Anton Pannekoek

Ethik und Sozialismus

 

Einleitung

Seit mehreren Jahren steht die Ethik gewissermaßen auf der Tagesordnung unsrer theoretischen Debatten, namentlich seit dem ersten Auftreten des Revisionismus. In verschiedenen seiner Schriften hat Bernstein auf Kant hingewiesen, um den dogmatischen Materialismus in unsren eigenen Reihen zu bekämpfen; die Neukantianer erhoben die Forderung, dass die kalte historischkausale Begründung des Sozialismus durch Marx und Engels ergänzt werden müsse durch die Wärme von Kants sittlichen Idealen. Neuerdings hat die vortreffliche Schrift Kautskys viel dazu beigetragen, Klarheit über unsere Auffassung der Ethik zu schaffen. Doch beleuchtet Kautsky die Ethik besonders von der entwicklungsgeschichtlichen Seite, während hier vor allem die formale, die philosophische Seite der Ethik betrachtet werden soll.

Wir müssen bei dieser Behandlung mit der Frage anfangen: Was versteht man unter Ethik? Ethik ist die Lehre vom Sittlichen, die Lehre, die sich mit dem befasst, was sittlich ist und so genannt wird. Sie ist deshalb so wichtig, weil sie einen sehr bedeutenden Grund für das menschliche Handeln bildet. Unser Handeln wird in erster Linie durch unser eigenes Interesse bestimmt; der Trieb zur Selbsterhaltung ist in allen lebenden Wesen und auch im Menschen der stärkste Trieb, der mit unwiderstehlicher Gewalt seinen Willen zur Wahrung des eigenen Interesses zwingt. Aber so kräftig dieser Trieb ist, so wird doch nicht alles Handeln von ihm bestimmt; es kommt oft vor, dass der Mensch seinem eigenen Interesse zuwider handelt, um einem „höheren“ Interesse zu dienen. Oft lesen wir in der Geschichte von Menschen, die ihr Leben für ihr Vaterland, oder ihr Volk opferten; und tagtäglich kommt es vor, dass Arbeiter aus Solidarität mit ihren Klassengenossen ihr eigenes Interesse vernachlässigen und verletzen. Warum tun sie das? Es ist gleichsam eine innere Stimme, die ihnen sagt: „Du sollst das tun,“ eine Stimme, der sie nicht widerstehen können. Solche Handlungen nennt man gut, tugendhaft, sittlich, und das sittliche Gefühl, das sie bewirkt, gehörte immer zu den bedeutsamsten Quellen des menschlichen Handelns; es war daher ein überaus wichtiger Faktor in der ganzen Menschengeschichte. Dieses Gefühl, und die Handlungen, die aus ihm entspringen, die also nicht vom eignen Interesse abhängig, und ihm sogar oft entgegengesetzt sind, bilden den Gegenstand, mit dem sich die Ethik befasst.

Man muss, um Missverständnissen vorzubeugen, bei diesen Erörterungen daraus bedacht sein, das Wort Ethik nach zwei verschiedenen Bedeutungen zu unterscheiden. Einerseits versteht man unter Ethik die Gesamtheit der Triebe und Anschauungen, die als sittlich gelten. Man spricht z. B. über die christliche Ethik und versteht darunter die Auffassungen des Christentums von dem, was gut und sittlich, und was umgekehrt böse und unsittlich ist. So kann man auch über die Ethik der Bourgeoisie reden, und wir benutzen selbst oft den Ausdruck: die Ethik des Proletariats, womit wir dann die Gesamtheit der Anschauungen über gut und böse bezeichnen, die unter dem modernen sozialistischen Proletariate herrschen. In diesem Sinne könnte man den Zusammenhang von Ethik und Sozialismus behandeln, indem man nachweist, wie durch die sozialistische Arbeiterbewegung mit ihrem herrlichen Ziel einer klassenlosen Gesellschaft ganz neue sittliche Anschauungen in der Arbeiterklasse entstanden sind.

Unser Thema von heute abend ist jedoch ein anderes, weil wir das Wort Ethik in seiner andren Bedeutung nehmen, n. l. in der Bedeutung von der Wissenschaft des Sittlichen, der Wissenschaft, die den Ursprung und das Wesen der sittlichen Erscheinungen erforscht und sie begreifen will. Auch in diesem Sinne des Wortes besteht ein wichtiger Zusammenhang zwischen Ethik und Sozialismus. Der Sozialismus ist bekanntlich nicht nur ein Streben nach einer neuen Weltordnung, sondern zugleich eine neue Einsicht, eine neue Wissenschaft, die wir tagtäglich in unserm praktischen Streben anwenden. Dieser wissenschaftliche Sozialismus hat uns ganz neue Einblicke in das Wesen der Gesellschaft und in alle gesellschaftlichen Erscheinungen gegeben, und er hat auch den Ursprung und das Wesen der Ethik gründlich beleuchtet. Man kann sogar behaupten, dass erst durch die Einsichten, die der wissenschaftliche Sozialismus gewährt, die Ethik zu einer wirklichen Wissenschaft erhoben worden ist. Dies nachzuweisen, ist das eigentliche Thema unsres heutigen Vortrages.

Es wird jetzt auch klar sein, woher es kommt, dass das Wort Ethik in verschiedenem Sinne angewandt wird; mit dem Fortschritt der Erkenntnis müssen Namen immer ihre Bedeutung wechseln. Vor der Zeit, wo der wissenschaftliche Sozialismus von Marx und Engels begründet wurde, konnte es gar nicht in dem heutigen Sinne einer forschenden Wissenschaft gebraucht werden. In jener früheren Zeit der bürgerlichen Aufklärung galten die Ansichten der bürgerlichen Wissenschaft, nach der es eine bestimmte Gesellschaftsform gab, welche die einzige naturgemäße und vernünftige sei – diese war selbstverständlich die bürgerliche Gesellschaftsordnung, die auf dem freien Wettbewerb der Waren produzierenden Privatwirtschaften beruhte. Genau so glaubte man an ewige Grundlagen der Rechtsordnung und der Sittlichkeit, die überall als die besten anerkannt wurden, wo vernünftige Menschen lebten. Zwar lehrte die Erfahrung, dass es auch andre Rechts- und Gesellschaftsordnungen gab und andre sittliche Anschauungen, aber diese waren entweder Folgen von Unkultur und Barbarei oder zeitweilige Entartungen und Verirrungen. Bei dieser Auffassung konnte von einer Wissenschaft der Ethik, die nach dem Woher und dem Warum fragte, ebensowenig die Rede sein, wie z. B. von einer wissenschaftlichen Erforschung der Gesellschaft; beide waren ja „natürlich“ und damit war jede weitere Frage nach ihrem Ursprung abgetan. Das Ziel der Lehre, die Ethik hieß, konnte da nur sein, die besten, wahrhaft vernünftigen Anschauungen über gut und böse aufzusuchen und zusammenzustellen, oder Regeln zu finden, an denen sie zu erkennen seien, und dann diese Moral in Staat und Gesellschaft anzuwenden und sie durch Unterricht und Predigt Jungen und Alten fest einzuprägen.

