mit den sich daraus ergebenden neuen Notwendigkeiten, während sie nur erst Tendenzen in der noch vorwiegend alten Wirklichkeit sind. So, wenn er als Verkünder des Klassenkampfes in noch stark kleinbürgerlichen Verhältnissen auftritt. Wendet sich da der Instinkt der Arbeitermassen gegen ihn, so wird er deshalb nicht an ihnen irre und schimpft nicht über die Dummheit der Masse. Er weiß, dass sie Recht hat, insoweit sie aus der eigenen Lebenserfahrung heraus noch nicht anders handeln und denken kann; aber er weiß zugleich, dass er selbst auch Recht hat, insoweit er die Zukunft vertritt, die Richtung, in der sich die Massen mit ihrem Denken und Empfinden immer mehr bewegen werden. So stand die Kommunistengruppe um Marx und Engels dem Proletariat gegenüber; so stehen auch heute oft die marxistischen Theoretiker den noch vielfach in kleinbürgerlichen, revisionistischen oder nationalistischen Anschauungen befangenen Arbeitermassen gegenüber – wie z.B. den von Kautsky zitierten tschechischen Separatisten. Sie brauchen da nichts als die unbeschränkte Möglichkeit zur marxistischen Aufklärung, die den Arbeitern das Wesentliche ihrer heutigen Lebenslage scharf vor Augen führt.
Eine ganz andere Art Konflikte tritt dann und wann in einer hoch entwickelten Arbeiterbewegung auf, wo die Massen über ein stark ausgebildetes Klassenbewusstsein verfügen. Die größere Machtstellung der Partei scheint da Gelegenheit zu bieten, durch Ausnutzung besonderer politischer Verhältnisse augenblickliche Vorteile zu erzielen, und nur zu oft muss der Instinkt der Masse die Führer und Politiker von derartigen Experimenten auf dem Gebiete der Kompromisse mit den Gegnern abhalten, oder sie nachher ablehnen, wie bei dem letzten Stichwahlabkommen. Dann wird wieder die theoretische Einsicht der Dummheit der Masse gegenübergestellt – mit Unrecht, denn Theoretiker gibt es auf beiden Seiten. Während aber den Politikern, die sich jahrein jahraus mit den Einzelheiten der parlamentarischen Kämpfe und Kombinationen beschäftigen, nur zu leicht hinter dem Streit der Parteien der Blick auf den tiefen Gegensatz der Klassen verloren geht, lebt in den Massen, durch die Praxis ihres Lebens, ihrer Arbeit jeden Tag fester eingehämmert, ein klares Bewusstsein des alles beherrschenden Klassengegensatzes zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Dieses Bewusstsein reicht nicht aus, in jeder politischen Frage die richtige Antwort zu finden; aber im Allgemeinen, in den großen wichtigen Fragen der Taktik zeigt es den richtigen Weg. Denn das Ziel unserer Politik ist auf die Massen gerichtet, nicht um ihnen kleine Vorteile durch die Klugheit Anderer zu verschaffen, sondern um die Massen politisch aufzuklären und zu organisieren gegen die Bourgeoisie; daher haben nur solche Aktionen Wert, die dem Klassenbewusstsein der Massen entsprechen und von ihnen verstanden werden. In diesem Sinne ist der „Instinkt“ der klassenbewussten Masse in den großen politischen Fragen der beste Führer.
Kautsky wundert sich darüber, dass wir diesen Instinkt nicht nur den proletarischen, sondern auch den bürgerlichen Massen zuerkennen. Aber es ist klar, dass ein instinktives Empfinden der eigenen Klasseninteressen jeder ausgebildeten Klasse zukommt. Die politische Geschichte bietet zahllose Beispiele, wie das instinktive Klassenempfinden der Bourgeoisie die Führer und Politiker mit ihren ideologischen Schlagworten im Stich ließ. Wo wir die revisionistischen Illusionen ablehnen, beruht das vor allem auf der Überzeugung, dass nicht die schönklingenden Phrasen der liberalen Führer, sondern das brutale bürgerliche Klassenempfinden der Massen in der bürgerlichen Politik maßgebend ist.
Sobald es sich aber nicht mehr um die Beurteilung von Partei- oder Vorstandsbeschlüssen, sondern um politische Aktionen der Masse selbst handelt, bekommt die Frage, ob der Instinkt, d.h. das unmittelbare Klassenbewusstsein die Massen richtig führt, noch einen ganz anderen Sinn. Mag hier der Theoretiker oder der Parteiführer das eine Mal enttäuscht sein, wenn die Masse seinem Aufruf nicht folgt, das andere Mal entsetzt, dass sie gegen seine Mahnung losbricht, als Regel gilt hier, dass die Tat selbst die Richtigkeit der Tat beweist. Denn die Vorbedingungen solcher Aktionen ist die Allgemeinheit, die Massenhaftigkeit, und sind sie allgemein, dann können sie nicht scheitern, mögen sie auch nicht im ersten Anlauf das gestellte Ziel erreichen; die Aktion scheitert nur, wenn sie keine Massenaktion wird. Wer wäre so pedantisch, die Pariser Februarrevolutionäre von 1848 bemängeln zu wollen, sie hätten zu einer anderen Zeit losschlagen müssen? Sie haben gesiegt, und damit die Richtigkeit ihrer Aktion bewiesen.
Natürlich können auch Niederlagen vorkommen. Wenn eine Klasse klein ist und im ersten Aufkommen, wird sie mit ihrer Aktion leicht der größeren Masse der feindlichen Klasse unterliegen, wie das Pariser Proletariat im Juni 1848 und im Mai 1871. Aber auch hier wird kein Sozialdemokrat behaupten, ihr Instinkt habe diese Arbeiter irregeführt und sie hätten auf vernünftigere Ratschläge hören müssen; sie mussten eben kämpfen, auch wenn sie dabei eine Niederlage riskierten. Je mehr aber die proletarische Klasse die Mehrheit der Bevölkerung bildet, um so mehr verschwindet die Möglichkeit solcher Niederlagen. Gewiss wird auch jetzt für diese Masse nicht jede beliebige Stunde für eine Aktion günstig sein; aber die Frage, ob eine Stunde günstig ist, ist gerade die Frage, ob die Massen dann in ihrer ganzen ungeheuren Zahl losbrechen werden. Für kleinere führende Gruppen oder Personen wird es eine schwierige Frage bleiben, mit Hilfe ihrer Wissenschaft zu erkennen, ob die Zeit zu einer Aktion reif ist; aber für die Massen selbst gilt hier: wenn ihr Instinkt sie zur Aktion aufrüttelt, ist die richtige Zeit dazu auch gekommen.
Liberale Ideologen mögen von der Höhe ihrer Gelehrsamkeit auf den Instinkt der Massen verächtlich herabblicken. Marxistische Theoretiker, die wissen, wie die Klassenverhältnisse die Anschauungen bestimmen, erkennen in diesem Instinkt, diesem Klassenempfinden die große Macht, die, aus der ökonomischen Lage des Proletariats entsprießend, die Massen in dem großen gesellschaftlichen Kampf vorwärts treibt und leitet.
[1*] Vgl. Karl Kautsky, Die Aktion der Masse, in: Die Neue Zeit, 30. Jg. (1911/12), Bd. 1, S. 43 ff- 77 ff, 106 ff.
Zuletzt aktualisiert am 22.12.2007