MIA > Deutsch > Marxisten > Luxemburg > Sozialreform oder Revolution?
Wir haben im ersten Kapitel darzutun gesucht, daß die Bernsteinsche Theorie das sozialistische Programm vom materiellen Boden aufhebt und auf eine idealistische Basis versetzt. Dies bezieht sich auf die theoretische Begründung. Wie sieht nun aber die Theorie – in die Praxis übersetzt aus? Zunächst und formell unterscheidet sie sich gar nicht von der bisher üblichen Praxis des sozialdemokratischen Kampfes. Gewerkschaften, der Kampf um die Sozialreform und um die Demokratisierung der politischen Einrichtungen, das ist das nämliche, was auch sonst den formellen Inhalt der sozialdemokratischen Parteitätigkeit ausmacht. Der Unterschied liegt also nicht in dem Was, wohl aber in dem Wie. Wie die Dinge jetzt liegen, werden der gewerkschaftliche und der parlamentarische Kampf als Mittel aufgefaßt, das Proletariat allmählich zur Besitzergreifung der politischen Gewalt zu führen und zu erziehen. Nach der revisionistischen Auffassung sollen sie, angesichts der Unmöglichkeit und Zwecklosigkeit dieser Besitzergreifung, bloß im Hinblick auf unmittelbare Resultate, d. h. die Hebung der materiellen Lage der Arbeiter, und auf die stufenweise Einschränkung der kapitalistischen Ausbeutung und die Erweiterung der gesellschaftlichen Kontrolle geführt werden. Wenn wir von dem Zwecke der unmittelbaren Hebung der Lage der Arbeiter absehen, da er beiden Auffassungen, der bisher in der Partei üblichen, wie der revisionistischen, gemeinsam ist, so liegt der ganze Unterschied kurz gefaßt darin: nach der landläufigen Auffassung besteht die sozialistische Bedeutung des gewerkschaftlichen und politischen Kampfes darin, daß er das Proletariat, d. h. den subjektiven Faktor der sozialistischen Umwälzung zu deren Durchführung vorbereitet. Nach Bernstein besteht sie darin, daß der gewerkschaftliche und politische Kampf die kapitalistische Ausbeutung selbst stufenweise einschränken, der kapitalistischen Gesellschaft immer mehr ihren kapitalistischen Charakter nehmen und den sozialistischen aufprägen, mit einem Worte, die sozialistische Umwälzung in objektivem Sinne herbeiführen soll. Sieht man die Sache näher an, so sind beide Auffassungen sogar gerade entgegengesetzt. In der parteiüblichen Auffassung gelangt das Proletariat durch den gewerkschaftlichen und politischen Kampf zu der Überzeugung von der Unmöglichkeit, seine Lage von Grund aus durch diesen Kampf umzugestalten, und von der Unvermeidlichkeit einer endgültigen Besitzergreifung der politischen Machtmittel. In der Bernsteinschen Auffassung geht man von der Unmöglichkeit der politischen Machtergreifung als Voraussetzung aus, um durch bloßen gewerkschaftlichen und politischen Kampf die sozialistische Ordnung einzuführen.
Der sozialistische Charakter des gewerkschaftlichen und parlamentarischen Kampfes liegt also bei der Bernsteinschen Auffassung in dem Glauben an dessen stufenweise sozialisierende Einwirkung auf die kapitalistische Wirtschaft. Eine solche Einwirkung ist aber tatsächlich wie wir darzutun suchten – bloße Einbildung. Die kapitalistischen Eigentums- und Staatseinrichtungen entwickeln sich nach einer entgegengesetzten Richtung. Damit aber verliert der praktische Tageskampf der Sozialdemokratie in letzter Linie überhaupt jede Beziehung zum Sozialismus. Die große sozialistische Bedeutung des gewerkschaftlichen und politischen Kampfes besteht darin, daß sie die Erkenntnis, das Bewußtsein des Proletariats sozialisieren, es als Klasse organisieren. Indem man sie als Mittel der unmittelbaren Sozialisierung der kapitalistischen Wirtschaft auffaßt, versagen sie nicht nur diese ihnen angedichtete Wirkung, sondern büßen zugleich auch die andere Bedeutung ein: sie hören auf, Erziehungsmittel der Arbeiterklasse zur proletarischen Machtergreifung zu sein.