Hier lag die praktische Anwendung der Lehre sofort auf der Hand. Denjenigen, die diesen bürgerlichen Anschauungen über Ethik huldigen, muss es scheinen, dass, verglichen mit jenen unmittelbaren lebenswarmen Zielen, unsre Auffassung der Ethik als Wissenschaft nur eine kalte, nutzlose, dürre Gelehrsamkeit sei. Aber für uns hat unsre wissenschaftliche Ethik allerdings praktisches Interesse. Sie muss uns helfen, wie jede Wissenschaft, die Gesellschaft zu begreifen. Unser Ziel, das Ziel des Sozialismus, ist nicht, die Menschen sittlich besser zu machen, indem wir ihnen schöne Predigten halten, sondern die Gesellschaftsordnung umzuwälzen. Und dies wird uns desto rascher und besser gelingen, je mehr wir die Triebe der Menschen und deren gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen gründlich erfassen und begreifen. Das Ziel dieser Wissenschaft ist also, uns verständlich zu machen, was in den Menschen vorgeht und was ihre Seele bewegt.

Die Ethik Kants

Wenn man die Ethik von der philosophischen Seite her behandeln will, so muss man anfangen mit den bahnbrechenden Ansichten, die der größte und bekannteste der bürgerlichen Philosophen, Kant, ausgesprochen hat. Nicht, weil nicht von andern Philosophen oft gerade so vernünftige oder auch wohl viel richtigere Ansichten geäußert worden wären, sondern weil Kant eine Klasse repräsentiert, oder besser, den Ausstieg einer neuen Klasse, mit neuen Ansichten und einer neuen Weltanschauung. Gerade der große Beifall, den Kant fast im ganzen neunzehnten Jahrhundert bei allen gebildeten Denkern gesunden hat, trotz der Widersprüche und Gebrechlichkeiten seines Systems, beweist, dass es nicht zufällige persönliche Ansichten sind, die in seinem System hervortreten, sondern allgemeine Massenansichten, für die er zuerst den besten theoretischen Ausdruck gefunden hat. Seine Größe als Philosoph liegt gerade darin, dass er am reinsten die bürgerliche Weltanschauung philosophisch darstellte., die Weltanschauung, die in der Blütezeit des bürgerlich-kapitalistischen Zeitalters die naturgemäße Weltanschauung der herrschenden Klasse war.

In der vorkantischen Zeit herrschte allgemein – also abgesehen von Einzelpersonen – die christliche Ethik. Für den gläubigen Christen ist der Grund, weshalb er sittlich handeln soll, das Gebot Gottes; er handelt gut und vermeidet Böses, um Gottes Willen zu tun. Und die Entscheidung über das, was gut und böse sei, findet man ein für allemal in der Bibel, wo in den zehn Geboten oder in der Bergpredigt Vorschriften stehen: Du sollst dieses tun; du sollst jenes nicht tun. Die Religion war also die Grundlage der Ethik; selbstverständlich ist dabei die Ethik für alle Ewigkeit fest und unabänderlich; was einmal gut und böse ist, wird für alle Zeiten gut und böse sein.

Im achtzehnten Jahrhundert war aber dieser religiöse Glauben schon in die Brüche“ gegangen. Durch den Fortschritt von Wissenschaft und Bildung fingen viele Kreise damals an, die religiösen Wahrheiten zu bezweifeln; während die französischen Materialisten die Religion energisch bekämpften und für Widersinn erklärten, bemühten sich in Deutschland die Nationalisten, allerhand künstliche Beweise für das Dasein Gottes und die übrigen religiösen Sätze auszuklügeln. Wenn es aber so weit gekommen ist, dass man mittels der Vernunft, durch schöne Räsonnements beweisen will, was eigentlich Glaubenssache sein soll, dann ist dies ein sprechendes Anzeichen dafür, dass der alte, naive Glauben fort ist, und dass Zweifel sich eingeschlichen hat. Damit ist dann aber zugleich die Grundlage der Sittlichkeit untergraben.

Kant war in der Schule des Rationalismus aufgewachsen und hatte selbst auch stark dessen Tüfteleien mitgemacht. Aber er befriedigte ihn nicht; immer grübelte und forschte er weiter nach, was Wahrheit sei. Wie in seinen Lebensbeschreibungen erzählt wird, war er schon in ziemlich vorgerücktem Alter, als seine Aufmerksamkeit durch ein Werk des französischen Schriftstellers Rousseau auf die Ethik gelenkt wurde. In diesem Werke wurde geschildert, wie unzivilisierte, barbarische Menschen, deren ursprünglich naives und reines Herz nicht durch die Laster der Zivilisation verdorben war, sofort empfanden und wussten, was sittlich und gut und was böse war. Da wurde Kant sich dessen bewusst, dass sein sittliches Bewusstsein von dem Wechsel seiner theoretischen Anschauungen über das Dasein Gottes und die christlichen Wahrheiten völlig unberührt geblieben war, und dass also Rousseau recht hatte, dieses sittliche Bewusstsein als etwas unmittelbar-natürliches im Menschen darzustellen. Durch seine theoretischen Zweifel an der Richtigkeit und der Begründung der religiösen Satzungen war die Grundlage der Sittlichkeit durchaus nicht untergraben worden; diese hatte offenbar mit jenem gelehrten Kram, mit jenen Beweisen und Räsonnements und mit jenen philosophischen Haarspaltereien nichts zu tun. Das sittliche Bewusstsein war vielmehr eine sichere Stimme, die sogar in dem einfältigsten Menschen unmittelbar spricht und zu entscheiden weiß, was gut und was schlecht sei.

Dass Kant hier vollkommen recht hatte, kann jedermann bestätigen. Jeder weiß, dass unser Urteil, ob eine Tat gut oder böse sei, in der Regel sofort fertig ist und nicht tiefsinnigen Erörterungen, sondern dem unmittelbaren Gefühl entspringt. Man kann sie vielleicht unvernünftig finden, wenn man alle Umstände genau erwägt, aber das beirrt uns nicht, sie dennoch schön und sittlich zu nennen. Wenn man z. B. die Aufopferung des einzelnen für seine Volks- oder Klassengenossen preist als eine sittliche heroische Tat, so fragt man nicht zuvor, ob diese Aufopferung schließlich der Gemeinschaft genutzt habe. Das ist in der Regel nicht einmal zu entscheiden. Aber das sittliche Urteil spricht klar und unmittelbar. Und dass es mit der Anerkennung gewisser religiöser Ansichten gar nichts zu tun hat, beweist die Tatsache, dass jetzt zahllose Menschen diesen Ansichten keinen Glauben mehr schenken und dennoch genau dasselbe sittliche Bewusstsein behalten haben. Die Religion bildet also nicht die Grundlage der Ethik.

