Rosa Luxemburg


Die sozialistische Krise in Frankreich

 

II. Die Regierung der republikanischen Verteidigung

Der Eintritt Millerands ins Ministerium wird von Jaurès und seinem Anhang durch drei Momente begründet: durch die Notwendigkeit, die Republik zu verteidigen, durch die Möglichkeit, soziale Reformen zum Wohle der Arbeiterklasse durchzuführen, endlich durch die allgemeine Auffassung, wonach die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft zum Sozialismus ein Übergangsstadium erzeugen ums, in dem die politische Herrschaft von der Bourgeoisie und dem Proletariat gemeinsam ausgeübt wird, was äußerlich in dem Anteil der Sozialisten an der Regierung zum Ausdruck kommt.

Der Zeit nach ist der Hinweis auf die Verteidigung der Republik zuerst ins Feld geführt worden.

Die Republik ist in Gefahr! Daher war es notwendig, daß ein Sozialist zum bürgerlichen Handelsminister wurde. Die Republik ist in Gefahr! Deshalb mußte der Sozialist nach der Niedermetzelung streikender Arbeiter auf der Insel Martinique [1] und in Chalon [2] im Ministerium bleiben. Die Republik ist in Gefahr! Infolgedessen mußte die Enquete über diese Metzeleien abgelehnt, die parlamentarische Untersuchung der Kolonialgreuel verworfen, das Amnestiegesetz [3] angenommen werden. Alles Tun und Lassen der Regierung, alle Abstimmungen und Stellungnahmen der Sozialisten werden durch die Rücksichten auf die bedrohte Republik und ihre Verteidigung begründet. Es ist einmal an der Zeit, unbeirrt durch das äußere Gewühl der Tageskämpfe und ihre Losungen, die Situation einer Analyse zu unterziehen und namentlich die Frage näher ins Auge zu fassen, was es eigentlich mit dieser Gefahr und mit dieser Verteidigung auf sich hat?

In den Vereinigten Staaten von Nordamerika hören wir trotz heftigster innerer Klassen- und Parteikämpfe nichts von einer Gefahr für den Bestand der republikanischen Staatsform. Es ist dies ganz selbstverständlich, weil die amerikanische Union die Republik zugleich mit der Unabhängigkeit errungen hatte und als freier Staat nie monarchisch regiert worden ist. In Frankreich erscheinen im Gegenteil die Befürchtungen um die Schicksale der Republik ebenso natürlich, weil sie bereits zweimal erkämpft worden war, um zweimal nach kurzer Dauer von der Monarchie wieder eskamotiert zu werden. Es ist also die Vergangenheit, die hier ihre Schatten auf die Gegenwart zurückwirft und die Strecke der geschichtlichen Entwicklung, die zwischen beiden liegt, den Blicken entzieht

Sosehr die beiden Napoleonischen Staatsstreiche, der 18. Brumaire wie der 2. Dezember, mit äußeren Momenten zusammenhingen, sie kamen keineswegs wie aus der Pistole geschossen. Sowohl das Erste wie das Zweite Kaiserreich waren vor allem ein unmittelbares Ergebnis der voraufgegangenen Revolution, der äußerste Ruhepunkt in der rückläufigen Bewegung der revolutionären Welle, getragen in beiden Fällen durch zwei mächtige Klassen der bürgerlichen Gesellschaft: die Großbourgeoisie und das Bauerntum.

Im ersten Falle haben wir eine Bourgeoisie, die dem Sturmlauf der Revolution, welche über das ihr gesteckte Ziel, die Schaffung des bürgerlichen Rechtsstaats, hinausgeeilt war und die Grundlagen dieses Rechtsstaats selbst bedrohte, Einhalt tun, sie auf den Ausgangspunkt zurückführen und hier ersticken wollte. Daneben ein Bauerntum, welches sich plötzlich befreit und Grundeigentum erworben hatte und, sowohl jede weitere Neuerung wie die Rückkehr des Ancien régime befürchtend, seine Errungenschaften durch eine den Revolutionen und der legitimen Monarchie gleich feindliche Regierung sicherzustellen suchte. Auf der anderen Seite eine Arbeiterklasse, die durch ihre kurze Herrschaft das Kleinbürgertum gebrochen und der Reaktion in die Arme getrieben, zugleich aber bewiesen hatte, daß sie ihrerseits noch kein ausführbares selbständiges Aktionsprogramm besaß, und die sich in den Kämpfen der Revolution gänzlich aufgerieben hatte. Endlich demgegenüber eine Koalition des feudal-reaktionären Europas, die sämtliche inneren Gegensätze und Kämpfe zurücktreten ließ und vor allem die Entfaltung einer starken konzentrierten Macht nach außen hin notwendig machte.

Im zweiten Falle steht an der Spitze eine Bourgeoisie, die, gleich dem Großgrundbesitz durch das revolutionäre Aufsteigen des Proletariats und des Kleinbürgertums erschreckt, zuerst mit Hilfe des Kleinbürgertums das Proletariat in der Junischlächterei zu Boden wirft, dann, um mit dem Kleinbürgertum fertig zu werden, die Regierungsgewalt nach und nach auf Kosten der Volksvertretung stärkt und schließlich auf diese .Weise selbst den Kopf in die Schlinge steckt – um so resignierter, als sie, von vornherein monarchistisch gesinnt, an der Monarchie Bonapartes eigentlich nur auszusetzen hat, daß sie nicht die der Orleans oder Bourbonen ist. Daneben ein Bauerntum, das, seit dem ersten Kaisertum der napoleonischen Überlieferung ergeben, in einem zweiten das Mittel sehen mußte, mit kräftiger Soldatenhand das verhaßte, unruhestiftende städtische Element zur Ruhe zu bringen, von dem es nichts Gutes mehr für sich zu erwarten hatte.