Es beruht deshalb auf einem gänzlichen Mißverständnis, wenn Eduard Bernstein und Konrad Schmidt sich beruhigen, das Endziel gehe der Arbeiterbewegung bei der Einschränkung des ganzen Kampfes auf Sozialreform und Gewerkschaften doch nicht verloren, weil jeder Schritt auf dieser Bahn über sich hinausführe und das sozialistische Ziel so der Bewegung selbst als Tendenz innewohne. Dies ist allerdings in vollem Maße bei der jetzigen Taktik der deutschen Sozialdemokratie der Fall, d. h. wenn die bewußte und feste Bestrebung zur Eroberung der politischen Macht dem gewerkschaftlichen und sozialreformerischen Kampfe als Leitstern vorausgeht. Löst man jedoch diese im voraus gegebene Bestrebung von der Bewegung ab und stellt man die Sozialreform zunächst als Selbstzweck auf, so führt sie nicht nur nicht zur Verwirklichung des sozialistischen Endzieles, sondern eher umgekehrt. Konrad Schmidt verläßt sich einfach auf die sozusagen mechanische Bewegung, die, einmal in Fluß gebracht, von selbst nicht wieder aufhören kann, und zwar auf Grund des einfachen Satzes, daß beim Essen der Appetit kommt und die Arbeiterklasse sich nie mit Reformen zufrieden geben kann, solange nicht die sozialistische Umwälzung vollendet ist. Die letzte Voraussetzung ist zwar richtig und dafür bürgt uns die Unzulänglichkeit der kapitalistischen Sozialreform selbst. Aber die daraus gezogene Folgerung könnte nur dann wahr sein, wenn sich eine ununterbrochene Kette fortlaufender und stets wachsender Sozialreformen von der heutigen Gesellschaftsordnung unmittelbar zur sozialistischen konstruieren ließe. Das ist aber eine Phantasie, die Kette bricht vielmehr nach der Natur der Dinge sehr bald ab, und die Wege, die die Bewegung von diesem Punkte an einschlagen kann, sind mannigfaltig.
Am nächsten und wahrscheinlichsten erfolgt dann eine Verschiebung in der Taktik nach der Richtung, um durch alle Mittel die praktischen Resultate des Kampfes, die Sozialreformen zu ermöglichen. Der unversöhnliche, schroffe Klassenstandpunkt, der nur im Hinblick auf eine angestrebte politische Machteroberung Sinn hat, wird immer mehr zu einem bloßen Hindernis, sobald unmittelbare praktische Erfolge den Hauptzweck bilden. Der nächste Schritt ist also eine „Kompensationspolitik“ – auf gut deutsch – eine Kuhhandelspolitik – und eine versöhnliche, staatsmännisch kluge Haltung. Die Bewegung kann aber auch nicht lange stehen bleiben. Denn da die Sozialreform einmal in der kapitalistischen Welt eine hohle Nuß ist und allezeit bleibt, mag man eine Taktik anwenden, welche man will, so ist der nächste logische Schritt die Enttäuschung auch in der Sozialreform, d. h. der ruhige Hafen, wo nun die Professoren Schmoller und Co. [1] vor Anker gegangen sind, die ja auch auf sozialreformerischen Gewässern durchstudierten die groß’ und kleine Welt, um schließlich alles gehen zu lassen, wie’s Gott gefällt. [1*] [2] Der Sozialismus erfolgt also aus dem alltäglichen Kampfe der Arbeiterklasse durchaus nicht von selbst und unter allen Umständen. Er ergibt sich nur aus den immer mehr sich zuspitzenden Widersprüchen der kapitalistischen Wirtschaft und aus der Erkenntnis der Arbeiterklasse von der Unerläßlichkeit ihrer Aufhebung durch eine soziale Umwälzung. Leugnet man das eine und verwirft man das andere, wie es der Revisionismus tut, dann reduziert sich die Arbeiterbewegung zunächst auf simple Gewerkvereinlerei und Sozialreformerei und führt durch eigene Schwerkraft in letzter Linie zum Verlassen des Klassenstandpunktes.