Doch dies ist nur ein Teil der Umwälzung, die Kant in die philosophischen Ansichten brachte. Seine theoretischen Betrachtungen führten ihn zu der Überzeugung, dass all jene Räsonnements, all jene fein ausgeklügelten Beweise für metaphysische Sätze wertlos seien. Wissenschaft kann nur auf Erfahrung beruhen, und was darüber ins Ungemessene hinausgeht, darf den Namen Wissenschaft nicht tragen. In der Erfahrungswelt, d. h. in der Natur, wo überall gesetzmäßige Gebundenheit an Naturgesetze herrscht, ist jedoch für Gott, Freiheit und Unsterblichkeit kein Raum, und deshalb lässt sich darüber wissenschaftlich, d. h. mit von jedem anzuerkennender Gewissheit nichts aussagen. Damit war der alten Theologie der Todesstoß versetzt – darin liegt die umwälzende Bedeutung der Kantischen Philosophie – aber zugleich die Grundlage für eine neue Theologie geschaffen. Nicht nur die Beweise für das Dasein Gottes waren damit abgetan, sondern zugleich alle Behauptungen, wonach man wissenschaftlich dartun könne, dass kein Gott und keine Unsterblichkeit bestehe. Bewiesen konnte auf diesem Terrain überhaupt nichts werden, weder im bejahenden noch im verneinenden Sinne, und eben dadurch war die Bahn für den Glauben völlig frei. In der Kantischen Philosophie wird zum Ausdruck gebracht, wie die mächtig emporgekommene Naturwissenschaft die Religion jetzt endgültig aus einer bisher umstrittenen Stellung vertrieben hatte; Kant sah ein, dass die Religion im Naturreiche der Erfahrung nichts zu schaffen hatte, aber indem er die alte Position aufgab, verschaffte er der Religion eine viel stärkere Stellung, wo sie vorläufig noch unbesiegbar war, in dem persönlichen Glauben. Und den Grundpfeiler dieses Glaubens bildete die Ethik.

Denn diese geheimnisvolle innere Stimme, die uns sagt: Du sollst! beweist uns, dass wir einer höheren Welt angehören. Zwar gehören wir auch zur Natur, und die Gebundenheit an Ursachen, die für die ganze Natur gilt, gilt auch für unsre Handlungen, aber wir sind doch keine Maschinen; unser moralisches Bewusstsein bekundet uns, dass wir einen freien Willen haben, um zwischen gut und böse zu wählen. Jene Freiheit, die in der Natur nicht zu finden ist, hat nur einen Sinn, wenn wir annehmen, dass es mit dem gewöhnlichen materiellen Erdenleben nicht getan ist und dass eine sittliche Weltordnung darüber gebietet. Jene höhere Welt, der wir außer der Natur noch angehören, ist die Welt Gottes, der Engel, der unsterblichen Seelen, wo die Freiheit und die sittliche Weltordnung herrscht. Auf diese Weise muss jeder, der die sittliche Freiheit in sich fühlt, notwendig zu dem Glauben an die religiösen Wahrheiten kommen; nicht in dem Sinne einer jedem objektiv vorzudemonstrierenden Wahrheit, sondern im Sinne einer rein persönlichen Überzeugung.

So ist das frühere Verhältnis völlig umgekehrt. Die Ethik stützt sich nicht mehr, wie vorher, auf die Religion, sondern die Religion stützt sich jetzt auf die Ethik. Bei dieser hohen Bedeutung der Ethik für die ganze Philosophie war es nötig, die sittlichen Erscheinungen etwas näher zu untersuchen. Es müssen Regeln bestehen, an denen man erkennen kann, ob gewisse Handlungen sittlich sind oder unsittlich, und durch die sich jeder Mensch in seinen Urteilen unbewusst leiten lässt. Denn jede Handlung, die dem unmittelbaren Empfinden entspricht, ist deshalb noch nicht sittlich; es könnte z. B. vorkommen, dass einer auf Empörung über irgendeine abscheuliche Tat den Täter sofort unschädlich machen möchte; aber deshalb würde eine solche Handlung noch nicht sittlich sein. Kant stellte nun als moralisches Gesetz, das den Maßstab für das sittliche Bewusstsein abgibt, den Satz fest: Handle so, dass die Regeln, die du bei deinem Tun befolgst, zugleich allgemeine Regeln für alle sein können. Sobald man einsieht, dass die Gesellschaft nicht bestehen könnte, wenn jeder Richter und Henker auf eigne Faust spielen wollte, dann versteht man auch, weshalb eine solche Tat unsittlich sein muss.

Dieser Auffassung liegt die Ansicht zugrunde, dass die Menschen gleichberechtigte Wesen sind, die als sittliche Wesen über der übrigen Welt stehen, die einer höheren Welt angehören mit höheren Zwecken, und deshalb nicht als bloße Mittel für andre Zwecke missbraucht werden dürfen. Der Mensch besitzt in dem moralischen Gesetz eine Richtschnur seines Handelns; sie kann ihn oft in Gegensatz bringen mit seinem unmittelbaren Interesse und mit seinem Streben nach dem größtmöglichen Glück, und deshalb wird sein Wille auch nicht allein durch das moralische Gesetz gelenkt werden; er ist ja ein sündhaftes Wesen. Trotzdem darf nur dieses Gesetz gebieten über das, was Pflicht ist; mit seinem Glück hat die Sittlichkeit nichts zu tun. Der Menschsoll tugendhaft sein, d. h. die Gebote der Sittlichkeit befolgen, seiner höheren Bestimmung gemäß, unbekümmert darüber, ob es zu seinem Glücke oder zu seinem Unglück gereicht.

Die Neukantianer behaupten, dass diese Ethik Kants für alle Zeit und Ewigkeit gelte und überall, wo es vernünftige Wesen gebe, gelten müsse. Kant selbst glaubte auch, seine Ethik ohne irgendeine Voraussetzung festgestellt zu haben; aber wir können jetzt sehr gut die besonderen Voraussetzungen erkennen, die er selbst nicht bemerken konnte, weil er sie für natürliche Selbstverständlichkeiten halten musste. Zuerst setzt sie eine Gesellschaft von Menschen voraus – verliert also jeden Sinn für einen einsamen Menschen, der nie mit andern Menschen zu schaffen hat. Diese Gesellschaft muss aus gleichberechtigten Menschen bestehen und ihre ungestörte Erhaltung muss von jedem als eine wichtigere Sache und eine größere Macht anerkannt werden, als das einzelne Individuum. In dem Gegensatz zwischen Tugend und Glück, der die Kantische Ethik beherrscht, liegt aber zugleich der Gedanke eingeschlossen, dass die Pflichttreue, das sittliche Handeln, dem Menschen in der Regel kein Glück bringt. Die besondere Gesellschaftsordnung, die in dieser Ethik vorausgesetzt wurde, ist eine, die dem Menschen oft Unglück statt Glück bringt, aber der Mensch soll sich darum nicht kümmern und die Erhaltung dieser Ordnung über sein persönliches Glück stellen.

Es ist nicht schwer einzusehen, welche besondere Gesellschaftsordnung hier als Muster und Voraussetzung gedient hat. Es ist die bürgerliche Gesellschaftsordnung, die noch unentwickelte, vorwiegend kleinbürgerliche Form der kapitalistischen Gesellschaft, die für Kant und seine Zeitgenossen die einzig natürliche und vernünftige und daher die selbstverständliche Gesellschaftsform bildete. Als diese Gesellschaftsform sich damals entwickelte und die Bürgerklasse sich zur herrschenden Klasse emporhob, ahnte man nicht, dass sich aus ihr eine Gesellschaft mit solchen schroffen Klassengegensätzen entwickeln würde, wie wir sie heute kennen. Nein, man glaubte, dass mit dem Sprengen der feudalen Fesseln, wenn erst allgemeine Freiheit und gesetzliche Gleichheit eingeführt wären, die Welt einen glücklichen Endzustand der Brüderlichkeit bald erreichen würde. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, war der Schlachtruf der französischen Revolution, und diese bietet uns eine Parallele für die Ethik Kants, wo auch die Freiheit und Gleichheit die Grundgedanken bilden. Dort wie hier war es die nämliche Gedankenwelt, die Weltanschauung des emporstrebenden Bürgertums, die dort in einer praktisch-politischen, hier in einer theoretisch-philosophischen Gestalt auftritt. Wenn man aber damals auch keine Ahnung der modernen gewaltigen Klassengegensätze hatte, so wusste man doch, dass in dem Konkurrenzkampf nicht jeder seinen Vorteil fand; mancher ging unter und sank in das Proletariat hinab. Namentlich für sie sprach die Ethik Kants aus, dass sie ihr Los ruhig tragen, weiter arbeiten und ihre Pflicht tun sollten; das Wohl der Gesellschaft (d. h. der ganzen bürgerlichen Klasse) stand über dem Wohl des einzelnen.

