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Sächsische Arbeiterzeitung, Nr. 98, 29. April 1905.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 2, 2. Hbd., S. 537–540.
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Die Maifeier wird in diesem Jahre zum erstenmal in einer revolutionären Situation gefeiert – während ein wichtiger Trupp des internationalen Proletariats in einem gewaltigen direkten Massenkampfe um seine politischen Rechte begriffen ist. Dieser Umstand soll und wird der diesjährigen Maifeier ihren besonderen Charakter aufdrücken. Nicht bloß in dem Sinne, daß überall in den Vorträgen und Resolutionen der Maiversammlungen der kämpfenden Proletarier im Zarenreiche mit einigen Worten der Sympathie gedacht wird. Die gegenwärtige russische Revolution ist, wenn sie nicht bloß mit oberflächlichen Sympathiegefühlen, sondern mit ernstem Nachdenken betrachtet wird, die eigene Sache des internationalen Proletariats, und ganz speziell ist sie mit dem wirklichen Sinn der internationalen Maifeier verbunden, sie ist eine wichtige Etappe zur Verwirklichung der beiden Grundideen der Maifeier: des Achtstundentages und des Sozialismus.
Der Achtstundentag ist von Anfang an zu einer Hauptlosung der gegenwärtigen revolutionären Erhebung im russischen Reiche geworden. Die von der Petersburger Arbeiterschaft in der berühmten Bittschrift [1*] an den Zaren formulierten Forderungen zählen neben politischen Grundrechten und Freiheiten in erster Reihe die sofortige Einführung des Achtstundentages auf. In dem grandiosen Generalstreik, der im Anschluß an das Petersburger Blutbad im ganzen Reiche, besonders in Russisch-Polen ausbrach, war der Achtstundentag die wichtigste soziale Forderung. Auch in dem späteren, zweiten Stadium der Streikbewegung, als der allgemeine Ausstand als politische Kundgebung vorläufig beendet wurde, um einer langen Reihe partieller ökonomischer Streiks Platz zu machen, auch hier war die Forderung des Achtstundentages der rote Faden, der durch die Lohnkämpfe aller Branchen zog und den Grundton der Kämpfe, das einigende Element, die revolutionäre Note dieser Einzelkämpfe bildete. Schon die bisherige erste Periode der russischen Revolution hat sich somit zu einer mächtigen Kundgebung für die internationale Mailosung gestaltet. Sie hat gezeigt, wie kein anderes Beispiel bis jetzt, wie tief die Idee des achtstündigen Arbeitstages in der sozialen Lage des Weltproletariats wurzelt, wie sehr der Achtstundentag eine Lebensfrage für das Proletariat in allen Ländern ist.
Kein Mensch dachte in Rußland daran, die politischen Hauptziele der jetzigen Revolution speziell mit der Forderung des Achtstundentages zu verbinden oder diese letztere gar in den Vordergrund zu stellen. In der ganzen Agitation, die dem Ausbruch der Revolution vorausgegangen war, wurde das Hauptgewicht naturgemäß und mit einer gewissen begreiflichen Einseitigkeit auf die rein politischen Forderungen: die Beseitigung der Alleinherrschaft, die Einberufung der konstituierenden Versammlung, die Proklamierung der Republik, gelegt. Das Proletariat erhob sich nun in Massen – und griff instinktiv neben den politischen Forderungen sofort zu der sozialen Hauptforderung des Achtstundentages, die gesunde revolutionäre Massenerhebung korrigierte wie von selbst die Einseitigkeit der sozialdemokratischen politisch zugespitzten Agitation und verwandelte durch diese internationale rein proletarische Forderung die formell „bürgerliche“ Revolution in eine bewußt proletarische. Die demokratische Verfassung, ja sogar die republikanische Verfassung – das sind Losungen, die ihrem historischen Inhalt nach ebensogut von bürgerlichen Klassen aufgestellt werden können, ja, eigentlich spezielles Eigentum der bürgerlichen Demokratie sind. Insofern trat die Arbeiterschaft Rußlands nur „in Vertretung“ der Bourgeoisie auf die politische Bühne. Der Achtstundentag dagegen ist eine Forderung, die nur von der Arbeiterklasse aufgestellt werden kann, die weder durch Tradition noch dem Sinne nach mit der bürgerlichen Demokratie verknüpft ist, die im Gegenteil speziell dem Träger der bürgerlichen Demokratie – dem Kleinbürgertum – in allen Ländern noch verhaßter ist als dem großindustriellen Kapital. Der Achtstundentag ist also auch in Rußland nicht die Parole der Gemeinsamkeit der proletarischen Interessen mit allen fortschrittlichen bürgerlichen Elementen, sondern die Parole des Gegensatzes, des Klassenkampfes. Vereinigt unzertrennbar mit den politisch-demokratischen Forderungen, zeigt sie sofort an, daß das Proletariat des Zarenreichs seine „Vertretung“ der Bourgeoisie in gegenwärtiger Revolution mit vollem Bewußtsein im Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft übernimmt als einen Kampf der zur eigenen endgültigen Befreiung strebenden Klasse.