Diese Konsequenzen werden auch klar, wenn man die revisionistische Theorie noch von einer anderen Seite betrachtet und sich die Frage stellt: was ist der allgemeine Charakter dieser Auffassung? Es ist klar, daß der Revisionismus nicht auf dem Boden der kapitalistischen Verhältnisse steht und nicht mit bürgerlichen Ökonomen ihre Widersprüche leugnet. Er geht vielmehr in seiner Theorie auch wie die Marxsche Auffassung von der Existenz dieser Widersprüche als Voraussetzung aus. Andererseits aber – und dies ist sowohl der Kernpunkt seiner Auffassung überhaupt wie seine Grunddifferenz mit der bisher üblichen sozialdemokratischen Auffassung – stützt er sich nicht in seiner Theorie auf die Aufhebung dieser Widersprüche durch ihre eigene konsequente Entwicklung.
Seine Theorie steht in der Mitte zwischen den beiden Extremen, er will nicht die kapitalistischen Widersprüche zur vollen Reife gelangen [lassen] und durch einen revolutionären Umschlag auf der Spitze aufheben, sondern ihnen die Spitze abbrechen, sie abstumpfen. So soll das Ausbleiben der Krisen und die Unternehmerorganisation den Widerspruch zwischen der Produktion und dem Austausch, die Hebung der Lage des Proletariats und die Fortexistenz des Mittelstandes den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, die wachsende Kontrolle und Demokratie den Widerspruch zwischen Klassenstaat und Gesellschaft abstumpfen.
Freilich besteht auch die landläufige sozialdemokratische Taktik nicht darin, daß man die Entwicklung der kapitalistischen Widersprüche bis zur äußersten Spitze und dann erst ihren Umschlag abwartet. Umgekehrt, wir stützen uns bloß auf die einmal erkannte Richtung der Entwicklung, treiben aber dann im politischen Kampfe ihre Konsequenzen auf die Spitze, worin das Wesen jeder revolutionären Taktik überhaupt besteht. So bekämpft die Sozialdemokratie z. B. die Zölle und den Militarismus zu allen Zeiten, nicht erst, als ihr reaktionärer Charakter völlig zum Durchbruch gelangt ist. Bernstein stützt sich aber in seiner Taktik überhaupt nicht auf die Weiterentwicklung und Verschärfung, sondern auf die Abstumpfung der kapitalistischen Widersprüche. Er selbst hat es am treffendsten gekennzeichnet, indem er von einer „Anpassung“ der kapitalistischen Wirtschaft spricht. Wann hätte eine solche Auffassung ihre Richtigkeit? Alle Widersprüche der heutigen Gesellschaft sind Ergebnisse der kapitalistischen Produktionsweise. Setzen wir voraus, daß diese Produktionsweise weiter in der bis jetzt gegebenen Richtung entwickelt, so müssen sich mit ihr unzertrennlich auch alle ihre Konsequenzen weiter entwickeln, die Widersprüche zuspitzen und verschärfen, statt sich abzustumpfen. Letzteres setzt also umgekehrt als Bedingung voraus, daß die kapitalistische Produktionsweise selbst in ihrer Entwicklung gehemmt wird. Mit einem Worte, die allgemeinste Voraussetzung der Bernsteinschen Theorie, das ist ein Stillstand in der kapitalistischen Entwicklung.