Diese Ausführungen können zeigen, wie innig die Philosophie Kants mit der großen gesellschaftlichen Umwälzung jener Zeit verwachsen ist und wie vollkommen sie den Namen einer bürgerlichen Philosophie verdient. In ihr ist die Quintessenz des bürgerlichen Denkens verkörpert. Nun wollen in der neuesten Zeit unklare Köpfe der Ethik Kants eine allgemeine Gültigkeit zuerkennen und namentlich den Sozialismus auf sie gründen; sie werden dazu offenbar verleitet, weil die Hauptgedanken dieser Ethik, die Freiheit und Gleichberechtigung aller Menschen, Forderungen des heutigen Sozialismus sind und erst in einer sozialistischen Gesellschaft verwirklicht werden können; dann erst wird eine Zeit kommen, wo der Mensch nicht mehr als Mittel zur Mehrwertbildung, sondern als Selbstzweck angesehen wird. Wer aber erkannt hat, dass die Kantische Freiheit und Gleichheit nur ein Ausdruck ist für die jugendliche Illusion der bürgerlichen Klassen, wird einsehen, dass eine solche Begründung des Sozialismus theoretisch gerade so vernünftig sein würde, als wenn man den Sozialismus auf die Losung der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – gründen wollte. Abgesehen von diesen Stichwörtern würde die Ethik Kants auf eine sozialistische Gesellschaft auch übel passen; wohl wird dort die Gemeinschaft über dem Individuum stehen, aber einen Interessengegensatz zwischen beiden, wie unter dem Kapitalismus, wird es dort nicht geben, und da diese Gesellschaftsordnung allen Glück und keinem Unglück bringen wird, kann ein Gegensatz zwischen Tugend und Glück dort auch nicht bestehen.

Was an dem Gerede über die Ewigkeit der Ethik Kants wahres ist, das ist die unbestreitbare Tatsache, dass Kant zu der Einsicht in die Natur und die Merkmale der Sittlichkeit wertvolles beigetragen hat; was auf diese Weise einmal für die wissenschaftliche Erkenntnis gewonnen wurde, geht nicht wieder verloren. Aber in diesem Sinne ist es eine höchst unvollständige Wissenschaft der Ethik, die Kant geliefert hat, und die neuen Einblicke, die der Marxismus gewährt, waren dazu nötig, diese Wissenschaft über ihre Anfänge hinaus fortzuführen.

Der historische Materialismus

Wir werden die verschiedenen Systeme und Ansichten, –die der Philosophie Kants gefolgt sind, hier überschlagen und uns jetzt sofort zu der Umwälzung wenden, die der Marxismus in die Geistes- und Gesellschaftswissenschaft gebracht hat. Die bisherigen Auffassungen betrachteten die bürgerliche Gesellschaft als die normale, vernünftige, und alle darin herrschenden Anschauungen und Institutionen deshalb auch als natürlich und selbstverständlich. Ein Zusammenhang zwischen diesen natürlichen Dingen konnte deshalb nicht erkannt werden. Man hatte eine „natürliche“ Gesellschaftsordnung und eine „natürliche“ Ethik, aber man hatte auch eine „natürliche“ Sonne, die alltäglich auf- und unterging, und man konnte gerade so gut die Ethik mit der Sonne wie mit der Gesellschaft verbinden. Kant hatte sie ja mit dem Himmel, mit der metaphysischen Welt verknüpft. Eine Erkenntnis der wirklichen Zusammenhänge konnte erst kommen, wenn man verschiedene sittliche Anschauungen und verschiedene Gesellschaftsformen verglichen hatte.

Die Auffassung, dass die Geschichte eine Entwicklung der Gesellschaft darstelle, war nicht neu, aber Marx gab dieser Auffassung zuerst eine feste Begründung, ein solides Fundament, indem er den Mechanismus dieser Entwicklung aufzeigte. Er wies nach, wie die Grundlage der gesellschaftlichen Entwicklung in der Entwicklung der Produktionskräfte liegt und wie die Klassengegensätze und der Klassenkampf die Hebel seien, welche die Entwicklung der gesellschaftlichen Einrichtungen bewirken und immer weiter treiben. Seit Marx weiß man also, dass die bürgerliche Gesellschaft nur eine bestimmte Form ist unter den vielen andern Gesellschaftsformen, die früher da waren und später kommen werden, und dass die bürgerlichen Anschauungen und Auffassungen, die vorher als die einzig vernünftigen galten, nur die besonderen Anschauungen der in dieser Gesellschaft herrschenden Klasse darstellen und aufs engste mit ihren besonderen Klasseninteressen zusammenhängen. Im allgemeinen werden unter den verschiedenen Klassen, die in einer Gesellschaft einander gegenüberstehen, sehr verschiedene sittliche Anschauungen herrschen; die Anschauungen der Menschen werden bedingt durch die Verhältnisse, unter denen sie leben, also in erster Linie durch die besondere Lage und die Lebensumstände der Klasse, der sie angehören. Überall wird dasjenige als gut oder böse angesehen werden, was dem Interesse der Klasse nutzt, oder ihm schadet.