Das Schema des Staatsstreichs ist also, trotz dem entgegengesetzten Schema des Verlaufs der Revolution, in beiden Fällen ein gleiches. Hier wie dort liegen einerseits positive wirtschaftliche und politische Interessen großer Gesellschaftsklassen vor, die an die Monarchie gebunden sind, andererseits ist das wirklich republikanische Element, die Arbeiterklasse, vorher aktionsunfähig gemacht. Endlich findet die Monarchie in beiden Fällen eine fertige Grundlage in dem bereits durch de n Gang der Konterrevolution mit allen Attributen der Allmacht des Kriegsherrn und Regierungschefs ausgestatteten Amte des lebenslänglichen Konsuls resp. des plebiszitären Präsidenten vor. Was also jedesmal im Staatsstreich zum Durchbruch kam, war bereits im Schosse der Republik als eine Frucht der Konterrevolution reif, er schuf nicht eine neue Sachlage, er konstatierte sie bloß und gab ihr den Namen.

Grundverschieden lagen die Verhältnisse in Frankreich während der Dreyfus-Krise. [4] Diejenigen, die in den Ausschreitungen der unbotmäßigen Generale oder der Nationalisten Vorboten eines dritten Staatsstreichs nach dem Vorbild der beiden früheren erblickten, haben es unterlassen, sich das Fazit der ganzen sozialen Entwicklung Frankreichs in den letzten dreißig Jahren zum Bewußtsein zu bringen. In diesem Zeitraum haben sich nämlich im Schosse der französischen Gesellschaft große Verschiebungen vollzogen, deren Ergebnis im allgemeinen sich dahin zusammenfassen läßt: Die Republik, die in den beiden früheren Fällen erstickt wurde, bevor sie noch die revolutionären Schlacken abgestreift hatte, hat hier zum ersten Male die Möglichkeit gehabt, lange genug zu dauern, um in ein normales Dasein zu treten und der bürgerlichen Gesellschaft zu beweisen, daß sie sich ihren Interessen in so glänzender Weise anzupassen weiß wie keine Monarchie der Welt.

Das Gros der Bourgeoisie ist zum ersten Male in der Dritten Republik zur ungeteilten politischen Herrschaft gelangt, die sie nun seit dem Ende der siebziger Jahre durch die fast kontinuierlichen opportunistischen Ministerien und Kammermehrheiten ausübt. Die Kolonialpolitik und der Militarismus Frankreichs sowie im Zusammenhang damit seine riesige Staatsschuld zeigen, daß die Republik in diesen lukrativsten Unternehmungen der Bourgeoisie es mit jeder Monarchie aufnehmen kann. Das Panama und die Südbahnaffäre [5] haben endlich bewiesen, daß das Parlament und die Verwaltung der Republik sich durchaus nicht weniger bequem zum Werkzeug der kapitalistischen Plusmacherei gebrauchen lassen als der politische Apparat des orleanistischen Königtums.

Für das Kleinbürgertum erwies sich die Dritte Republik als der klassische Nährboden, indem sie durch die Staatsschuldenwirtschaft wie den unaufhörlich wachsenden Bürokratismus ein enormes Heer von kleinen Staatsrentnern und Staatsbeamten schuf, die mit ihrer ganzen Existenz an dem ruhigen Bestand der Republik hängen.

Aber auch seinen alten und verbissensten Feinden, dem Grundbesitz, dem kleinen wie noch mehr dem großen, hat das republikanische Füllhorn goldene Gaben in den Schoß geworfen.

War das Bauerntum in einem seiner Teile schon zur Zeit des Staatsstreichs des zweiten Napoleon fortgeschritten genug, durch eine Reihe von grausam unterdrückten Aufständen dem Monarchismus die Treue zu kündigen, so hat es nunmehr ausgiebige Gelegenheit bekommen, in noch höherem Masse seine Vorstellungen von der Republik zu revidieren. Eine ganze Reihe von wichtigen Maßnahmen, die gerade am meisten dem wohlhabenden Bauerntum, der alten Stütze des Bonapartismus, zugute kommen, sind in den beiden letzten Jahrzehnten durchgeführt worden. Die Steuerreduktionen, betreffend den Grund und Boden, belaufen sich bloß seit dem Jahre 1897 auf 25 Millionen Francs, die Steuerlast des Grundbesitzes im ganzen ist trotz der starken Vergrößerung des Reineinkommens seit 1851 absolut zirka um ein Sechstel zurückgegangen! Das System der Schutzzölle, speziell auf Vieh und Getreide, ist vor allem auf die Bereicherung des Grundbesitzes berechnet. Es kommen noch Aufwendungen von Hunderten von Millionen Francs zu Ameliorationszwecken, zum Bau von Vizinalstrassen, ferner Verbilligungen der Frachten für Bodenprodukte, Zuckerprämien usw. hinzu.

