Rosa Luxemburg


Brennende Zeitfragen


II
Die Diktatur des Proletariats

Aber die Schicksale der russischen Revolution sind noch verhängnisvoller mit dem Weltkrieg verkettet, als die Oberfläche der Dinge heute ahnen läßt. Der Sturz des Zarenregimes, der für die liberale Auffassung der eigentliche und erschöpfende Inhalt der russischen Revolution war, stellt natürlich nur ihren knappen Prolog dar. Als Frucht der ganzen kapitalistischen Entwicklung denkt die Revolution nicht daran, in ihrem weiteren logischen Fortschreiten bei den Errungenschaften stehenzubleiben, bei denen sie der Kretinismus der „öffentlichen Meinung“ Europas, die sozialdemokratische eingeschlossen, haltmachen lassen möchte. Ihre natürliche

Tendenz führt zu einer Generalauseinandersetzung der Klassen im Schoße der russischen Gesellschaft, wobei die Hauptrolle naturgemäß der fortgeschrittensten und radikalsten Klasse, dem industriellen Proletariat, zufallen muß. Das Ziel, auf das diese Entwicklung hinsteuert, ist unvermeidlich die Diktatur des sozialistischen Proletariats. Gerade weil der Kampf gegen den Imperialismus und für den Frieden vom ersten Augenblick zur Achse der politischen Revolution wurde, ist die Bannerträgerin dieses Kampfes, die sozialistische Arbeiterschaft, sofort in den Vordergrund getreten und hat bereits in dem Koalitionsministerium [3] zur Hälfte das Regierungssteuer ergriffen.

Allein das Koalitionsministerium ist an sich eine Halbheit, die dem Sozialismus alle Verantwortlichkeit aufbürdet, ohne ihm entfernt die volle Möglichkeit der Entfaltung seines Programms zu gewähren. Es ist ein Kompromiß, der, wie alle Kompromisse, zum schließlichen Fiasko verurteilt ist. Das neue Koalitionsministerium wird kraft der inneren logischen Entwicklung über kurz oder lang einer rein sozialistischen Regierung, d. h. der tatsächlichen und formellen Diktatur des Proletariats, Platz machen müssen. Hier beginnt aber das Fatum der russischen Revolution. Die Diktatur des Proletariats ist in Rußland – falls eine internationale proletarische Revolution ihr nicht rechtzeitig Rückendeckung schafft – zu einer betäubenden Niederlage verurteilt, gegen die das Schicksal der Pariser Kommune ein Kinderspiel gewesen sein dürfte.

Vor allem rollt die russische Revolution soziale und politische Probleme auf, die an sich nicht anders als auf internationalem Maßstab gelöst werden können. Die unvermeidliche Erschütterung der bürgerlichen Eigentumsformen durch die bevorstehende Lösung der Agrarfrage, die Erschütterung der kapitalistischen Ausbeutungsformen durch eine radikale Umgestaltung der Arbeitsverhältnisse, die von der russischen Arbeiterschaft angestrebt werden muß, die Erschütterung des bürgerlichen Staates durch eine wirkliche Volksherrschaft – alles das kann sich unmöglich in den Rahmen des heutigen Europas fügen, in den Rahmen der krassesten militaristischen Reaktion, wie sie gerade seit dem Ausbruch des Weltkrieges in allen Ländern ungehemmt und unumschränkt die Herrschaft angetreten hat.

