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Leipziger Volkszeitung, Nr. 73, 29. März 1900.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1, 2. Hbd., S. 700–703.
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Die Protestkundgebung gegen das Fleischschaugesetz [1*], zu der sich die industriellen und kaufmännischen Kreise aufgerafft haben, entlockt den Agrariern ergötzliche Drohungen. Es war freilich kein Geheimnis auch ohnedies, daß das ganze schutzzöllnerische System [2*], das Ende der siebziger Jahre über Deutschland herein gebrochen ist, nichts als ein auf gegenseitigen Dienstleistungen beruhendes Kartell der Agrarier und der Großindustriellen zur solidarischen Aushungerung der breiten Volksmassen darstellt.
Solange kein solches Kartell bestand, das heißt solange die Agrarier in einem solchen keinen Nutzen für sich erblickten, erfreute sich Deutschland einer Ära des Freihandels, trotzdem die Eisenindustriellen im Nordwesten und die Baumwollindustriellen im Süden seit Jahrzehnten schutzzöllnerische Appetite hatten. Ende 1878 gelang es aber Bismarck, die beiden edlen Brüder, den notleidenden Agrarier und den notleidenden Schlotjunker, zusammenzuführen, und seitdem begann auch für das Volk die Not der systematischen Schröpfung auf beiden Seiten.
Nun wird aber dem industriellen Teilhaber der Firma zur solidarischen Auspowerung des Volkes das Geschäft etwas unvorteilhaft. Er sieht bei dem Fleischschaugesetz, daß er bei der Teilung der Beute zu kurz kommt und durch den Bruder Agrarier übers Ohr gehauen wird. Er wird bockbeinig, er schreit: Das ist wider die Abrede, Bruder Notleidender, vergiß nicht, daß das Kartell auf Gegenseitigkeit beruht.
Ziehst du zu stark an deinem Strange, so komme ich zu kurz, und rupfst du die Beute ganz allein, so bleibt für mich nicht viel übrig!
Der Bruder Agrarier ist aber nicht so leicht zu verblüffen. Was, ruft er empört dem Schlotjunker zu, du scheinst zu vergessen, daß das ganze Unternehmen auf meinem Willen ruht; wenn du überhaupt an der Beute mitrupfen darfst, so verdankst du es nur mir. Und reize mich ;a nicht, sonst ... könnte mir das ganze Geschäft verleidet werden, und ich kehre eines schönen Morgens zum Freihandel zurück! ...
Man lese nur die agrarischen Blätter, beispielsweise die Kreuz-Zeitung, wie sie tagtäglich planmäßig die Drohung wiederholen!
„Stellen die Industriellen sich“, schrieb sie neulich, „unter Hintansetzung des nationalen Gesichtspunktes, wonach ein wirksamer Schutz der Produktivgewerbe auf gemeinsamer Basis notwendig ist, auf den einseitigen Standpunkt ihrer Interessen, überlassen sie den Konservativen nur das Odium für die ‚verteuernden‘ Schutzzölle und protestieren sie gemeinsam mit Freihändlern und Sozialdemokraten gegen alles, aus dem etwa ein kleiner Vorteil für die Landwirtschaft herausschauen könnte, so werden sie sich schließlich nicht wundern dürfen, wenn die Agrarier aus allen Lagern auch einmal ihren wirtschaftlichen Standpunkt revidieren und sich die Frage vorlegen, ob – unter einseitiger Betrachtung der rein materiellen Seite dieser Sache – die Rückkehr zum reinen Freihandel nicht für die Landwirtschaft vorteilhafter wäre als ein Schutzzoll, der ausschließlich auf die industriellen Interessen zugeschnitten ist. Uns steht, was wir besonders betonen wollen, selbstverständlich der nationale Gesichtspunkt, die gleichmäßige Berücksichtigung aller Produktivzweige in erster Linie; aber man spiele nicht mit dem Feuer und mißachte nicht die Interessensolidarität, wo es sich vielleicht um die Gewinnung kleiner Vorteile für die Landwirtschaft handelt.