Endlich der fast gänzliche Stillstand der effektiven Sozialreform und die Verlegung des ganzen Schwerpunktes der Staatseinnahmen auf indirekte Steuern – von 1869 bis 1897 sind die Einnahmen aus Zöllen um 183 Prozent, aus dem Tabakmonopol um 49 Prozent, aus den Getränken um 84 Prozent gestiegen, bei fast völligem Stillstand der Bevölkerung! All dies beweist, daß die Dritte Republik für alle besitzenden Klassen sehr handgreifliche materielle Vorzüge aufzuweisen hat, deren Kosten am schwersten auf der einzigen nichtbesitzenden Klasse, dem Proletariat, lasten.

Zu dem Aufgezählten bleibt noch übrig hinzuzufügen, daß wie in der inneren, so auch in der auswärtigen Politik die Republik das Zeugnis ihrer Anpassungsfähigkeit in glänzender Weise abgelegt, indem sie sich durch das Bündnis mit dem Zarenreich das Oberhaupt der europäischen Reaktion, ihrer alten Feindin, zum wohlwollenden Gönner und Alliierten gemacht hat.

Die letzten dreißig Jahre sind also nicht umsonst ins Land gegangen. Die Dritte Republik hat ihren sozialen Inhalt entwickelt, und sie hat sich für Frankreich aus dem gefürchteten Gespenst der revolutionären Umstürze in die normale Daseinsform der bürgerlichen Gesellschaft verwandelt.

Heute hat die Republik hinter sich das Gros der Bourgeoisie, „die Satten“, weite Kreise des Kleinbürgertums, sie hat das Mißtrauen ihres früheren Hauptgegners entwaffnet, des Bauerntums, für das sie sich als eine liebevolle Mutter erwiesen hat. Und auch diejenige Klasse, die sie wie ein Stiefkind behandelte und die ihr trotzdem in alter Treue zugetan bleibt, die Arbeiterklasse, steht heute ganz anders da als zur Zeit des ersten und des zweiten Staatsstreichs. Politisch geschult, aufgeklärt, organisiert, wenn auch in Fraktionen gespalten, stellt das heutige sozialistische Proletariat Frankreichs, dessen Partei bei der letzten Kammerwahl fast eine Million Stimmen auf sich vereinigt hat, eine feste und achtunggebietende Schutzwehr der Republik dar.

Es ist klar, daß in dem so beschaffenen Milieu der Monarchismus zu einer ganz anderen Rolle reduziert ist als der ehemals von ihm gespielten. Das nationalistische Lager in der Dreyfus-Kampagne, das man sich unter dem Einfluß der Kampflosungen der Tagespolitik gewöhnt hat als das Hauptquartier des Staatsstreichs ebenso wie jeden Reaktionär à la Méline, Barthou oder Ribot ohne weiteres als Monarchisten zu betrachten, stellte bei etwas näherem und ruhigerem Zusehen nichts weniger als ein innerlich geschlossenes Ganzes von homogener politischer Beschaffenheit dar. Umgekehrt war dieses Lager vielmehr ein Sammelsurium mannigfaltiger Elemente mit verschiedenartigsten Bestrebungen und Interessen.

Wir sehen hier im Zentrum das kompromittierte hohe Militär, den Generalstab mit seinem Anhang, die zwar, in der Befürchtung, von der republikanischen Zivilgewalt zur Rechenschaft gezogen zu werden, naturgemäß zur Auflehnung gegen diese Gewalt getrieben wurden, im Grunde genommen aber kein begründetes Interesse an der Wiederherstellung der Monarchie haben konnten. Im Gegenteil, erst die Dritte Republik hat die Armee durch allerlei Reformen und Privilegien und durch den wahnsinnigen chauvinistischen Kultus zu jenem Abgott gemacht, der sie nie vorher war. Und die Dreyfus-Affäre hat ja am besten gezeigt, daß das hohe Militär in der Republik ein von seinem Standpunkt geradezu paradiesisches Dasein führte. Man kann ruhig behaupten, daß eine Willkür und Selbstherrlichkeit der militärischen Chefs, wie sie unter den Fittichen der opportunistischen Republik gediehen ist, unter einem monarchischen Regime nicht so leicht denkbar wäre. Eine Sehnsucht nach den straffen Zügeln der Monarchie konnte das Militär selbst also unmöglich im Ernste verspüren. Seine antirepublikanische Haltung ergab sich hier bloß als eine naturgemäße Form der Notwehr von Gaunern, die von der Republik ertappt und entlarvt worden waren.

Wir sehen hier ferner den Klerus, der zwar seit jeher in der Republik auf dem Quivive lebt und nur auf eine Gelegenheit wartet, um sie zu erdrosseln, der zweifellos einen enormen Einfluß auf die öffentliche Meinung ausübt, der aber, selbst aktionsunfähig, nur durch andere wirken, nur den Regisseur und Souffleur, nicht den Schauspieler abgeben kann.

Wir finden in dritter Linie, daß in Frankreich, dem Lande des Kleingewerbes und des Finanzjudentums, naturgemäß stark entwickelte antisemitische Kleinbürgertum, das, der Agitation gegen die „Dreyfusards“ wie jeder reaktionären Strömung zugänglich, für die nationalistische Demagogie den günstigsten Boden abgab, an sich aber nicht dem cäsaristischen Staatsstreich zu huldigen brauchte noch auch tatsächlich huldigte.