Und hierin liegt die internationale Bedeutung der russischen Revolution auch für die andere Hauptidee der Maifeier: für die Verwirklichung des Sozialismus. Die Verbindung zwischen den beiden Losungen ist eine sehr enge und unmittelbare. Freilich ist der Achtstundentag an sich noch kein „Stück Sozialismus“. Er ist formell bloß eine bürgerliche Sozialreform auf dem Boden der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Bei seiner partiellen Verwirklichung, wie wir sie hie und da erlebt haben, hat der Achtstundentag noch keine Umwälzung des Lohnsystems herbeigeführt, sondern es bloß auf eine höhere, moderne Stufe gehoben. Aber als allgemeine internationale, gesetzliche Regel, wie wir ihn fordern, ist der achtstündige Arbeitstag zugleich die radikalste Sozialreform, die im Rahmen der bestehenden Gesellschaft durchgeführt werden kann, er ist eine bürgerliche Sozialreform, aber als solche zugleich ein Knotenpunkt, in dem die Quantität bereits in die Qualität umschlägt, das heißt eine „Reform“, die aber höchstwahrscheinlich erst von dem siegreichen, am Ruder der politischen Macht stehenden Proletariat ins Werk gesetzt werden wird. Deshalb steht die russische Revolution, in der die Losung des Achtstundentages so laut als der Grundton hervortönt, zugleich im Zeichen der sozialen Revolution. Damit soll nicht etwa gesagt werden, daß als nächstes Produkt dieser Revolution etwa der Anfang der sozialen Umwälzung zu erwarten wäre. Im Gegenteil, als nächstes greifbares Fazit der gegenwärtigen Kämpfe wird im Zarenreiche höchstwahrscheinlich bloß eine politische Umwälzung und womöglich sogar eine ganz miserable bürgerliche Verfassung ihren Einzug halten.
Aber unter der Oberfläche dieses rein formellen politischen Umschwungs wird ebenso sicher ein sehr tiefgreifender sozialer Umschwung Platz greifen. Die Klassenscheidung, der Klassengegensatz, die politische Reife und das Klassenbewußtsein des Proletariats in Rußland werden nach der revolutionären Periode einen Grad erreicht haben, wie er bei ruhigem Verlauf der Dinge, auch unter der Herrschaft des parlamentarischen Regimes in Jahrzehnten nicht hätte erreicht werden können. Der Prozeß des Klassenkampfes, der die soziale Revolution vorbereitet, hat in Rußland einen ungeahnten Ansporn erhalten.
Und dadurch auch der internationale proletarische Klassenkampf. Die innere Verknüpfung des politischen und sozialen Lebens zwischen den kapitalistischen Ländern ist heutzutage eine so intensive, daß die Rückwirkung der russischen Revolution auf die soziale Lage in Europa, ja in der ganzen sogenannten zivilisierten Welt eine enorme sein wird – eine viel tiefer gehende, als die internationale Rückwirkung der früheren bürgerlichen Revolutionen. Es ist ein müßiges Geschäft, die konkreten Formen voraussehen und prophezeien zu wollen, die diese Rückwirkung annehmen wird oder kann. Die Hauptsache aber ist: sich darüber klar und bewußt zu werden, daß von der gegenwärtigen Revolution im Zarenreich eine gewaltige Beschleunigung des internationalen Klassenkampfes ausgehen wird, die uns in gar nicht langer Frist auch in den Ländern des „alten“ Europas in revolutionäre Situationen und vor neue taktische Aufgaben stellen wird.
In diesem Gedanken und in diesem Geiste muß die diesjährige Maifeier überall gefeiert werden, soll sie zeigen, daß das internationale Proletariat die wichtigste Parole jedes Kampfes begriffen hat: „Bereit sein ist alles!“
1*. Am 22. Januar 1905 demonstrierten in Petersburg 140.000 Arbeiteer mit einer Bittschrift, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer lebenslage ersuchen wollten, zum Winterpalais. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven empfangen. Über 1.000 Menschen wurden getötet und etwa 5.000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und bauernunruhen in ganz rußland aus.
Zuletzt aktualisiert am 13.1.2012