Anton Pannekoek

 

Dietzgenismus und Marxismus

(12.11.1910)


Zuerst erschienen in der Presse Korrespondenz der „Bremer Bürgerzeitung“ vom 12.11.1910 als Rezension von Ernest Unterman, „Die logischen Mängel des engeren Marxismus. Georg Plechanow et alii gegen Joseph Dietzgen. Auch ein Beitrag zur Geschichte des Materialismus“, hg. von Eugen Dietzgen, München 1910.
Abgedruckt in Claudio Pozzoli (Hrsgb.): „Jahrbuch Arbeiterbewegung 1975“, Frankfurt a.M.: Fischer, 1975, S. 130-133.
HTML-Markierung und Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.


Während in den ersten Jahrzehnten des proletarischen Kampfes das Interesse sich hauptsächlich den ökonomischen und historischen Fra gen zuwandte, erleben wir in der letzten Zeit ein steigendes Interesse für philosophische Fragen. Wir denken dabei weniger an den Kantianismus, der mit dem Revisionismus emporkam und diesem eine philosophische Grundlage zu geben versuchte. Denn er blieb auf einige Theoretiker und Akademiker beschränkt; der Kantschen Philosophie hat das kämpfende Proletariat nie Interesse und Geschmack abgewinnen können. Anders erging es Dietzgen, dessen Schriften sich bald eines steigenden Ansehens erfreuten. Von einem Teil der marxistischen Theoretiker mit freundlichem, wenn auch reserviertem Wohlwollen behandelt, von anderen, die sie als eine wesentliche Bereicherung und Ergänzung der marxistischen Theorie betrachteten, mit Eifer propagiert, drangen sie auch in die proletarischen Massen ein. In den letzten Jahren ist Dietzgen dann zum Objekt des Kampfes geworden; während einige Marxisten, voran Plechanow, ihm jede selbständige Bedeutung absprachen, erhoben einige seiner Anhänger seine Anschauungen zu einer eigenen, als „Dietzgenismus“ bezeichneten Lehre, und stellten sie zu dem eigentlichen Marxismus in Gegensatz. Neulich hat Unterman einen dickleibigen Wälzer von 700 Seiten veröffentlicht: „Die logischen Mängel des engeren Marxismus“, worin zuerst Plechanow abgeschlachtet wird, und dann an den Schriften Kautskys und Mehrings der Nachweis versucht wird, dass alle ihre Fehler ihrem Mangel an Verständnis der „Weltdialektik“ Dietzgens verschuldet sind.

Woher dieses wachsende philosophische Interesse, woher auch diese Kampfstellung? Wir wissen, dass immer diejenigen Ideen Aufnahme finden, die einem materiellen Bedürfnis entsprechen, und dass die geistigen Kämpfe immer ein Reflex politischer und gesellschaftlicher Kämpfe sind. Daher müssen die Ursachen einerseits in dem Inhalt der Dietzgenschen Lehre, andererseits in den Zeitverhältnissen gesucht werden.