Je mehr in Rußland die Diktatur des Proletariats naht, um so mehr reift ferner der unvermeidliche Rückfall der russischen Bourgeoisie in die Arme der Konterrevolution heran. Das russische Bürgertum erträgt jetzt das Joch der Volksherrschaft nur mit tief verborgenem Groll und Haß und nur solange der Krieg dauert, d. h. solange die Massen bewaffnet sind und die Schicksale des Landes in ihren Händen halten. Ist der Krieg zu Ende, dann erfolgt sofort der Schub all der Miljukows, Rodsjankos und Konsorten von der Linken zur äußersten Rechten, und es unterliegt keinem Zweifel, daß beide Volksschichten – die des Kleinbürgertums und des Bauerntums –, die heute dem städtischen Proletariat folgen, ihm alsdann in ihrem überwiegenden Teil in den Rücken fallen werden, verstärkt durch das Lumpenproletariat und alle heute noch niedergeduckten Elemente des abgesetzten Zarenregimes. Selbst die Bereitwilligkeit, mit der das liberale Bürgertum die vorherrschende Stellung der Sozialisten akzeptierte und ihre Beteiligung an der Regierung verlangte, entspricht sicher nicht lediglich der Zwangslage, sondern auch der Berechnung und der Absicht, den Sozialisten einen Teil der Verantwortung und bald womöglich die ganze Verantwortung für die Regierungsangelegenheiten mit all ihren unüberwindlichen Schwierigkeiten aufzubürden, um auf diese Weise den Sozialismus zu kompromittieren und alle konterrevolutionären Elemente zum Widerstand gegen ihn heraufzubeschwören.

Endlich aber bereitet sich, je näher die Diktatur des Proletariats in Rußland heranrückt, auch der Kreuzzug der gesamten europäischen Bourgeoisie gegen die russische Republik vor. Er ist schon in den Ententeländern in vollem Gange und findet seinen Ausdruck in der Schlammwelle der Verleumdungen gegen die Revolution, die sich durch die Bourgeoispresse dieser Länder, durch all die Matin, Morning Post, Stampa, Corriere della Sera, wälzt und tagtäglich Räubergeschichten über Mord, Brandstiftungen, Plünderungen, Anarchie, Bankerott und Auflösung zu melden weiß. Durch die Verleumdungskampagne, die ganz an das Verhalten der europäischen Bourgeoispresse der Pariser Kommune gegenüber erinnert, wird systematisch die öffentliche Meinung Europas gegen die russische Revolution aufgestachelt, [werden] alle Bourgeoisinstinkte mobilisiert und für den Kreuzzug gegen Rußland vorbereitet.

Eine Ausnahme bilden vorläufig das offizielle Deutschland und Österreich, die sich reserviert wohlwollend verhalten – aus sehr durchsichtigen Gründen: Für sie ist die russische Revolution die wichtigste Karte in der jetzigen Kriegslage. Die Mittelmächte betrachten sie als bequemes Ausbeutungs- und Spekulationsobjekt, sowohl wegen der militärischen Hemmungen Rußlands selbst als auch wegen des Drucks, den Rußland auf die Ententeländer ausübt in der Richtung auf den Frieden und die Herabsetzung der Kriegsziele. Damit ist aber gegeben, daß die wohlwollend reservierte Haltung des offiziellen Deutschlands der Revolution gegenüber just so lange anhalten wird, wie der Krieg dauert. Sobald der Krieg, mit welchem Ausgang immer, beendet – und namentlich im Falle eines für Deutschlands Machtstellung halbwegs günstigen Ausgangs –, wird der natürliche Gegensatz zwischen dem preußisch-deutschen Militär- und Polizeistaat und der russischen Republik mit der ganzen zurückgehaltenen Heftigkeit zum Durchbruch kommen. Die Mittelmächte haben zum Vernichtungskampf gegen das revolutionäre Rußland von Hause aus viel triftigere Gründe als England, Frankreich oder Italien. Vor allem, weil Deutschland sowohl wie Österreich als die reaktionärsten Staaten Europas das größte Inventar der Reaktion vor revolutionären Gefahren zu behüten haben; ferner – weil sie sich in unmittelbarer Nachbarschaft mit dem Revolutionsherd befinden; endlich – weil beim Ausbruch einer europäischen Revolution Deutschland – wie es dessen herrschende Klassen instinktmäßig herausfühlen – gemäß seiner führenden kapitalistischen Stellung zum Mittelpunkt der internationalen Erhebung werden würde.