Wir treffen hier endlich auch echte Monarchisten; Vertreter der Bauernschaft in den zurückgebliebensten Gegenden Frankreichs, Aristokraten, die in ruhigen Zeiten durch den Gang der Dinge in der Dritten Republik gezwungen wurden, mit ihr zum großen Teile als Ralliierte offen Frieden zu schließen oder sich wenigstens stillschweigend in die Lage zu fügen, und die nun, durch den Trubel der Krise ermuntert, an der politischen Oberfläche erschienen, ferner ihr Gefolge von royalistischen Klienten, Journalisten und Literaten.

Das sich diese in sich schwachen und ohnmächtigen Elemente Hand in Hand mit dem Pfaffentum sofort um die bedrängten Generale gruppierten, um sie als den Sturmbock vorwärtszudrängen und die Krise zu eigenen Zwecken auszunutzen, daß dieser Umstand zusammen mit der rebellischen Haltung des kompromittierten Generalstabs dem ganzen Lager einen cäsaristischen Anstrich geben mußte, ist selbstverständlich. Diese von außen hineingetragenen monarchistischen Tendenzen fanden aber materiell gar keinen Anknüpfungspunkt vor. Nicht nur war in keiner der Gesellschaftsklassen eine ernste Bewegung nach dieser Richtung, nicht einmal ein äußerer Mittelpunkt, ein irgendwie ernst zu nehmender Thronprätendant, war vorhanden. Der eine, ein Oberstleutnant der russischen Armee, der in einer Provinzstadt des Zarenreichs sein obskures Garnisonsdasein führt und als einzigen Legitimationstitel sich nicht mehr auf Austerlitz und Jena, sondern auf Sedan und Metz berufen kann. Der andere, eine sich im Ausland herumtreibende Null, deren Anhang, ein paar Hundert verschimmelte Männlein und Weiblein, ihre ganze „Agitation“ darin erschöpfen, daß sie sich alljährlich – wie neulich wieder – zu einem Bankett versammeln, wo sie ihren Hoffnungen auf den „Gang der Entwicklung“ in traditionellen Reden Ausdruck geben.

Worin sich unter solchen Umständen die vereinigte Aktion erschöpfen mußte, das war die Erregung eines Deliriums des nationalen Chauvinismus, eine antisemitische Hatz und eine alles Frühere übertreffende Verherrlichung der Armee. Zu einer ernsten politischen Tat, zum Umsturz der Republik fehlte so ziemlich alles: der innere Zusammenhalt, eine Organisation, ein Aktionsprogramm und vor allem die gesamte innere Entwicklung der sozialen Verhältnisse, die die Monarchie, wie in den früheren Fällen, in ihrem Schoße als fertige Frucht getragen hatte, um von ihr durch den Staatsstreich nur entbunden zu werden. Die Dreyfus-Affäre konnte alle die aufgezählten Elemente aufwirbeln, den Boden für eine monarchistische Agitation aufwühlen, den Moment zur Ausführung eines Staatsstreichs schaffen – sie konnte nicht die positiven Triebkräfte des Umsturzes ersetzen, die nicht vorhanden waren. Der Monarchismus war hier der teilweise äußere Anstrich, nicht der Inhalt der Krise.

Dieser lagen ganz andere Ursachen zugrunde. Die Dritte Republik hat sich zur vollendeten Form der politischen Herrschaft der Bourgeoisie ausgebildet. zugleich aber ihre inneren Widersprüche entfaltet. Einer dieser fundamentalen Widersprüche ist der zwischen einer auf der Herrschaft des bürgerlichen Parlaments basierten Republik und einer großen, auf Kolonial- und Weltpolitik zugeschnittenen ständigen Armee. In einer starken Monarchie naturgemäß bloß zu einem gehorsamen Werkzeug in den Händen der Exekutivgewalt reduziert, hat die Armee mit ihrem ausgesprochenen Kastengeist in einer parlamentarischen Republik mit einem alle Augenblick wechselnden Regierungszentrum aus Zivilisten, mit einem wählbaren Staatsoberhaupt, dessen Amt einem jeden aus der „Bürgerkanaille“, ob gewesenem Gerbergesellen oder redegewandtem Advokaten, zugänglich ist, naturgemäß die Tendenz, zu einer unabhängigen, mit dem Staatsganzen nur lose zusammenhängenden Macht zu werden.

Die soziale Entwicklung in Frankreich, welche die Kultur der Interessenpolitik des Bürgertums so weit getrieben hat, daß sie es in Einzelgruppen zerfallen ließ, die, ohne Gefühl der Verantwortlichkeit für das Ganze, Regierung und Parlament zum Spielzeug ihres Eigennutzes gemacht haben, dieselbe Entwicklung hat auf der anderen Seite die Verselbständigung der Armee aus einem Werkzeug des Staatsinteresses zu einer Interessengruppe für sich erzeugt, die ihre Vorteile ungeachtet der Republik, trotz der Republik und gegen die Republik zu verteidigen bereit ist.