Damit richtet sich aber die Theorie von selbst, und zwar doppelt. Denn erstens legt sie ihren utopischen Charakter in bezug auf das sozialistische Endziel bloß – es ist von vornherein klar, daß eine versumpfte kapitalistische Entwicklung nicht zur sozialistischen Umwälzung führen kann –, und hier haben wir die Bestätigung unserer Darstellung der praktischen Konsequenz der Theorie. Zweitens enthüllt sie ihren reaktionären Charakter in bezug auf die tatsächlich sich vollziehende rapide kapitalistische Entwicklung. Nun drängt sich die Frage auf: wie kann die Bernsteinsche Auffassungsweise angesichts dieser tatsächlichen kapitalistischen Entwicklung erklärt oder vielmehr charakterisiert werden?
Daß die ökonomischen Voraussetzungen, von denen Bernstein in seiner Analyse der heutigen sozialen Verhältnisse ausgeht – seine Theorie der kapitalistischen „Anpassung“ –, unstichhaltig sind, glauben wir im ersten Abschnitt gezeigt zu haben. Wir sahen, daß weder das Kreditwesen noch die Kartelle als „Anpassungsmittel“ der kapitalistischen Wirtschaft, weder das zeitweilige Ausbleiben der Krisen noch die Fortdauer des Mittelstandes als Symptom der kapitalistischen Anpassung aufgefaßt werden können. Allen genannten Details der Anpassungstheorie liegt aber – abgesehen von ihrer direkten Irrtümlichkeit – noch ein gemeinsamer charakteristischer Zug zugrunde. Diese Theorie faßt alle behandelten Erscheinungen des ökonomischen Lebens nicht in ihrer organischen Angliederung an die kapitalistische Entwicklung im ganzen und in ihrem Zusammenhange mit dem ganzen Wirtschaftsmechanismus auf, sondern aus diesem Zusammenhange gerissen, im selbständigen Dasein, als disjecta membra (zerstreute Teile) einer leblosen Maschine. So z. B. die Auffassung von der Anpassungswirkung des Kredits. Faßt man ins Auge den Kredit als eine naturwüchsige höhere Stufe des Austausches und im Zusammenhang mit allen dem kapitalistischen Austausch innewohnenden Widersprüchen, so kann man unmöglich in ihm irgendein gleichsam außerhalb des Austauschprozesses stehendes, mechanisches „Anpassungsmittel“ sehen, ebensowenig wie man das Geld selbst, die Ware, das Kapital als „Anpassungsmittel“ des Kapitalismus ansehen kann. Der Kredit ist aber nicht um ein Haar weniger als Geld, Ware und Kapital ein organisches Glied der kapitalistischen Wirtschaft auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung und bildet auf dieser Stufe wieder ganz wie jene, ebenso ein unentbehrliches Mittelglied ihres Räderwerkes, wie auch ein Zerstörungswerkzeug, indem es ihre inneren Widersprüche steigert.
Ganz dasselbe gilt von den Kartellen und den vervollkommneten Verkehrsmitteln.
Die gleiche mechanische und undialektische Auffassung liegt ferner in der Weise, wie Bernstein das Ausbleiben der Krisen als ein Symptom der „Anpassung" der kapitalistischen Wirtschaft hinnimmt. Für ihn sind die Krisen einfach Störungen im wirtschaftlichen Mechanismus, und bleiben sie aus, dann kann offenbar der Mechanismus glatt funktionieren. Die Krisen sind aber tatsächlich keine „Störungen“ im eigentlichen Sinne, oder vielmehr sie sind Störungen, ohne die aber die kapitalistische Wirtschaft im ganzen gar nicht auskommen kann. Ist es einmal Tatsache, daß die Krisen, ganz kurz ausgedrückt, die auf kapitalistischer Basis einzig mögliche, deshalb ganz normale Methode der periodischen Lösung des Zwiespaltes zwischen der unbeschränkten Ausdehnungsfähigkeit der Produktion und den engen Schranken des Absatzmarktes bilden, dann sind auch die Krisen unzertrennliche organische Erscheinungen der kapitalistischen Gesamtwirtschaft.