Daraus ergibt sich, daß die Frist für die ungehinderte Entfaltung der russischen Revolution genau so lang bemessen ist, wie der Krieg währt. Die Dauer des Krieges ist ihre historische Galgenfrist, und das russische Proletariat kämpft so im Grunde genommen, indem es für den allgemeinen Frieden kämpft, um den Strick für den eigenen Hals. Kommt der Friede als Machwerk, als Ergebnis einer Verständigung der kapitalistischen Regierungen und nicht als das Werk der europäischen Erhebung des Proletariats zustande, dann wird er der russischen Bourgeoisie, den Ententemächten und namentlich Deutschland die Hände frei machen, damit alle am anderen Tage über das russische revolutionäre Proletariat herfallen und den gemeinsamen Feind der „Ordnung“ in Europa in Blutströmen ersticken. Die Ententepresse bereitet schon die Vorwände, die Losungen und die psychologische Atmosphäre für diesen Umschwung vor. Die Stockholmer sozialistische Internationale [4] aber, die als Unterhändlerin der imperialistischen Regierungen einem „Verständigungsfrieden“ zwischen ihnen vorarbeitet, betätigt sich, ohne es zu ahnen, als die Helfershelferin der künftigen schwarzen Internationale, die am Tage nach Friedensschluß der russischen Revolution den Todesstoß versetzen wird.

Anmerkungen

3. Auf Grund ihrer imperialistischen Politik geriet die Provisorische Regierung im April 1917 in eine Krise. Mächtige Demonstrationen der Arbeiter und Soldaten zwangen sie zu manövrieren. Um den bisherigen konterrevolutionären Charakter der Regierungspolitik beibehalten zu können, wurde im Mai 1917 eine Koalitionsregierung gebildet, an der sich neben Vertretern der Bourgeoisie auch Vertreter der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki beteiligten.

4. Ein holländisch-skandinavischer Ausschuß des Internationalen Sozialistischen Büros hatte alle sozialistischen Arbeiterparteien und -organisationen der kriegführenden Länder für Mai 1917 zu einer Konferenz „zwecks Prüfung der internationalen Lage“ nach Stockholm eingeladen. Während die Parteien der Ententeländer ablehnten, entsandte die SPD mit Befürwortung und aktiver Unterstützung deutscher Regierungsstellen im Juni eine Delegation zu vorbereitenden Besprechungen, der u. a. vom Parteivorstand Friedrich Ebert, Hermann Müller und Philipp Scheidemann angehörten. Der sozialrevolutionär-menschewistisch geführte Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten, der ebenfalls eingeladen worden war, übernahm zunächst nicht den Vorschlag des holländisch-skandinavischen Komitees, sondern lud aus taktischen Erwägungen – man erhoffte sich dadurch die Teilnahme der Ententesozialisten – die Sozialisten aller Länder, die gegen den Krieg und für einen demokratischen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen waren, für Juli 1917 zu einer Konferenz nach Stockholm ein. Nach Besprechungen der russischen Vertreter mit Vertretern des holländisch-skandinavischen Komitees, das seine Konferenz hatte verschieben müssen, wurde beschlossen, eine gemeinsame Friedenskonferenz zu organisieren. Die Zimmerwalder Linken, besonders die Bolschewiki und die Spartakusgruppe, protestierten gegen eine Konferenz mit Beteiligung der Sozialchauvinisten und bewirkten, daß die Internationale Sozialistische Kommission als Organ der Zimmerwalder bewegung die Unterzeichnung des Einladungsaufrufes für die rechtssozialistische Konferenz ablehnte. Da die englische und die französische Regierung den Delegierten aus ihren Ländern die Ausreise nach Stockholm verweigerten, kam die Konferenz nicht zustande.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012