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Wenn Genosse Schippel mit Staunen „den immer höher und rascher sich gipfelnden Schlußfolgerungen“ folgt, die von der Grundlage der einen von ihm ausgesprochenen Ansicht ausgehen, so beweist das nur wieder einmal, daß die Ansichten ihre Logik haben, auch da, wo die Menschen sie nicht haben.
Die vorstehende Replik Schippels bildet zunächst zu seinem in der Neuen Zeit formulierten Gedanken über die ökonomische „Entlastung“ der kapitalistischen Gesellschaft durch den Militarismus eine bemerkenswerte Ergänzung: Neben Militarismus erscheinen nunmehr auch „Pfründen und allerhand Firlefanz“ sowie „wahnwitziger Luxus und blöde Narretei der Privaten“ als ökonomische Entlastungs- und Vorbeugungsmittel gegen Krisen. Die besondere Ansicht über die wirtschaftliche Funktion des Militarismus entfaltet sich somit zu der allgemeinen Theorie, wonach Verschwendung ein Korrektiv der kapitalistischen Wirtschaft ist, und beweist, daß wir dem Freiherrn von Stumm als Nationalökonomen Unrecht getan haben, indem wir ihn in unserem ersten Artikel als Gewährsmann Schippels nannten. Stumm dachte, als er die Ausgaben für die Armee die produktivsten nannte, wenigstens an die Bedeutung des Militarismus im Kampfe um Absatzmärkte und in der Verteidigung „der vaterländischen Industrie“. Schippel sieht aber dabei, wie es sich herausstellt, von der spezifischen Funktion des Militarismus in der kapitalistischen Gesellschaft ganz ab, er sieht in ihm einfach eine geistreiche Form, eine bestimmte Menge gesellschaftlicher Arbeit jährlich zu verpuffen; der Militarismus ist ihm ökonomisch dasselbe, wie zum Beispiel die sechzehn Hündchen der Herzogin d’Uzès, die um ein ganzes Appartement, einige Dienstboten und eine ganze Hundegarderobe die kapitalistische Wirtschaft „entlasten“.
Schade, daß Genosse Schippel in dem kaleidoskopischen Wechsel seiner ökonomisch-politischen Sympathien jedesmal mit seinen Neigungen von gestern so gründlich bricht, daß ihm nicht die leiseste Erinnerung bleibt. Sonst würde er schon als gewesener Rodbertusianer an die klassischen Blätter des Vierten Sozialen Briefes an von Kirchmann (S. 34 ff.) [1] denken müssen, wo sein ehemaliger Meister seine jetzige Krisentheorie vom Luxus niederschmettert. Aber diese Theorie ist viel älter als Rodbertus.
Konnte der Gedanke über die wirtschaftliche Entlastung speziell durch den Militarismus – wenigstens in den Reihen der Sozialdemokratie – Anspruch auf den Reiz der Neuheit erheben, so ist die allgemeine Theorie von der rettenden Funktion der Verschwendung für die kapitalistische Gesellschaft so – wie die bürgerliche Vulgärökonomie selbst.
Die Vulgärökonomie hat zwar auf dem Irrgang ihrer Entwicklung mehrere Krisentheorien in die Welt gesetzt, allein die, die unser Schippel sich jetzt angeeignet hat, gehört zu den trivialsten, sie steht sogar – was die Einsicht in den inneren Mechanismus der kapitalistischen Wirtschaft betrifft – tiefer als die Theorie des widrigsten Possenreißers der Vulgärökonomie, J.B. Say, wonach Überproduktion eigentlich Unterproduktion sei.
Was ist die allgemeinste Voraussetzung der Schippelschen Theorie? Die Krisen entstehen dadurch, daß im Verhältnis zur Menge der produzierten Güter zu wenig konsumiert wird, die Krisen können also durch Vergrößerung der Konsumtion innerhalb der Gesellschaft eingedämmt werden. Hier wird also die kapitalistische Krisenbildung nicht aus der inneren Tendenz der Produktion, über die Schranken des Absatzmarktes hinauszueilen, und aus der Regellosigkeit der Produktion abgeleitet, sondern aus der absoluten Unverhältnismäßigkeit zwischen Produktion und Konsumtion. Die Gütermasse der kapitalistischen Gesellschaft wird hier sozusagen als ein Reisberg von bestimmter Größe unter stellt, durch den sich die Gesellschaft durchfressen muß. Je mehr konsumiert wird, um so weniger bleibt als unverdaulicher Rest auf dem ökonomischen Gewissen der Gesellschaft lasten, um so großer die „Entlastung“. Das ist eine absolute Krisentheorie, die sich zu der relativen von Marx genauso verhält wie die Malthussche Bevölkerungstheorie zum Marxschen Gesetz der relativen Übervölkerung.