Für die Richtigkeit dieser Sätze wird man jedem praktische Beispiele vorführen können, denn was Marx damals, vor einem halben Jahrhundert, theoretisch lehrte und voraussah, ist jetzt schon lange zur Tat geworden in der modernen Arbeiterbewegung, und man braucht nur die Erfahrungen aus der Arbeiterbewegung zu nehmen, um die Probe aufs Exempel zu machen. Jetzt haben wir zwei Klassen mit entgegengesetzten Interessen, und wir finden hier in der Tat verschiedene sittliche Anschauungen. Die Bourgeoisie betrachtet alles, was für den ungestörten Fortgang des Produktions- und Ausbeutungsprozesses nützlich ist, als gut und lobenswürdig – mag der einzelne für sein Privatinteresse auch oft jenes allgemeine Klasseninteresse verletzen –, so Ruhe und Frieden, Gesetzlichkeit, Ehrlichkeit und Treue in Handel und Wandel, Unternehmungsgeist, Tatkraft und Energie bei ihren eignen Klassengenossen, Zufriedenheit, Gehorsam, Fleiß und Anspruchslosigkeit bei den Arbeitern. Und wo die Interessen ihres Profits mit den Interessen der Bourgeoisie eines andern Landes in einen schweren Konflikt kommen, da preist sie sogar das Sich-hinschlachten-lassen für dieses Interesse als „Vaterlandsliebe“ und „Heroismus“, als höchste Tugend. Das kämpfende Proletariat hat für all jene Tugenden geringes Verständnis, da sie für seinen Kampf nur an zweite Stelle treten, oder ihn sogar hemmen. Für das Proletariat gilt als erste Tugend alles, was zu seinem Befreiungskampfe nötig und förderlich ist: Solidarität, die Unterordnung der Person unter die Organisation, freiwillige Disziplin, Freiheitsdrang und Widerspenstigkeit und Hingabe an das Klasseninteresse. Dieser Gegensatz der ethischen Anschauungen tritt bei bedeutenden gesellschaftlichen Kämpfen scharf hervor. In Holland brach im Jahre 1903 plötzlich ein Eisenbahnerstreik aus, weil den Eisenbahnarbeitern zugemutet wurde, Streikbrecherarbeit an Stelle der streikenden Amsterdamer Hafenarbeiter zu leisten. Sie standen vor der Wahl, den Kampf gegen die mächtigen Privatgesellschaften, die in Holland die Eisenbahnen in der Hand haben, aufzunehmen, einen Kampf, der möglicherweise ihre eignen Interessen schwer schädigen konnte, oder den Kampf der Hafenarbeiter zu schädigen. Sie wählten das erste, und einen ganzen Tag lag der Verkehr in den westlichen Provinzen still. Fragte man damals einen Bourgeois, wie er darüber denke, so hörte man nur Ausdrücke des Abscheus und der Empörung, weil wegen der Privatinteressen einiger Leute die ganze Gesellschaft in Unordnung gebracht werde. Verbrecherisch wurde ihre Tat sogar von der Regierung genannt; der Bourgeoisie erschien es als ein Verbrechen, dass die „Ordnung“, d. h. der Zustand des ruhigen ungestörten Profitmachens, wo die Besitzer Geld verdienen und die Arbeiter Hunger leiden, gestört wurde. Die Arbeiter –dagegen empfanden es ganz anders; sie priesen und bewunderten die tapferen Männer, die ihre eignen Interessen der Solidarität gegen ihre kämpfenden Klassengenossen opferten. So verschieden war die ethische Beurteilung als Folge des verschiedenen Klassenstandpunkts. Am schroffsten trat der Gegensatz der Anschauungen in den darauf folgenden Debatten in der Presse hervor; völlig verständnislos stand man einander gegenüber. Den Arbeitern war es absolut nicht beizubringen, was denn schlimmes darin stecke, wenn im Interesse irgendeiner Arbeiterschicht der Eisenbahnverkehr einen Tag stilliege. Die Schriftsteller der Bourgeoisie sagten dagegen: wenn es für die Wahrung berechtigter eigner Interessen der Eisenbahner nötig gewesen wäre, dann könne man den Streik verstehen; aber für andre, aus Solidarität! Das war ja doch die reine Tollheit; wohin würde das führen, wenn solche Ansichten unter den Arbeitern allgemein würden! Vielleicht dämmerte es diesen Leuten, dass es dann mit der ganzen Ausbeutungsherrlichkeit schief gehen könnte. Jedenfalls zeigte sich klar: für Arbeiterinteressen hatten sie einiges Verständnis, aber Arbeitertugend erschien ihnen nur als Wahnsinn.

An diesem Beispiel kann man sehen, dass wirklich dasjenige als sittlich und gut angesehen wird, was der Gemeinschaft, der man angehört, also hier der Klasse, nützlich ist. Diese Tatsache muss allgemein gelten; so liefert die Erfahrung von heute uns den Schlüssel, um die moralischen Anschauungen früherer Zeiten und fremder Völker zu verstehen. Die bürgerliche Anschauung wusste damit nichts anzufangen; sie konnte diese nur als Folgen der rohen Unkultur, der Unwissenheit und der Barbarei betrachten. Unsre neue Einsicht lehrt uns jedoch, dass die sittlichen Anschauungen solcher Zeiten und Völker aus ihren materiellen Lebensbedingungen herrühren und nur aus diesen heraus zu verstehen sind. Ihre Ethik ist anders als die unsrige, weil ihre materiellen Lebensumstände anders sind.

Nehmen wir z. B. das Mittelalter, als das Rittertum die herrschende Klasse war, die nicht durch ihr Geld, sondern durch ihre Kriegstüchtigkeit über die Bauern herrschte. Da galt die ritterliche Moral der Degenspitze, und Tapferkeit und Waffentüchtigkeit galten als höchste Rittertugend. Als damals in den Städten das Bürgertum emporkam mit ganz andern Interessen, konnte man gerade so einen Gegensatz in den moralischen Anschauungen zweier Klassen bemerken, wie jetzt. Die Ritter sahen in den mit kostbaren Waren oder gefüllten Geldtaschen reisenden Kaufleuten treffliche Objekte zum Ausplündern; die Kaufleute dagegen hatten ein Interesse an öffentlicher Sicherheit, und ihnen erschien als niederträchtige Straßenräuberei, was den Rittern ein nobles Ritterrecht dünkte. Die Bürger hatten dringendes Interesse an Ordnung, Ruhe und Gesetzlichkeit, weil ihr Gelderwerb ein friedliches Handwerk war; die Ritter behaupteten ihren Anspruch darauf, sich selbst nach ritterlicher Sitte und Willkür Recht zu schaffen und in ihrem Raufboldtum nicht gestört zu werden. Sie haben sich jedoch den von den Bürgern mit Geld unterstützten Fürsten nicht widersetzen können, die im Interesse der Handelssicherheit die ritterlichen Raubschlösser niederbrannten. Die bürgerliche Moral errang den Sieg, und in den Abenteuern des Don Quixote erscheint die überkommene ritterliche Moral nur noch als lächerliche Posse.

Auch die sittlichen Anschauungen fremder Völker werden erst aus ihren materiellen Lebensbedingungen verständlich. Es gibt Völker, bei denen es sittlich ist, die alten Leute zu töten. So abscheulich uns dies vorkommt, so hat es seinen guten Grund darin, dass Nahrungsmangel solche Stämme zu weiten Wanderzügen zwingt, auf denen die alten und schwachen Mitglieder nicht mitkommen können. Man hat also die Wahl, sie entweder hilflos liegen zu lassen, oder den ganzen Stamm zugrunde gehen zu lassen, oder sie zu töten. Wo aber Überfluss ist und eine entwickeltere Produktionsweise herrscht, bei der das Wissen, das geistige Element eine bedeutende Rolle spielt, da werden die alten Leute in hohen Ehren gehalten, weil sie die reichste Erfahrung haben und ihre Weisheit und ihre Kenntnisse eine bedeutende ökonomische Macht bilden. So war es bei den semitischen Hirtenvölkern, von denen unser viertes Gebot stammt, und bei den ackerbauenden Chinesen. –

Die Ethik ist also aufs engste mit der Produktionsweise, mit der materiellen Grundlage des ganzen gesellschaftlichen Lebens verknüpft. Die Menschen leben nicht einzeln für sich, sondern bilden eine Gemeinschaft; sie müssen daher Rücksichten aufeinander nehmen. „Der einzelne Mensch“, sagte Dietzgen, „findet sich mangelhaft, unzulänglich, beschränkt. Er bedarf zu seiner Ergänzung des andern, der Gesellschaft, und muss also, um zu leben, leben lassen. Die Rücksichten, die aus dieser gegenseitigen Bedürftigkeit hervorgehen, sind es, verschieden, je nach den besonderen Umständen und Bedingungen ihres Zusammenlebens. Aber diese Bedingungen sind nicht frei gewählt, sondern werden bestimmt durch die Produktionsverhältnisse; die äußeren Umstände, die Entwicklungshöhe der Technik und die übrigen materiellen Bedingungen des Lebens bestimmen die Gesellschaftsordnung. Diesen von außen her gegebenen Bedingungen müssen die Menschen sich fügen; sie können ja nicht anders; und diese Bedingungen bestimmen also, auf welche Weise die Menschen aufeinander Rücksicht zu nehmen haben, mit andern Worten, was sittlich ist. Was die Produktionsordnung erheischt, ist sittlich, weil es notwendig ist. Was eine notwendige Bedingung des gesellschaftlichen Lebens unter den gegebenen Umständen ist, kann nicht schlecht sein, mag es einem unter andern Umständen aufgewachsenen Menschen noch so barbarisch erscheinen. Also bringt jede bestimmte Gesellschaftsordnung ihre eigne Ethik mit eherner Notwendigkeit hervor.