Was ist das Wesentliche dessen, was Dietzgen in seinen philosophischen Schriften lehrt? Der Marxismus zeigt uns, dass das Handeln der Menschen, der Inhalt der Geschichte, nicht aus selbständigen Ideen freier Persönlichkeiten, nicht aus einem ursachlosen Wollen entsteht. Sondern die Ideen, die Gedanken, das Wollen der Menschen, die ihr Handeln bestimmen, werden selbst durch die materiellen Verhältnisse bestimmt, worin die Menschen leben. Diese Lehre macht erst die Geschichte zu einer gesetzmäßigen Entwicklung, worin keine Willkür oder Zufall herrscht, und deren Gang wissenschaftlich vorauszusehen ist; diese Lehre zeigt dem Proletariat das notwendige Ziel seines Klassenkampf es. Will dieser Grundsatz nun besagen, dass der Mensch zur Marionette der ökonomischen Faktoren wird, der tatenlos zu warten hat? Handelt jeder einzelne als Sklave seines unmittelbaren Interesses? Nein; die materiellen Interessen beherrschen nur auf dem Umwege der Ideen und Anschauungen das Handeln, und diese Ideen werden im Kopfe und vom Kopfe gebildet. Was den Menschen von außen bewegt, muss durch seinen Kopf hindurch. Der menschliche Geist kann nichts selbständig aus sich selbst, das heißt aus nichts, erzeugen. Alles was in dem Geiste ist und entsteht, stammt aus der Außenwelt. Aber der Geist bildet alles um; aus Sinneseindrücken und Empfindungen bildet er Gedanken und Ideen. Die Menschen machen die Geschichte nicht nach Willkür, aber sie machen sie. Ihr Geist muss aktiv auftreten. Gesellschaftliche Revolutionen werden von der wirtschaftlichen Entwicklung nur dadurch erzeugt, dass sie in dem Geiste der Menschen revolutionäre Gedanken und das revolutionäre Wollen erzeugt. Das ist der Grundgedanke des Marxismus. Wie aber wirkt der Geist? Worin unterscheidet sich die Idee von den Sinneseindrücken, das Wollen von den Interessen, die Idee und Wollen erzeugen? Worin besteht die Umbildung, die der Geist vornimmt, was ist die Natur seiner Aktivität? Auf diese Fragen geben die Schriften von Marx keine Antwort; die Lösung dieser philosophischen Fragen findet man bei Dietzgen. Marx hat gezeigt, woher der Inhalt des Geistes stammt, Dietzgen zeigte, worin seine besondere geistige Form besteht. Marx gab uns die Wissenschaft der Gesellschaft und des menschlichen Handelns, Dietzgen gab uns eine Theorie des menschlichen Geistes.

Hier zeigt sich nun, weshalb gerade in der letzten Zeit Dietzgen ein steigendes Interesse finden musste. Es steht im engsten Zusammenhange mit dem aktiven, angreifenden Auftreten des Proletariats im Klassenkampfe. Solange der Sozialismus erst die Massen gewinnen musste, kam es in erster Linie auf die ökonomische und historische Aufklärung und auf die Lehre an, dass die wirtschaftliche Entwicklung uns den sicheren Sieg verspricht. Aber an der wirtschaftlichen Entwicklung fehlt es jetzt nicht; die materielle Welt ist längst zum Sozialismus reif. Woran es fehlt, sind die Menschen. Ihr Klassenbewusstsein, ihre geistige Fähigkeit, ihre Disziplin und Organisationsfestigkeit, ihre revolutionäre Energie sind noch nicht groß genug. Weshalb nicht? Was geht in dem Geiste der Proletarier vor, welche Ideen leben und entstehen darin, die ihre Aktionen bestimmen werden? Darauf kommet es jetzt an. Daher muss sich jetzt die Aufmerksamkeit immer mehr der Wissenschaft zuwenden, die uns das Wesen des Geistes verstehen lässt, und dafür weniger der Lehre, die die Menschen als das Produkt der wirtschaftlichen Verhältnisse darstellt.

Natürlich sind alle Seiten der marxistischen Theorie im gleichen Maße richtig und wichtig. Aber diejenige Seite, die hervorhebt, dass eine politische Revolution erst möglich wird, wenn die ökonomische Entwicklung weit genug gediehen ist, musste am stärksten betont werden, solange das Proletariat sich zum Kampfe um die Herrschaft noch zu schwach fühlte. Die Verhältnisse ausreifen lassen, musste damals die theoretische Losung sein. Die zur Entscheidung drängen, sind die Gegner. Die losschlagen wollen, sind die Gefühlsrevolutionäre ohne Wissenschaft von der Gesetzmäßigkeit der Entwicklung, die Anarchisten, die dadurch in die Schlingen der Spitzel geraten. Der Marxismus wird zur Theorie des Parlamentarismus gegenüber dem Anarchismus. In dieser Weise half der Marxismus als Lehre der völligen Abhängigkeit des Menschen von den wirtschaftlichen Verhältnissen das emporkommende Proletariat über die Jahre seiner Schwäche hinweg und war ihm dort ein sicherer Führer für seine Taktik.