In einem „störungslosen“ Fortgang der kapitalistischen Produktion liegen vielmehr für sie Gefahren, die größer sind als die Krisen selbst. Es ist dies nämlich das nicht aus dem Widerspruch zwischen Produktion und Austausch, sondern aus der Entwicklung der Produktivität der Arbeit selbst sich ergebende stete Sinken der Profitrate, das die höchst gefährliche Tendenz hat, die Produktion allen kleineren und mittleren Kapitalien unmöglich zu machen, und so der Neubildung, damit dem Fortschritt der Kapitalanlagen Schranken entgegenzusetzen. Gerade die Krisen, die sich aus demselben Prozeß als die andere Konsequenz ergeben, bewirken durch die periodische Entwertung des Kapitals, durch Verbilligung der Produktionsmittel und Lahmlegung eines Teils des tätigen Kapitals zugleich die Hebung der Profite und schaffen so für Neuanlagen und damit neue Fortschritte in der Produktion Raum. So erscheinen sie als Mittel, das Feuer der kapitalistischen Entwicklung immer wieder zu schüren und zu entfachen, und ihr Ausbleiben, nicht nur für bestimmte Momente der Ausbildung des Weltmarktes, wie wir es annehmen, sondern schlechthin, würde bald die kapitalistische Wirtschaft, nicht wie Bernstein meint, auf einen grünen Zweig, sondern direkt in den Sumpf gebracht haben. Bei der mechanischen Auffassungsweise, die die ganze Anpassungstheorie kennzeichnet, läßt Bernstein ebenso die Unentbehrlichkeit der Krisen, wie die Unentbehrlichkeit der periodisch immer wieder aufschießenden Neuanlagen von kleinen und mittleren Kapitalen außer acht, weshalb ihm u.a. auch die stete Wiedergeburt des Kleinkapitals als ein Zeichen des kapitalistischen Stillstandes, statt, wie tatsächlich, der normalen kapitalistischen Entwicklung, erscheint.
Es gibt nun freilich einen Standpunkt, von dem alle behandelten Erscheinungen sich auch wirklich so darstellen, wie sie die „Anpassungstheorie“ zusammenfaßt, nämlich den Standpunkt des einzelnen Kapitalisten, wie ihm die Tatsachen des wirtschaftlichen Lebens, verunstaltet durch die Gesetze der Konkurrenz, zum Bewußtsein kommen. Der einzelne Kapitalist sieht vor allem tatsächlich jedes organische Glied des Wirtschaftsganzen als ein Ganzes, Selbständiges für sich, er sieht sie auch ferner nur von der Seite, wie sie auf ihn, den einzelnen Kapitalisten, einwirken, deshalb als bloße „Störungen“ oder bloße „Anpassungsmittel“. Für den einzelnen Kapitalisten sind die Krisen tatsächlich bloße Störungen, und ihr Ausbleiben gewährt ihm eine längere Lebensfrist, für ihn ist der Kredit gleichfalls ein Mittel, seine unzureichenden Produktivkräfte den Anforderungen des Marktes „anzupassen“, für ihn hebt ein Kartell, in das er eintritt, auch wirklich die Anarchie der Produktion auf.