Es zeugt daher von großer Verständnislosigkeit, wenn man eine Gesellschaftsordnung mit einer fremden oder mit einer absoluten Ethik messen und verurteilen will, wie es z. B. einige Neukantianer mit dem Kapitalismus tun. Der Kapitalismus bildet gerade so eine notwendige Entwicklungsstufe der Gesellschaft, als frühere Produktionsweisen, und kann ebensowenig wie diese im absoluten Sinne schlecht genannt werden. Umgekehrt hat er seine eigne, zu ihm gehörige Ethik erzeugt und mit Kraft durchgesetzt; in seiner Blütezeit galt es sogar bei den Proletariern selbst als sittlich 1md brav, sich halb zu Tode zu arbeiten und zufrieden die größte Armut zu ertragen, obgleich daran an sich nichts Tugendhaftes zu entdecken ist, ausgenommen, dass es den Profit der Bourgeoisie erhöht und auf diese Weise: die riesige Akkumulation von Kapitalien ermöglicht hat. Wer die geschichtliche Notwendigkeit des Kapitalismus begreift, wird auch verstehen, weshalb solche moralischen Anschauungen sich mit Notwendigkeit durchsetzen mussten und weshalb all jene ethische Entrüstung über die Schlechtigkeit und Menschenunwürdigkeit des Kapitalismus eitel Dunst ist.

Zwar gibt der Kapitalismus, in Gegensatz zu andern Gesellschaftsordnungen, noch einen besonderen Anlass zu solchen ethischen Verurteilungen. Denn nirgends besteht so, wie hier, ein schroffer Gegensatz zwischen persönlichem und Klasseninteresse, zwischen dem moralischen Gesetz und der praktischen Tat. Im Kapitalismus besteht die Ethik nur, um fortwährend von den Menschen verletzt zu werden; jeder muss mit aller Kraft sein persönliches Interesse auf Kosten der andern verfechten. Kant hat dies schon erkannt, als er sagte, dass in der Praxis des menschlichen Handelns das moralische Gesetz nicht zu entdecken sei; er glaubte deshalb, dass dieser Widerspruch zwischen Gebot und Praxis ein allgemeines Merkmal aller Ethik sei, während er in der Tat nur eine besondere kapitalistische Erscheinung ist. Eine solche Ordnung, wo das Individuum sich selbst immer über die Gesellschaft setzt und für sein Privatinteresse die allgemeinen gesellschaftlichen Regeln verletzt, muss selbstverständlich der ethischen Beurteilung eine breite Angriffsfläche bieten. Soweit aber diese Kritiker sich nicht auf den Boden des proletarischen Kampfes für die Aufhebung des Kapitalismus stellen, bietet ihre Entrüstung nur einen Beitrag zum Kapitel der bürgerlichen Heuchelei.

Man könnte gegen die vorhergehenden Betrachtungen vielleicht einwenden, dass wir selbst doch in unsrer Propaganda fortwährend den Kapitalismus kritisieren und verurteilen als eine schlechte und ungerechte Ordnung. Darauf ist zu erwidern, dass allerdings eine Gesellschaftsordnung allgemein aus ethischen Gründen verurteilt werden kann, aber dies ist immer ein Anzeichen dafür, dass sie ihre Lebenskraft verloren hat und dass sie sich ihrem Untergang nähert. Wenn jetzt allgemein gefühlt wird, dass der Kapitalismus eine unsittliche Ordnung ist, dann beweist dies, dass er sich überlebt hat. Er wird dann verurteilt auf Grund einer höheren und besseren Ethik, die zu einer höheren, sich nähernden Produktionsweise gehört. Wenn wir mit so überzeugender Kraft den Kapitalismus als unsittlich brandmarken, so kommt es daher, dass wir eine neue Weltordnung in unserm Kopfe und in unserm Herzen haben, an deren Einrichtungen und mit deren Ethik wir ihn messen. Es ist also völlig unzutreffend, wenn man sagt, dass der Kapitalismus aufgehoben und durch eine bessere Ordnung ersetzt werden soll, weil er schlecht und ungerecht ist. Gerade umgekehrt muss es heißen: weil der Kapitalismus aufgehoben werden kann und eine bessere Ordnung möglich ist, deshalb ist er ungerecht und schlecht. Unsre Propaganda stützt sich auch gar nicht auf Entrüstung über den Kapitalismus, sondern auf die Erkenntnis der notwendigen Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung; wir weisen die Arbeiter daraus hin, dass eine dauernde und wesentliche Verbesserung ihrer Lebenslage innerhalb des Kapitalismus nicht möglich ist.

Das gesellschaftliche Wissen, das wir Marx verdanken, die Theorie des Sozialismus, hat also die Ethik aus den himmlischen Regionen geholt und als eine irdische Sache, als einen Ausfluss der materiellen Lebensbedingungen enthüllt. Sie ist aber darum nicht geringer an Wert geworden. Sie ist jetzt aufs engste verknüpft mit der wichtigsten Grundlage alles Menschendaseins, mit dem gesellschaftlichen Arbeitsprozess, und bildet darin gewissermaßen das geistige Element. Die äußeren Bedingungen dieses Arbeitsprozesses legen den Menschen mit eherner Notwendigkeit allerhand Härten und schwer zu tragende Mühsale auf: schwere Arbeit, Sklaverei, Verlust an Leben und Gesundheit. Unter den gegebenen Bedingungen waren diese notwendig und zweckmäßig; aber wie unerträglich schwer wäre diese Bürde des Elends zu tragen gewesen, wenn nicht die Ethik gekommen wäre, welche die harte Notwendigkeit verklärte und verschönerte zu einem höheren, göttlichen Gesetz. Nach dem bekannten Sprichwort hat die Menschheit immer aus der Not eine Tugend gemacht, und als Tugend war mit frohem Herzen auszuüben, was sonst als lichtlose Notwendigkeit nur mürrisch zu ertragen wäre. Solange die Wissenschaft nicht weit genug vorgeschritten war, um den Menschen einen klaren Einblick in die notwendigen Gesetze der Wirtschaft zu gestatten, setzten diese sich in dem Bewusstsein der Menschen als ein göttliches Gesetz durch, das vom Himmel kam. Solange die Triebe, welche die Menschen zur Unterordnung ihres persönlichen Interesses unter das gesellschaftliche Interesse nötigten, unbewusst und geheimnisvoll, unbekannten Ursprunges blieben, musste ihre zwingende Kraft als ein überirdisches, absolutes Gesetz erscheinen. Jetzt ist dieser Schein verschwunden, und wir wissen, woher ein solcher Trieb in unsre Herzen kommt. Die proletarische Bewegung hat durch ihre Wissenschaft die Ethik beleuchtet. Umgekehrt aber wirft jetzt diese neue Wissenschaft der Ethik ihr Licht auf unsre eignen moralischen Gefühle. Könnten wir ohne sie bisweilen daran zweifeln, ob unsre neuen ethischen Anschauungen, die oft im Gegensatz zu den altehrwürdigen Auffassungen unsrer Väter stehen, nicht etwa einer moralischen Verirrung entspringen, so zeigt unsre Wissenschaft uns die Vernünftigkeit unsrer Sittlichkeit, die naturnotwendig aus neuen gesellschaftlichen Bedürfnissen fließt.