Der Widerspruch zwischen der parlamentarischen Republik und der ständigen Armee kann nur in der Auflösung der Armee in der Zivilgesellschaft und in der Organisierung der Zivilgesellschaft zur Armee, in der Ummodelung der Wehrkraft aus einem Werkzeug der Eroberung und der Kolonialherrschaft zu einem Werkzeug der nationalen Verteidigung, kurz, in der Ersetzung des stehenden Heeres durch ein Milizheer seine Lösung finden. Solange diese nicht herbeigeführt ist, macht sich der innere Widerspruch in periodischen Krisen, in Zusammenstößen der Republik mit ihrer eigenen Armee Luft, in denen die handgreiflichen Ergebnisse der Verselbständigung der Armee, ihre Korruption und Disziplinlosigkeit, an den Tag treten. Die Wilson-, Panama- und Südbahnaffäre mußten ihr Korrelat in der Dreyfus-Affäre finden.

Der Auflehnung der hohen Militärs lag somit die Bestrebung zugrunde, ihre Selbständigkeit der republikanischen Zivilgewalt gegenüber zu behaupten und nicht diese Selbständigkeit an eine Monarchie vollständig zu verlieren.

Aus der geschilderten Sachlage ergab sich naturgemäß der possenhafte Charakter der angeblich monarchistischen Aktion. Ein wütender Federkrieg in der Presse, ein ohrenbetäubender Lärm der antisemitischen Rowdies, Zusammenrottungen und Beifallsgewieher vor den Redaktionen nationalistischer und Geklirr eingeworfener Fensterscheiben in den Redaktionen dreyfusfreundlicher Blätter, Belästigung unbeteiligter Passanten, die luftverpestende Verschanzung Guérins in der Rue Chabrol [6], endlich ein Prügelattentat der goldenen Jugend auf den Präsidenten [7] beim Pferderennen, aber inmitten dieser mit Elektrizität geladenen, nervenerregenden Atmosphäre – nicht eine einzige ernste politische Handlung zur Verwirklichung des Staatsstreichs. Den Kulminationspunkt der Gärung bildete der große historische Moment, wo der überspannte Hanswurst Déroulède dem an der Spitze seiner Mannschaften in die Kaserne einrückenden General Roget in die Zügel fiel, um ihn in emphatischer Pose gegen das Präsidentenpalais im Elysée zu richten [8], ohne selbst die geringste Ahnung zu haben, was Roget denn im Elysée ausrichten und was aus dem ganzen Abenteuer eigentlich herausspringen sollte. Der Gauner im Militärrock war denn auch klüger als der Narr im Zivil, und ein Streich mit dem Degen auf die Finger Déroulèdes war die Antwort auf den „beau geste“ des Antisemitenhäuptlings. So endete der einzige Versuch des monarchistischen Staatsstreichs.

Aus der obigen kurzen Darstellung folgt, daß die Verhältnisse beträchtlich anders lagen, als sie an der Oberfläche aussehen mochten. Hier wie sonst hing das Schicksal der Republik nicht von einzelnen „Rettern“ – zumal im Ministersessel – ab, sondern von dem ganzen inneren Zusammenhang der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse des Landes. Das mitten im Gewühl des Tageskampfes, wo eine Untersuchung des sozialen Hintergrundes der Erscheinungen sehr schwierig, für die Beteiligten fast unmöglich ist, wo naturgemäß die Ereignisse und die Tatsachen übertriebene Dimensionen annahmen, die Gefahr des Staatsstreichs in Frankreich ernst und groß erscheinen konnte, ist leicht begreiflich. Und selbstverständlich war eine energische Aktion der Republikaner im Parlament wie noch mehr außerhalb desselben dringend geboten, um den nationalistischen Pöbel und die Generalstäbler im Zaume zu halten.

Aber heute, nach dem Abschluß der Krise und aus der Ferne dieselbe Auffassung des Tageskampfes nachbeten und in allem Ernst das Ministerium Waldeck-Rousseau und namentlich Millerand als den wahren „Retter“ der französischen Republik feiern ist nichts anderes denn eine Probe des Vulgärhistorismus, der, ein Gegenstück zur Vulgärökonomie, die Geschehnisse, so wie sie sich an der Oberfläche des politischen Lebens darstellen, als das Werk der Minister und anderer „Hauptleute“ der Geschichte statt in ihrem wahren inneren Zusammenhang auffaßt. Millerands Rettung der Republik ist genau so ernst zu nehmen wie die monarchistische Gefahr, die ihr von Déroulède und von Guérin drohte.

In der Tat, sollte die Verteidigung der Republik von der Aktion des Kabinetts Waldeck-Rousseau abhängen, so wäre sie längst zugrunde gegangen. Der Posse des monarchistischen Umsturzes entspricht die Posse der republikanischen Verteidigung.

Selten ist eine Regierung in einem ernsteren Moment ans Ruder gekommen, und selten hat man auf eine Regierung größere Hoffnungen gesetzt. War auch die monarchistische Gefahr mehr ein Schreckgespenst denn Wirklichkeit, so war nicht minder ernst als jene eingebildete die wirkliche Gefahr, die Frankreich drohte, nämlich die Möglichkeit, daß die Republik in dem Guerillakrieg mit den Elementen der Anarchie, den unbotmäßigen Armeehäuptern und den die Auflehnung schürenden Pfaffen, ihre Ohnmacht zeigte, damit also die Wiederholung ähnlicher Krisen in der Zukunft unvermeidlich machte.

Die Augen der ganzen zivilisierten Welt waren auf Frankreich gerichtet. Es galt, seine Lebensfähigkeit als ein geordnetes Staatswesen zu beweisen. Es galt zu zeigen, daß das bürgerliche Frankreich noch so viel Kraft besitzt, die Zersetzungselemente, die es produziert, selbst auszuscheiden und zu neutralisieren.