Aber es ist nicht gleich für die Gesellschaft, wer konsumiert. Wenn die Konsumtion nur dazu dient, um gleichzeitig die Produktion wieder in Bewegung zu bringen, dann wächst der Reisberg wieder an, und „die Gesellschaft“ hat nichts gewonnen, das Krisenfieber schüttelt sie nach wie vor. Erst wenn die Güter auf Nimmerwiedersehen absorbiert werden, wenn sie zur Konsumtion von Leuten dienen, die ihrerseits nicht mehr produzieren, dann erst atmet die Gesellschaft wirklich erleichtert auf, die Krisenbildung ist eingedämmt.
Der Unternehmer Hinz weiß nicht, wohin er mit den von ihm (d. h. von seinen Arbeitern) produzierten Waren soll. Zum Glück treibt der Unternehmer Kunz wahnwitzigen Luxus und kauft seinem bedrängten Klassengenossen die lästigen Waren ab. Er selbst, Kunz, hat aber auch Überfluß an produzierten Gütern, die ihn „belasten“: glücklicherweise gibt der vorhin erwähnte Hinz gleichfalls sehr viel für „Luxus und Narreteien“ aus und bietet sich dem besorgten Kunz seinerseits als der ersehnte Abnehmer an. Jetzt, nach dem glücklich abgeschlossenen Geschäft schauen sich unsere beiden Unternehmer gegenseitig verdutzt an und haben Lust auszurufen: Bist du verrückt oder ich? Tatsächlich sind sie’s beide. Denn was haben sie durch die ihnen von Schippel angeratene Operation erreicht? Sie haben freilich beide einander redlich zur restlosen Zerstörung einer bestimmten Menge Güter verholfen. Aber ach! nicht die Zerstörung der materiellen Güter, sondern die Realisierung des Mehrwertes in blankem Gold ist der Zweck des Unternehmertums. Und in dieser Beziehung läuft das witzige Geschäft auf dasselbe hinaus, wie wenn jeder der beiden Unternehmer seinen eigenen überflüssigen Mehrwert selbst restlos verschluckt, konsumiert hätte. Das ist das Schippelsche Mittel zur Abschwächung der Krisen. Die westfälischen Kohlenbarone leiden an Überproduktion von Kohle? Die Tölpel ! Sie sollen nur in ihren Palästen stärker heizen lassen, und der Kohlenmarkt ist „entlastet“. Die Besitzer der Marmorgruben in Carrara klagen über Stockung im Handel? Sie sollen doch für ihre Pferde Ställe aus Marmor errichten lassen, und das „Krisenfieber“ im Marmorgeschäft ist sofort gedämpft. Und zieht eine drohende Wolke von allgemeiner Handelskrise herauf, so ruft Schippel dem Kapitalismus zu: „Mehr Austern, mehr Champagner, mehr Livreebediente, mehr Balletteusen, und Ihr seid gerettet!“ Wir fürchten nur, die alten durchtriebenen Kerle werden ihm antworten: „Herr, Ihr haltet uns für dümmer, als wir sind!“
Diese geistreiche ökonomische Theorie führt aber noch zu interessanten sozialen und politischen Schlußfolgerungen. Bildet nämlich bloß die unproduktive Konsumtion, das heißt die Konsumtion des Staates und der bürgerlichen Klassen, eine wirtschaftliche Entlastung und ein Gegenmittel zur Abschwächung der Krisen, dann erscheint es im Interesse der Gesellschaft und des ruhigen Verlaufes des Produktionszyklus, daß die unproduktive Konsumtion möglichst erweitert, die produktive möglichst eingeschränkt, der von den Kapitalisten und dem Staate angeeignete Teil des gesellschaftlichen Reichtums möglichst groß, der für das arbeitende Volk verbleibende möglichst gering, die Profite und die Steuern möglichst hoch, die Löhne möglichst niedrig sind. Der Arbeiter eine wirtschaftliche „Last“ für die Gesellschaft, und die Hündchen der Herzogin d’Uzès ein wirtschaftlicher Rettungsanker – das sind die Konsequenzen der Schippelschen „Entlastungs“theorie.
Wir haben gesagt, sie sei auch unter den vulgärökonomischen Theorien die trivialste. Was ist der Gradmesser der vulgärökonomischen Trivialität? Das Wesen der Vulgärökonomie besteht darin, daß sie die Vorgänge der kapitalistischen Wirtschaft nicht im objektiven Zusammenhang und in ihrem inneren Wesen, sondern in der oberflächlichen Zersplitterung durch die Gesetze der Konkurrenz, nicht durch das Fernrohr der Wissenschaft, sondern durch die Brille des Einzelinteressenten der bürgerlichen Gesellschaft betrachtet. Aber je nach dem Standpunkt dieses Interessenten verschiebt sich auch das Bild der Gesellschaft, und es kann sich mehr oder weniger schief im Hirn des Ökonomen abspiegeln. Je näher der Standpunkt zum eigentlichen Produktionsprozeß, um so näher steht die Auffassung zur Wahrheit. Und je weiter sich der Forscher zum Austauschmarkt, zum Gebiet der vollen Herrschaft der Konkurrenz voranbewegt, um so mehr steht das von dort aus gesehene Bild der Gesellschaft auf dem Kopfe.