Das Wesen der Ethik nach Dietzgen

Zur Erklärung der Ethik sind wir jetzt ein gutes Stück vorgeschritten; der Marxismus hat ihren irdischen Ursprung enthüllt und damit den Weg zu einer wissenschaftlichen Erklärung angebahnt. Diese Erklärung selbst bleibt jetzt noch zu finden übrig. Denn mit dem Ursprung ist noch nicht das Wesen der Ethik erkannt; wenn man weiß, woher sie stammt, so bleibt noch die Frage, weshalb dasjenige, was gesellschaftlich notwendig ist, sich unserm Geiste in der Gestalt eines moralischen Gesetzes, einer sittlichen Anschauung aufdrängt.

Man könnte einen Augenblick glauben, dass hier nichts mehr zu erklären, das moralische Empfinden als ein Wahn, ein Trugbild, eine Folge der Unwissenheit enthüllt sei und jetzt als dasjenige erkannt werde, was es in Wirklichkeit sei, ein mystifizierter Ausdruck der gesellschaftlichen oder der Klasseninteressen. Wenn diese Auffassung richtig wäre, so müsste bei uns, da wir diese reelle Bedeutung der moralischen Gefühle kennen, jetzt immer anstatt eines moralischen ein vernunftgemäßes Urteil treten, das den Nutzen oder den Schaden für die Gemeinschaft erwägt. Dies ist aber bekanntlich nicht der Fall. Wir Sozialdemokraten empfinden die menschlichen Handlungen gerade so unmittelbar und gerade so stark, wie andre Menschen, als sittlich oder unsittlich. Das moralische Empfinden ist also eine in der Natur, des Menschen liegende Erscheinung, die von der Wissenschaft erklärt werden kann, ohne dadurch selbst beeinträchtigt zu werden – und gar nicht ein Trug oder ein Wahn, der von der Wissenschaft verscheucht wird. Mögen die sittlichen Anschauungen aus dem Klassenbedürfnisse hervorgehen, sie sind damit noch nicht identisch; sie sind noch etwas andres; und deshalb bleibt hier noch etwas zu erklären übrig. Unser unmittelbares sittliches Empfinden wird nicht durch die nüchterne Abwägung der Nützlichkeit für die Gemeinschaft ersetzt; es besteht also ein Unterschied zwischen dem, was sittlich und dem, was für die Gemeinschaft nützlich ist: diesen Unterschied gilt es jetzt noch aufzuklären.

Ein Beispiel kann das noch klarer machen, und wir nehmen dazu den schon oben erwähnten Fall des holländischen Eisenbahnerstreiks. Nach dem Siege der Eisenbahnarbeiter schrie die Bourgeoisie nach einem Ausnahmegesetz, das auch von der Regierung eingebracht wurde. Die ganze Arbeiterklasse erklärte sich mit den Eisenbahnern solidarisch, die durch einen neuen Streik ihr Streikrecht zu behaupten versuchten. Aber dieser misslang, die Arbeiter erlitten eine furchtbare Niederlage, und mit ihnen erlitt die ganze Arbeiterbewegung schwere Verluste, die erst nach mehreren Jahren unermüdlicher Propaganda einigermaßen geheilt waren. So hatte jener glorreiche erste Solidaritätsstreik zu einem großen Rückschlage geführt und die Arbeiterbewegung – wenigstens in den ersten Jahren – mehr geschädigt als gefördert. War aber deshalb jener Streik unsittlich? Wenn es wahr ist, dass alles, was der Gemeinschaft, also hier der Klasse, nütze, sittlich sei, und was ihr schade, unsittlich, dann müsste man diese Tat unsittlich nennen. Und dennoch wird jeder klassenbewusste Arbeiter sich weigern, einem solchen Urteil beizupflichten; er wird sagen: der Schaden mag sein, aber jener Streik war dennoch eine schöne, bewundernswerte, eine sittliche Tat! Hier hat man also ein Musterbeispiel der Frage, die uns beschäftigt; eine Tat wird sittlich gut geheißen, obgleich sie eher schädlich als nützlich für die Klasse war. Der Unterschied, der zwischen dem Nützlichen und dem Sittlichen besteht, muss also durch die Erörterung dieses Beispiels ans Licht treten.

Fragen wir also: weshalb findet ihr jene Tat schön und tugendhaft? Dann wird die Antwort lauten: weil darin die Solidarität, die Aufopferung des einzelnen für das, was ihm als Klasseninteresse erscheint, zum Ausdruck kam. Weshalb wird aber das Betätigen der Solidarität eine Tugend genannt? Weil im allgemeinen die Betätigung der Solidarität nützlich für die Arbeiterklasse ist. Nicht immer; wir haben ja hier gerade einen Fall, wo sie Schaden brachte; aber fast immer, im allgemeinen ist sie nützlich und für den Kampf der Arbeiterklasse sogar so notwendig, dass ohne sie ein endgültiger Sieg unmöglich wäre. Deshalb gilt sie als Tugend und bleibt dies auch für die Ausnahmefälle, wo durch besondere Umstände der Nutzen nicht den Schaden aufwog. Hier zeigt sich also der Unterschied zwischen Klasseninteresse und Sittlichkeit; nicht dasjenige, was nützlich ist für die Klasse, ist sittlich, sondern das, was im allgemeinen, in der Regel zum Nutzen und Interesse der Klasse gereicht, ist sittlich. Eine sittliche Tat ist noch nicht immer eine empfehlenswerte, vernünftige Tat; man soll in der Praxis nicht der unmittelbaren Regung des Herzens folgen, sondern mit kühlem Verstand die Zweckmäßigkeit der Tat nach den besonderen Umständen prüfen. Was im allgemeinen zweckmäßig ist, setzt sich in unserm Gefühl fest und bestimmt das sittliche Urteil; aber die Vernünftigkeit der Tat muss bestimmt werden durch das, was in diesem besonderen Fall zweckmäßig ist.