Die National-Zeitung meint zwar, der Freihandel sei, „praktisch betrachtet“, heutzutage ein ‚Gespenst‘. Wenn aber die Konservativen sich zu diesem ‚Gespenst‘ bekennen würden, so würde es gar bald Fleisch und Bein annehmen.“
Und bald darauf rief in demselben Blatt mit echt ostelbischer Offenherzigkeit Herr von Bentzheim:
„Wir müssen uns jetzt klarwerden, daß – wenn die Industrie nicht einsehen will, was Lebensbedingung ist für die Landwirtschaft – wir auch nie mehr zu haben sein dürften für die hohen Dividenden und den hohen Schutz zugunsten einer – an und für sich erfreulichen – Blüte der Industrie. Wenn nicht – dann Freihandel allewege, auch wenn’s ein nationaler Unsinn ist.“
Wir bitten die Herren Konservativen sehr um Verzeihung, aber dieser heldenhafte Entschluß hat uns lebhaft an ein Titelbild des Simplicissimus erinnert, wo eine nicht mehr junge Dame – von denen, die von der lex Heinze [3*] ins Auge gefaßt sind – nach einer offenbar vergeblichen längeren Nachtwandlung in den Straßen erklärt: „Wenn das so weiter geht, werd' ich anständig! Aber dann gleich eklig! ...“
Wir wollen damit übrigens gar nicht sagen, daß wir an dem Ernste der agrarischen Drohungen irgendwie zweifeln. Im Gegenteil, wir wissen zu gut, daß den staatserhaltenden Gruppen nichts so ernst wie der liebe klingende Vorteil und nichts weniger ernst ist, wie die „prinzipiellen“ Phrasen, womit sie jedesmal den Vorteil zu verschleiern und zu „begründen“ suchen. Extreme Freihändler, solange es die Taschen füllt, dann extreme Schutzzöllner, wenn Schutzzoll noch besser das Geschäft besorgt, dann wieder Freihändler, sobald die Schutzzöllnerei nicht rentiert, und so fort mit Grazie. Das ist so ganz die echte Politik, Moral, Prinzip, Taktik oder wie man es nennen will, mit einem Wort: so ganz das Wesen der bürgerlichen Parteien, daß wir die ergötzlichen Drohungen der Agrarier in diesem Augenblick durchaus nicht bloß als eine Kriegslist, als einen Kniff betrachten.
Ebensowenig halten wir sie für unausführbar. Läßt doch mit Recht von Lotz in seinen „Ideen der deutschen Handelspolitik“ den von ihm beschworenen Geist Friedrich Lists sagen: „Deutschland war freihändlerisch, solange die ostelbischen Agrarier freihändlerisch waren, Deutschland ist schutzzöllnerisch, seit die Agrarier schutzzöllnerisch sind.“ Und, fügen wir hinzu, Deutschland wird wieder freihändlerisch, sobald es den Agrariern in den Kram paßt.
Freilich, die feindlichen Brüder finden sich am Ende wahrscheinlich doch – bei der gemeinsamen Futterkrippe der kapitalistischen Profite. Der Fahnenerhebung der Großindustriellen gegen ihre Vormünder im Schutzzoll und in der Reaktion ist leider nach allen bisherigen Erfahrungen nicht allzu lange Dauer und allzu große Energie zu prophezeien.
Allein, die Klugheit gebietet der Sozialdemokratie angesichts der Haltung der Agrarier, die das Fleischschaugesetz zum Prüfstein ihrer zollpolitischen Taktik machen wollen, zu tun, was sie auf alle Fälle zu tun verpflichtet ist: eine möglichst rege Volksbewegung zur Bekämpfung des Fleischschaugesetzes in Fluß zu bringen.
Durch ihren Sieg in der lex Heinze-Sache hat sich unsere Partei unzweifelhaft ein sehr großes Verdienst um die Kulturinteressen erworben. Mit der erfolgreichen Aktion in und außer dem Reichstag hat sie aber auch vollauf ihr Teil für die Sache getan, mögen nun auch die Künstler und die interessierte Intelligenz ihrerseits die von der Sozialdemokratie erkämpfte Frist zum nachdrücklichen Kampfe benutzen.
Wir unsererseits müssen sowohl in der Presse wie in der mündlichen Agitation etwas mehr den handelspolitischen Fragen die Aufmerksamkeit zuwenden. Das hierauf bis jetzt verwandte Maß von Energie steht in gar keinem Verhältnis zu der hohen Tragweite des Gegenstandes. Die Fragen des amerikanischen Büchsenfleisches und dergleichen sind freilich nicht entfernt „ideell“ wie die Frage der Kunstfreiheit, allein die Interessen der Arbeiterschaft berühren sie zum mindesten so nahe wie diese.
1*. Im Frühjahr 1900 hatten im Reichstag Debatten über das Schlachtvieh- und Fleischbeschaugesetz stattgefunden. Die Großagrarier forderten im Interesse des Profits, nicht aus gesundheitlichen Erwägungen heraus, Schutzbestimmungen für die Einfuhr von ausländischem Fleisch. Deshalb lehnten sie auch den Untersuchungszwang für Hausschlachtungen ab.
2*. Am 12. Juli 1878 waren im Reichstag ein Schutzzolltarif und ein Gesetz über finanzzölle angenommen worden, die hauptsächlich der Eisen- und Stahlindustrie sowie den Junkern zusätzliche Profite garantierten. sie führten zur teilweisen Ausschaltung der ausländischen Konkurrenz auf dem nationalen Markt sowie zur Monopolisierung der Eisenindustrie und zum Dumping auf dem internationalen Markt.
3*. Ein Prozeß gegen den Zuhälter Heinze von 1892 hatte im Jahre 1900 die Änderung und ergänzung von Strafvorschriften des Strafgesetzbuches für Sittlichkeitsverbrecher zur folge. die wichtigsten Bestimmungen, die sogenannten Theater- und Kunstparagraphen, wurden von der Sozialdemokratie zu fall gebracht, da sie eine freie Betätigung der Kunst, Literatur und Wissenschaft behindern sollten.
Zuletzt aktualisiert am 10.1.2012