Die zu ergreifenden Maßnahmen waren durch die Situation selbst diktiert. Wenn die Armee sich zu einem selbständigen Körper ausgewachsen hatte und sich gegen den Organismus der Republik richtete, so galt es, an ihre Selbständigkeit die Axt zu legen und durch Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit wie auch durch Kürzung der Dienstzeit ihre Annäherung an die Zivilgesellschaft herbeizuführen. Wenn die Pfaffheit die rebellischen Tendenzen des Militärs unterstützte und gegen die Republik hetzte, so galt es, ihre Macht zu vernichten durch Auflösung der Kongregationen, Konfiskation ihres Vermögens und Trennung der Schule von der Kirche wie der Kirche vom Staate.

Und vor allem, wenn die Korruption in der Armee und der eklatante Justizmord sowie sein Rattenschwanz von Lügen, Fälschungen, Meineiden und anderen Verbrechen das Ansehen Frankreichs im Innern und nach außen vollständig erschüttert hatten, so galt es, durch eine exemplarische Bestrafung der Schuldigen, Freisprechung des unschuldig Verurteilten und Verbreitung voller Klarheit der republikanischen Justiz wieder Achtung und Autorität zu verschaffen.

Das Ministerium steht schon neunzehn Monate am Ruder, es hat die durchschnittliche Lebensdauer einer französischen Regierung, die fatalen neun Monate, zweimal überdauert. Worin bestehen seine Werke, was hat es geleistet?

Wenn man sich einen eklatanten Widerspruch zwischen Mittel und Zweck, zwischen Aufgabe und Ausführung, zwischen vorbereitender Reklame und dem folgenden Schauspiel vorstellen kann, so ist es der zwischen den Erwartungen, die man auf Waldeck-Rousseau gesetzt, und dem, was er gehalten.

Von der ganzen Reform der Militärjustiz haben wir bis jetzt ein Versprechen des Kriegsministers, in das Verfahren der Kriegsgerichte – die „mildernden Umstände“ einzuführen. Von der ganzen „Demokratisierung“ der Armee – eine Verfügung über die von den Offizieren zu lesenden Zeitungen. Der Sozialist Pastre beantragt in der Kammersitzung vom 27. Dezember vorigen Jahres die Einführung der zweijährigen Dienstzeit, der General André antwortet, er, der radikale Minister der republikanischen Verteidigung. könne zu dieser in dem halbabsolutistischen Deutschland durchgeführten Reform keine Stellung nehmen. Der Sozialist Dejeante fordert in derselben Sitzung die Beseitigung der Pfaffen von den Militärschulen, Ersetzung des geistlichen Personals in den Militärhospitälern durch ein weltliches, Abschaffung der Kultusausgaben der Armee – der Minister der republikanischen Verteidigung, der die Armee verweltlichen sollte, antwortet mit einer schroffen Ablehnung der Anträge und mit einer Glorifikation der Armeegeistlichkeit unter stürmischem Beifall der Nationalisten. Die Sozialisten denunzieren in der Kammer (Februar 1900) eine Reihe eklatanter Mißbräuche in der Armee – die Regierung weist jede parlamentarische Untersuchung darüber zurück. Der Radikale Vigné d’Octon macht in der Kammer (Sitzung vom 7. Dezember vorigen Jahres) grauenerregende Enthüllungen über das Regime des französischen Militärs in den Kolonien, auf Madagaskar und in Indochina – die Regierung lehnt die parlamentarische Enquete als „gefährlich und zwecklos“ ab. Nach alledem besteigt der Kriegsminister die Kammertribüne, um von seiner heldenmütigen Verteidigung – eines Dragoneroffiziers zu erzählen, der von seinen Kollegen boykottiert wurde, weil er eine geschiedene Frau geheiratet hat.

Folgt der titanische Kampf mit dem Drachen – Geistlichkeit. Wie ein roter Faden zieht sich der Krieg mit dem Pfaffentum durch die Geschichte Frankreichs im letzten Jahrhundert. Die Dritte Republik allein hat 33 Projekte antiklerikaler Gesetze gezeitigt. Alle bisherigen Maßnahmen haben sich ohnmächtig erwiesen, weil sie nicht die Kirche im ganzen, sondern bloß einen vom Ganzen untrennbaren Teil, die Ordensgeistlichkeit, treffen und auch diese nicht durch gänzliches Verbot, sondern durch Aufzwingung der gesetzlichen Autorisation dem Staate unterwerfen wollten. Trotz aller gesetzlichen Klauseln haben die Kongregationen unter der Dritten Republik ihre Mitgliedschaft auf 200.000 erhöht und ihr Vermögen verdreifacht. Nun kommt der Axthieb der „Regierung der republikanischen Verteidigung“: Der Entwurf Waldeck-Rousseau richtet sich wieder nach alten Mustern einzig und allein gegen nichtautorisierte Orden, und zu ihrer Einschränkung wird eine gesetzliche Norm geschaffen, in der die Mönchsorden mit öffentlichen Vereinen unter einen Hut gesteckt werden und deren Anwendung gegen die Pfaffen dem guten und gegen die Sozialisten dem bösen Willen der künftigen Ministerien überlassen wird. Die autorisierten Orden mit ihren nahezu 400 Millionen Francs Vermögen, die staatlich subventionierte Weltgeistlichkeit mit ihren 87 Bischöfen, 87 Seminaren, 42.000 Pfarrern, das Kultusbudget von ca. 40 Millionen werden der Republik nach wie vor erhalten. Die Hauptmacht der Geistlichkeit liegt in ihrem Einfluß auf die Erziehung, zwei Millionen französische Kinder werden gegenwärtig in den geistlichen Schulen vergiftet und zu Feinden der Republik erzogen. Die Regierung rafft sich zusammen und verbietet den Unterricht – von nichtautorisierten Orden. Fast der gesamte geistliche Unterricht liegt aber just in den Händen der autorisierten, und durch die radikale Reform werden von den nahezu zwei Millionen ganze fünfzehntausend Kinder dem Weihwedel entzogen. Die Kapitulation der Regierung vor der Kirche wird mit einer Huldigungsrede Waldeck-Rousseaus an die Adresse des Papstes eingeleitet und durch ein von den Nationalisten angebotenes Vertrauensvotum besiegelt.