Die Schippelsche Krisentheorie ist, wie wir gezeigt, vom Standpunkte der Kapitalisten als Klasse absolut unhaltbar, sie läuft auf den Rat hinaus: die Kapitalistenklasse soll selbst ihren Überfluß an Produkten konsumieren. Aber auch ein einzelner kapitalistischer Industrieller wird sie mit Achselzucken aufnehmen. Ein Freiherr v. Stumm oder ein v. Heyl sind viel zu klug, um sich dem Wahn hinzugeben, ihr eigener und ihrer Klassengenossen Luxus könne den Krisen irgendwie abhelfen. Diese Auffassung kann nur einem kapitalistischen Kaufmann, richtiger einem kapitalistischen Krämer aufsteigen, für den seine unmittelbaren Abnehmer, die „großen Herrschaften“, mit ihrem Luxus als die Pfeiler der ganzen Wirtschaft erscheinen. Die Schippelsche Theorie ist nicht einmal ein Abklatsch der Auffassung des kapitalistischen Unternehmers, sie ist direkt ein theoretischer Ausdruck des Standpunktes des kapitalistischen Krämers.
Der Gedanke Schippels von der „Entlastung“ der Gesellschaft durch den Militarismus zeigt wieder, ganz wie seinerzeit die Ausführungen Ed. Bernsteins, daß der Opportunismus, wie er in der Politik zum bürgerlichen Standpunkt führt, auch in seinen ökonomischen Voraussetzungen an die bürgerliche Vulgärökonomie anknüpft.
Aber Schippel bestreitet ja unsere politischen Folgerungen aus seiner „Entlastungs“theorie. Er hätte nur von der Entlastung der Gesellschaft und nicht der Arbeiterklasse gesprochen, er hätte noch ausdrücklich, um Mißverständnissen vorzubeugen, die Versicherung eingeschoben, daß ihm „dies den Militarismus nicht angenehmer, sondern unangenehmer mache“. Man könnte glauben, Schippel hielte also vom Standpunkte der Arbeiterklasse den Militarismus wirtschaftlich für verderblich.
Wozu hat er dann auf die wirtschaftliche Entlastung hingewiesen? Welche Schlüsse zieht er aus ihr für das Verhalten der Arbeiterklasse zum Militarismus? Hören wir zu: „Natürlich macht mir das [die wirtschaftliche Entlastung – R.L.] den Militarismus nicht angenehmer, sondern um so unangenehmer. Nur kann ich von diesem Standpunkt aus auch nicht in das kleinbürgerlich-freisinnige Geschrei über den wirtschaftlichen Ruin durch die unproduktiven Militärausgaben einstimmen.“ [Hervorhebung – R.L.] [1*] Schippel erachtet also die Ansicht über die ökonomisch ruinierende Wirkung des Militarismus für kleinbürgerlich, für falsch. Für ihn ist der Militarismus also kein Ruin, das „Einstimmen in das kleinbürgerlich-freisinnige Geschrei“ gegen den Militarismus, das heißt der Kampf gegen ihn, ist für ihn verkehrt; ja, sein ganzer Artikel ist ja darauf gerichtet, der Arbeiterklasse die Unentbehrlichkeit des Militarismus nachzuweisen. Was bedeutet angesichts dieses seine eingeschaltete Verwahrung, ihm sei der Militarismus deshalb nicht angenehmer, sondern um so unangenehmer? Sie ist nur die rein psychologische Versicherung, daß Schippel nicht mit Genuß, sondern mit Widerwillen den Militarismus verteidigt, daß er an seiner opportunistischen Politik selbst keine Freude hat, daß sein Herz besser als sein Kopf ist.
Schon angesichts dieser Tatsache könnte ich nicht die Einladung Schippels zu einem Wettrennen „um die proletarisch-revolutionärste Gesinnung“ mit ihm annehmen. Die Loyalität verbietet mir, mit jemand zu wettrennen, der in der denkbar ungünstigsten Position, weil mit dem Rücken zum Start, in die Rennbahn tritt.
1*. Die Neue Zeit, 1898/99, Nr. 20, S. 617.
1. Carl Rodbertus-Jagetzow: Das Kapital. Vierter socialer Brief an von Kirchmann, Berlin 1884, S. 32 ff.
Zuletzt aktualisiert am 10.1.2012