Als dann der Revisionismus auf Aktionen drang, die sich außerhalb der wirtschaftlichen Wirklichkeit und in Gegensatz zu ihr befanden, musste er zu Kants Lehre der Selbständigkeit, der freien Initiative des menschlichen Geistes greifen. Diese Lehre war aber gegen die Wahrheit des Marxismus nicht von Bestand. Anders musste es werden, als das Proletariat sich zur größeren Aktivität, zu einem revolutionären Kampfe um die Herrschaft anschickte, der seiner Klassenlage und den erreichten ökonomischen Verhältnissen entsprach, erst in der russischen Revolution, und nun in den anfangenden Massenaktionen der deutschen Arbeiter. Jetzt muss immer mehr die andere Seite des Marxismus betont werden, die hervorhebt, dass die Menschen selbst ihre Geschichte machen, indem sie dem Gebote der materiellen Welt gehorchen. Zu dieser Seite gehört als wesentlicher Teil die Dietzgensche Philosophie.

In Russland sind diese beiden Seiten des Marxismus in dem Kampfe der beiden Fraktionen der sozialdemokratischen Partei aufeinander geplatzt. Als die Niederlage des Proletariats die Gelegenheit alltäglicher praktischer Betätigung abschnitt, musste dieser Kampf in der Intelligenz immer abstraktere Formen annehmen, und so wurde auch die Philosophie Dietzgens zu einer Losung in den Fraktionskämpfen. So erklärt es sich, weshalb Plechanow gegenüber den Bolschewiki, die Dietzgens Lehre als Theorie der Aktivität des Menschengeistes dem fatalistischen Marxismus gegenüberstellten, seine scharfe, aber unbegründete Kritik gegen Dietzgen richtete. Dieser Kampf ist es, den die Dietzgenianer jetzt nach Deutschland zu übertragen suchen und als einen rein theoretischen Gegensatz zwischen „Dietzgenismus“ und „engerem Marxismus“ darstellen. Aber in Deutschland fehlt der praktische Boden für das Verständnis eines solchen Gegensatzes. Zweifellos spielen in den Diskussionen über die Parteitaktik, die sich vor Allem um das praktisch-revolutionäre Auftreten der Arbeiter bewegen, zum Teil, wenn auch wenig bewusst, die philosophischen Anschauungen mit. Es ist nicht ganz zufällig, wenn ein Mangel an Würdigung der theoretischen Bedeutung Dietzgens und eine vorsichtige Zurückhaltung gegenüber der Taktik des Massenstreiks gerade bei solchen unserer verdienten Theoretiker zusammentreffen, die bisher durch ihre historischen und ökonomischen Schriften dem Proletariat immer sichere Führer waren. Aber in Deutschland können durch die notwendige Geschlossenheit der Partei solche praktischen Tendenzen nicht zu feindlichen Fraktionen und daher die theoretischen Lehren nicht zu zwei einander gegenüberstehenden Systemen werden. Nicht „Dietzgenismus“ oder „engerer Marxismus“, sondern Marx und Dietzgen wird hier der Standpunkt des Proletariats sein. Denn ein „engerer Marxismus“, der zu den Dietzgenschen Lehren im Gegensatz stehen soll, besteht nicht. Es besteht nur ein Marxismus, die von Marx begründete Wissenschaft der Gesellschaft und des Menschen, worin die Leistungen Dietzgens als ein notwendiger und wichtiger Teil ihre Stelle einnehmen.

 


Zuletzt aktualisiert am 22.12.2007