Den Kulminationspunkt der republikanischen Verteidigung des Ministeriums bildet endlich das Amnestiegesetz vom Dezember vorigen Jahres. Zwei Jahre lang verzehrte sich Frankreich in dem Verlangen nach Wahrheit, Licht und Gerechtigkeit. Zwei Jahre lastete auf seinem Gewissen die böse Tat eines ungesühnten Justizmordes. Die Gesellschaft erstickte schier in der verpesteten Atmosphäre der Lügen, Meineide und Fälschungen.

Und endlich war die Regierung der republikanischen Verteidigung gekommen. Alle Welt hielt den Atem zurück. „Die große Sonne der Gerechtigkeit“ sollte aufgehen.

Und sie ging auf. Am 19. Dezember läßt die Regierung von der Kammer ein Gesetz votieren, wonach sie allen Verbrechern die Straflosigkeit garantiert, allen Opfern die rechtliche Genugtuung verweigert, alle angefangenen Prozesse erstickt. Diejenigen, die gestern als die gefährlichsten Feinde der Republik erklärt waren, werden heute wieder als verlorene Söhne liebevoll in ihren Schoß aufgenommen. Um die Republik zu verteidigen, wird sämtlichen Angreifern der Republik ein Generalpardon gegeben, um die republikanische Justiz zu rehabilitieren, wird den Opfern des Justizmordes die Rehabilitierung abgeschnitten.

Der kleinbürgerliche Radikalismus ist sich treu geblieben. Der Radikale Bourgeois, im Jahre 1893 im Kabinett Ribot zur Liquidation des Panamaskandals berufen, ließ, da die Republik in Gefahr erklärt wurde, alle angeklagten Parlamentarier außer Verfolgung setzen und die ganze Affäre im Sande verlaufen. Waldeck-Rousseau, der Syndikus der Dreyfus-Affäre, löst, um der monarchistischen Gefahr den Riegel vorzuschieben, die Affäre in einem vollständigen Fiasko auf. Das Schema bleibt das alte:

Die schmetternde Ouvertüre, die den Kampf verkündete, verliert sich in ein kleinlautes Knurren, sobald er beginnen soll, die Schauspieler hören auf, sich au serieux [=ernst] zu nehmen, und die Handlung fällt platt zusammen wie ein luftgefüllter Ballon, den man mit einer Nadel piekt.

Und um diese grotesk-winzige, vom Standpunkt nicht des Sozialismus, nicht einer halbwegs lebensfähigen radikalen Partei, nein, vom Standpunkt der republikanischen Maßnahmen der Opportunisten in den achtziger Jahren, der Gambetta, Jules Ferry, Constans, Tirard, lächerliche Aktion in die Welt zu setzen, dazu soll der Anteil eines Sozialisten, soll die Vertretung der ganzen Tatkraft der Arbeiterklasse in der Regierung unentbehrlich gewesen sein?

Der Opportunist Gambetta mit seinen gemäßigten Republikanern forderte 1879 die Verjagung aller Monarchisten vom Staatsdienst und jagte mit dieser Forderung Mac-Mahon vom Präsidentenstuhl weg, 1880 setzten dieselben „honetten“ Republikaner die Ausweisung der Jesuiten, den unentgeltlichen Unterricht und den Schulzwang durch. Der Opportunist Jules Ferry vertrieb 1883 durch seine Gerichtsreform sechshundert monarchistische Richter von ihrem Amte und versetzte den Pfaffen durch das Ehescheidungsgesetz einen harten Schlag. Die Opportunisten Constans und Tirard reduzierten, um dem Boulangismus den Boden zu entziehen, die militärische Dienstzeit von fünf auf drei Jahre.

Und damit das radikale Ministerium Waldeck-Rousseau hinter allen diesen allerbescheidensten republikanischen Maßnahmen der Opportunisten zurückbleibt, damit es nach einer Reihe von Scheinmanövern im Laufe von neunzehn Monaten nichts, aber auch gar nichts unternimmt, nicht die geringste Reorganisation der Militärjustiz, nicht die allermindeste Herabsetzung der Dienstzeit, nicht einen einzigen entschiedenen Schritt gegen die Monarchisten in der Armee, der Justiz und der Verwaltung, nicht eine durchgreifende Maßnahme gegen die Klerisei, damit es – immer in der Pose der Unerschrockenheit, Unbeugsamkeit und Unentwegtheit, der klassischen Pose des Kleinbürgers auf der Höhe seiner politischen Schmach – schließlich nach langem Drum und Dran erklärt, die Republik sei nicht imstande, mit der militärischen Gaunerbande fertig zu werden, und es sei notwendig, diese einfach laufen zu lassen – dazu war die Mitarbeit eines Sozialisten im Ministerium erforderlich?!