Mit einem Worte, die Bernsteinsche Anpassungstheorie ist nichts als eine theoretische Verallgemeinerung der Auffassungsweise des einzelnen Kapitalisten. Was ist aber diese Auffassungsweise im theoretischen Ausdruck anderes, als das wesentliche und charakteristische der bürgerlichen Vulgärökonomie? Alle ökonomischen Irrtümer dieser Schule beruhen eben auf dem Mißverständnis, daß die Erscheinungen der Konkurrenz, gesehen durch die Augen des Einzelkapitals, für Erscheinungen der kapitalistischen Wirtschaft im ganzen genommen werden. Und wie Bernstein den Kredit, so faßt die Vulgärökonomie auch noch z. B. das Geld als ein geistreiches „Anpassungsmittel“ zu den Bedürfnissen des Austausches auf, sie sucht auch in den kapitalistischen Erscheinungen selbst die Gegengifte gegen die kapitalistischen Übel, sie glaubt in Übereinstimmung mit Bernstein an die Möglichkeit, die kapitalistische Wirtschaft zu regulieren, sie läuft endlich auch immer wie die Bernsteinsche Theorie in letzter Linie auf eine Abstumpfung der kapitalistischen Widersprüche und Verkleisterung der kapitalistischen Wunden, d. h. mit anderen Worten auf ein reaktionäres statt dem revolutionären Verfahren, und damit auf eine Utopie hinaus.
Die revisionistische Theorie im ganzen genommen läßt sich also folgendermaßen charakterisieren: es ist dies eine Theorie der sozialistischen Versumpfung, vulgärökonomisch begründet durch eine Theorie der kapitalistischen Versumpfung.
1*. Im Jahre 1872 haben die Professoren Wagner, Schmoller, Brentano und andere in Eisenach einen Kongreß abgehalten, auf dem sie die Einführung der Sozialreformen zum Schutze der Arbeiterklasse mit großen Lärm und viel Aufsehen als ihr Ziel proklamierten. Dieselben von dem Liberalen Oppenheimer ironisch als „Kathedersozialisten“ bezeichneten Herren haben gleich darauf den „Verein für Sozialreform“ gegründet. Schon wenige Jahre später, als sich der Kampf gegen die Sozialdemokratie verschärfte, stimmten die Leuchten des „Kathedersozialismus“ als Reichstagsabgeordnete für die Verlängerung des Sozialistengesetzes. Sonst besteht die ganze Tätigkeit des Vereins in alljährlichen Generalversammlungen, auf denen über verschiedene Themata einige professorale Referate vorgelesen werden, außerdem sind über 100 dickleibige Bände über ökonomische Fragen von demselben Verein herausgegeben worden. Für Sozialreformen ist von den Professoren, die übrigens auch für Schutzzölle, Militarismus usw. eintreten, nicht ein Jota geleistet worden. Der Verein hat auch zuletzt selbst die Sozialreformen aufgegeben und befaßt sich, mit dem Thema der Krisen, Kartelle u. dergl. (Anm. – R.L.)
1. Gemeint sind Gustav Schmoller, Adolph Wagner und Lujo Brentano als die führende Vertreter des Kathedersozialismus, die bürgerlich-liberale Reformvorschläge als sozialistisch propagierten, mit dem Ziel, dem Einfluß der Sozialdemokratie entgegenzuwirken und den Marxismus ideologisch zu bekämpfen. Diese bürgerlich-liberale Richtung in der Sozialpolitik entstand in den deutschen Universitäten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und versuchte die Arbeiterklasse durch Reformvorschläge und sozialpolitische Maßnahmen vom revolutionären Klassenkampf abzuhalten. Der Kathedersozialismus bildete mit seinen sozialreformerischen und staatskapitalistischen Forderungen eine theoretische Grundlage des Revisionismus. – Gustav von Schmoller (1838–1917): Kathedersozialist; Vertreter des preußischen Staatssozialismus; einflußreicher Ökonom; Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften.
2. Adolph Wagner (1835–1917): deutscher Ökonom; Vertreter der sog. sozialrechtlichen Schule in der politischen Ökonomie; Kathedersozialist; Begründer der Christlich-Sozialen Partei. – Lujo Brentano (1844–1931): deutscher Ökonom; Kathedersozialist; befürwortete einen „Klassenfrieden“ zwischen den Unternehmern und reformistischen Gewerkschaften; Freund des revisionistischen Führers Vollmar; befürwortete auch Genossenschaften nach dem englischen Muster.
Zuletzt aktualisiert am 10.1.2012