In den meisten Schriften über Ethik wird in der Sittlichkeit nur die Überordnung der Gemeinschaft über das Individuum erkannt; daher erschöpft sich der Gegensatz zwischen sittlich und nützlich in dem Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Einzelperson. Aus dem vorhergehenden folgt, dass dieser Gegensatz nur zum Teil das Wesen der Ethik darstellt. Dass dieser Teil jetzt so stark hervortritt, kommt von der bürgerlichen Gesellschaft her, wo persönliches und gesellschaftliches (d. h. Klassen-)Interesse in einem so starken Widerstreit zueinander stehen; dieses bürgerliche Phänomen hat allen Betrachtungen über Ethik von Kant bis zur Gegenwart ihr besonderes Gepräge gegeben. Dieser Gegensatz fällt bei Gesellschaftsordnungen fort, die nicht auf Privatwirtschaft beruhen; in einer kommunistischen Gesellschaft kann nur Übereinstimmung und Harmonie zwischen dem persönlichen und dem gesellschaftlichen Interesse bestehen. Das Wesen der Ethik muss deshalb vollständiger erfasst werden, und nach dem hier Ausgeführten kann man es vollständig ausdrücken, wenn man es die Überordnung des Allgemeinen über das Besondere nennt. Der Unterschied zwischen sittlich und nützlich ist der Unterschied nicht nur zwischen dem, was allen und dem, was einzelnen nützlich ist, sondern auch zwischen dem, was allgemein, in der Regel und dem, was nur in einem besonderen Fall nützlich ist. Was regelmäßig und normal zweckmäßig und notwendig für die Gemeinschaft ist, das wird – ohne bewusste Überlegung, durch einen unbewussten Vorgang – zur Norm des Empfehlenswerten, des Guten, des Vernünftigen, des Sittlichen.

Auf diese Weise hat Dietzgen, der Philosoph des Proletariats, das Wesen der Ethik enthüllt und es zugleich aus der allgemeinen Natur des menschlichen Geistes abgeleitet. Der menschliche Geist steht inmitten einer unendlich verschiedenen immerfort wechselnden Masse von Erscheinungen, die er deshalb nicht alle in dieser grenzenlosen Verschiedenheit in sich aufnehmen kann. Er hebt darum aus dieser Erfahrungsmasse das Gemeinschaftliche, Bleibende, Allgemeingültige hervor und bildet, indem er von der Verschiedenheit und den Einzelheiten absieht, durch eine solche Abstraktion die Begriffe, mittels deren er die Welt geistig darstellt. Die unendliche Verschiedenheit der konkreten Erscheinungen kann nicht in unsren Kopf herein; die abstrakten Begriffe, in unsrem Kopfe drücken das Allgemeine dieser Erscheinungen aus. Der Geist ist das Organs des Allgemeinen. In der nämlichen Weise steht der Mensch auch inmitten einer unbeschränkten Zahl der verschiedensten Bedürfnisse, leiblicher und geistiger, wichtiger und unwichtiger, augenblicklicher und dauernder, persönlicher und gemeinsamer, die alle nach Befriedigung drängen, aber nicht alle befriedigt werden können. Da gilt es, aus der großen Masse alles dessen, was zu deren Befriedigung nützlich und zweckmäßig ist zu dieser oder zu jener Zeit und für diese oder für jene Person, dasjenige hervorzuholen, was im allgemeinen nützlich und zweckmäßig ist; dies wird als das allgemein Zweckmäßige unbewusst abgesondert, und setzt sich in dem Geist als das Gute und Sittliche fest. So wird die Ethik aus der allgemeinen Natur des menschlichen Geistes begriffen; sie entspringt demselben speziellen Vermögen des Menschengeistes, das Allgemeine zu erfassen, das auch der Erkenntnis der uns umgebenden Welt ihren bestimmten Charakter gibt. Auf die Erfahrung unsrer Sinne angewandt, bringt dieses Vermögen die Begriffe und die Wissenschaft hervor, auf unsre eigenen Bedürfnisse angewandt, schafft es die Ethik.

Es wird jetzt auch völlig verständlich, weshalb es keine allgemeine und absolute 'Ethik geben kann. Die Bedürfnisse der Menschen sind verschieden, und die Mittel zu ihrer Befriedigung sind es noch viel mehr. Wollte man jetzt aus allen verschiedenen Möglichkeiten, die zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern bestehen, das Gemeinschaftliche holen, so würde man nur ein paar allgemeine Selbstverständlichkeiten bekommen, ohne praktischen Wert. Nimmt man aber eine bestimmte Menschengruppe in bestimmten Umständen, z. B. das moderne Proletariat in der Gegenwart, dann ist der Umkreis der Bedürfnisse und der Mittel zu ihrer Befriedigung beschränkt; aus ihnen das Wesentliche und Allgemeine von dem Zufälligen und Besonderen abzusondern, hat einen sehr guten und wichtigen Sinn. Die wirklichen Menschen leben ja immer unter bestimmten Umständen, und für sie kann nur gelten, was unter diesen Umständen allgemein nützlich und nötig ist.

Hiermit sind wir am Ende unsrer Betrachtungen gekommen, und wir wollen uns nur noch einen kurzen Rückblick gestatten. Kant hat das besondere Merkmal der Ethik deutlich hervorgehoben, nämlich, dass sie eine allgemeine Regel abgibt, die unmittelbar, ohne Abwägen der besonderen Umstände das sittliche Urteil bestimmt. Er konnte aber nichts über ihren wirklichen Ursprung sagen; weil er die Teilung der Menschheit in Klassen nicht kannte und deshalb nur den Gegensatz zwischen dem Einzelmenschen und der ganzen Menschheit herausfühlen konnte, musste er glauben, dass es nur eine absolute, allgemeingültige Ethik gebe; und weil er deshalb keinen irdischen Ursprung zu erkennen vermochte, glaubte er, dass sie etwas Übernatürliches sei. Der Marxismus hat den Ursprung der Moral aus den Klasseninteressen aufgedeckt und den Weg zu ihrer natürlichen Erklärung als ein natürliches Phänomen eröffnet. Das eigentliche Wesen der Ethik wird dann vollkommen verständlich durch den tiefen Einblick, den Dietzgen uns in die Natur des menschlichen Geistes gestattet hat.

Wir begannen mit der alltäglichen Erfahrung, dass das Wollen und also auch das Handeln des Menschen durch zweierlei Motive, durch sein Interesse, seine Bedürfnisse und. durch die Ethik bestimmt werden. Wussten wir am Anfange unsrer Betrachtung noch nicht, was diese zweite Art der Motive, die ethische, eigentlich bedeute, so wird das jetzt, am Ende, klar geworden sein. Der Gegensatz zwischen Interesse und Ethik ist jetzt zu dem Gegensatze zweier Arten von Interessen geworden: des persönlichen, besonderen und augenblicklichen Interesses gegenüber dem allgemeinen und dem dauernden Interesse, das jetzt hauptsächlich als Klasseninteresse auftritt. Wir müssen also sagen: unser Wollen wird durch zweierlei Motive bestimmt, nämlich durch unser eigenes und augenblickliches Interesse und das Interesse unsrer Klasse. Wir sehen namentlich in der Gegenwart, dass starke sittliche Regungen, neue Tugenden in der Arbeiterklasse aufwachsen, die eine gewaltige, aber notwendige Kraft zur Umgestaltung der Gesellschaft bilden, denn ohne sie könnte jene bedeutende Weltumwälzung, der Übergang zum Sozialismus, nicht zustande kommen. Fragen wir jetzt, woher diese Kraft kommt, dann können wir antworten: sie stammt nicht vom Himmel; sie wächst aus den irdischen, tatsächlichen Verhältnissen auf und sie bekundet einfach, dass in jedem einzelnen Mitgliede der Arbeiterklasse jenes allgemein-menschliche Vermögen lebt, über das beschränkte persönliche und besondere Interesse hinwegzusehen und den Geist zu erheben zu dem, was allgemein, was seiner Klasse, was der ganzen Gesellschaft nottut.


Zuletzt aktualisiert am 5.7.2008