Es ist behauptet worden, Millerand sei persönlich zur Bildung des Kabinetts Waldeck-Rousseau unentbehrlich gewesen, weil sonst das Zustandekommen des Ministeriums überhaupt in Frage gestellt war. Soviel man weiß, leidet Frankreich nicht Mangel an portefeuillelustigen Männern, und hat Waldeck-Rousseau in der rebellischen Armee zwei brauchbare Generale für das Kriegsministerium gefunden, so stand ihm in seiner eigenen Partei sicher ein halbes Dutzend Handelsminister zur Verfügung. Nachdem man aber erst die Taten des Kabinetts kennengelernt hat, ums man jedenfalls sagen: Waldeck-Rousseau konnte ruhig einen jeden beliebigen Radikalen zum Mitarbeiter nehmen – diese Spottgeburt der Verteidigungsaktion wäre sicher darum nicht um ein Haar schlimmer geraten. Die Radikalen haben es bis jetzt stets verstanden, ganz allein, ohne fremde Hilfe, sich gründlich zu kompromittieren.

Wir haben gesehen, die monarchistische Gefahr, die man im Laufe der Dreyfus-Krise wahrzunehmen glaubte, war mehr Phantom als Wirklichkeit. Und daraus erklärt es sich auch genügend, daß die „Verteidigung“ Waldeck-Millerands die Republik noch nicht dem Staatsstreich ausgeliefert hat. Diejenigen aber, die heute noch mit derselben Überzeugung von der monarchistischen Gefahr reden wie vor zwei Jahren und mit dieser Gefahr den Schritt Millerands nach wie vor begründen, treiben da ein gefährliches Spiel. Je ernster man die Situation schildert, desto kläglicher erscheint die Aktion des Ministeriums, desto fraglicher die Rolle des Sozialisten in diesem Ministerium.

War die monarchistische Gefahr, wie wir es darzutun suchten, gering, dann ist die großspurig eingeleitete und mit einem Fiasko beendete Rettungsaktion der Regierung eine Lächerlichkeit. War dagegen diese Gefahr groß und ernst, dann ist die Scheinaktion des Kabinetts ein Verrat an der Republik und an den ihm vertrauenden Parteien.

Und in beiden Fällen hat die Arbeiterklasse durch die Ministerschaft Millerands nicht die „large part de responsabilité“, nicht den weitgehenden Anteil an der republikanischen Verantwortlichkeit, den Jaurès und seine Freunde so stolz beanspruchten, sondern einen Anteil an der eklatanten „republikanischen“ Blamage des kleinbürgerlichen Radikalismus eingeheimst.

Anmerkungen

1. In Februar 1900 war auf der Insel Martinique Militär gegen Landarbeiter, die wegen Lohnkürzungen streikten, eingesetzt worden. Dabei waren 9 Streikende getötet und 14 verletzt worden.

2. Im Juni 1900 waren bei einem Streik in Chalon-sur-Saône drei Arbeiter getötet und zahlreiche andere verletzt worden, als Militär gegen die Streikenden eingesetzt wurde.

3. Am 19. Dezember 1900 hatte die französische Kammer ein Amnestiegesetz angenommen, wonach alle politischen Verurteilungen der letzten Jahre mit einigen Ausnahmen aufgehoben werden sollten. Außerdem sollten alle strafbaren Handlungen, die sich an die Dreyfus-Affäre knüpften, als nicht geschehen erklärt werden.

4. Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten von Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.

5. Im Januar und Oktober 1895 hatte die Aufdeckung einer großangelegten Fälschung der Marseiller Südbahngesellschaft in Frankreich Regierungskrisen ausgelöst. Die Gesellschaft hatte die zwischen ihr und dem Staat vertraglich festgelegten Konzessionen zum Bau von Eisenbahnlinien mißbraucht und riesige Gewinne erzielt.

6. Nach Eröffnung der Revision des Dreyfus-Prozesses waren am 12. August 1899 eine Anzahl Gegner dieser Revision verhaftet worden. Während dieser Aktion hatte sich der Führer der Antisemiten, Guérin, in einem Haus der Rue Chabrol in Paris verschanzt, um der Verhaftung zu entgehen. Da er gedroht hatte, bei gewaltsamem Eindringen das Feuer zu eröffnen, blockierte die Regierung das Haus und hungerte ihn aus. Am 19. September 1899 war Guérin gezwungen, sich zu ergeben. Am 4. Januar 1900 wurde er vom Staatsgerichtshof zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt.

7. Am 4. Juni 1899 waren in Auteuil bei Paris einige Monarchisten aus Protest gegen die Revision des Dreyfus-Prozesses tätlich gegen den französischen Präsidenten vorgegangen.

8. Paul Déroulède, ein führender Vertreter des französischen Chauvinismus, hatte am 23. Februar 1899 im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre General Roget aufgefordert einen militärischen Staatsstreich durchzuführen. Déroulède wurde verhaftet und am 4. Januar 1900 zu 10 Jahren Verbannung verurteilt.


Zuletzt aktualisiert am 11.1.2012