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Leipziger Volkszeitung Nr. 221, 23. September 1899.
Es bleibt noch die dritte mögliche Deutung der von Ber fstnstein gegen die Marxsche Lehre vorgeführten „Zunahme des gesellschaftlichen Reichtums“ zu prüfen: die Hebung der materiellen Lage der Arbeiterklasse. Bernstein zieht wiederholt gegen die angeblich dem Parteiprogramm zugrunde liegende „Verelendungstheorie“ ins Feld. Dabei unterstellt er aber stets eine rein physiologische Bedeutung des von der Marxschen Theorie konstatierten „Elends“ der Arbeiterklasse. Von diesem Standpunkt hätte er allerdings recht, denn gerade in den vorgeschrittensten kapitalistischen Ländern ist eine allgemeine Zunahme physischen Elends nicht mehr zu konstatieren.
Freilich darf man auch das Steigen der Lebenshaltung des Proletariats in diesem Sinne nicht überschätzen. Auch das nackte Elend tritt nur äußerst zäh und äußerst langsam zurück. Davon zeugt die Schilderung, die man uns jetzt von der Lebenshaltung der Arbeitermasse in England gibt, dem Eldorado des Trade-Unionismus, des Genossenschaftswesens, des Munizipalsozialismus und der Demokratie.
Allein weder Marx noch irgendein anderer Sozialist dachten an das physische Elend als Grundlage der sozialistischen Bewegung; stets hatten sie das soziale Elend, d. h. den Abstand zwischen der Lebenshaltung des Proletariats und der Bourgeoisie, im Auge. So schrieb Lassalle in seinem bekannten Offenen Antwortschreiben:
„Alles menschliche Leiden und Entbehren hängt also nur von dem Verhältnis der Befriedigungsmittel zu den in derselben Zeit bereits vorhandenen Bedürfnissen und Lebensgewohnheiten ab. Alles menschliche Leiden und Entbehren und alle menschlichen Befriedigungen, also jede menschliche Lage, bemißt sich somit nur durch den Vergleich mit der Lage, in welcher sich andere Menschen derselben Zeit in bezug auf die gewohnheitsmäßigen Lebensbedürfnisse derselben befinden. Jede Lage einer Klasse bemißt sich somit immer nur durch ihr Verhältnis zu der Lage der andern Klassen in derselben Zeit“ (Bernsteinsche Ausgabe, II, S. 426). [1] Ähnlich drückte sich Rodbertus bereits 1850 in seinem Ersten socialen Brief an von Kirchmann aus: „Armut ist also ein gesellschaftlicher, d. h. relativer Begriff. Nun behaupte ich, daß der berechtigten Bedürfnisse der arbeitenden Klassen, seitdem diese im übrigen eine höhere gesellschaftliche Stellung eingenommen haben, bedeutend mehrere geworden sind und daß es ebenso unrichtig sein würde, heute, wo sie diese höhere Stellung eingenommen haben, selbst bei gleichgebliebenem Lohn nicht von einer Verschlimmerung ihrer materiellen Lage zu sprechen ... Wenn dann noch dazukommt, daß die Zunahme des Nationalreichtums die Mittel zur Erhöhung ihres Einkommens bietet, während sie lediglich den anderen Klassen zugute kommt, so ist es wohl klar, daß in diesem Zwiespalt zwischen Anspruch und Befriedigung, zwischen Reiz und notgedrungener Entsagung die ökonomische Lage der arbeitenden Klassen zerrüttet werden muß.“ [2]
In demselben Sinne sprach auch Marx und spricht unser Programm von der Zunahme der Masse des „Elends“ in der bürgerlichen Gesellschaft.
Daß aber das soziale Elend des Proletariats wächst, das beweist uns schon die langsame Hebung seiner Lebenslage auch in physischem Sinne, während der Reichtum. der Bourgeoisie, die Produktivität der Arbeit in reißendem Tempo wachsen. Das beweisen ferner die Zunahme der Frauen- und Kinderarbeit, die relative Abnahme der Eheschließungen usw.
Ist die Lage der Proletarier eine elende und geknechtete, so muß die Masse des Elends und der Knechtschaft innerhalb des gesamten Volkes in dem Grade wachsen, in dem das Proletariat an Zahl den übrigen Volksklassen gegenüber zunimmt; und daß es allenthalben wächst, ist eine unleugbare Tatsache.
Aber die Zunahme der Zahl der Proletarier im Volke ist selbst wieder nur ein Symptom, freilich auch wieder eine Ursache wachsenden Elends in den anderen Volksklassen.
Eine Erhebung aus physischem Elend tritt allerdings früher oder später für viele Schichten der Lohnarbeiterschaft ein. Aber die kapitalistische Produktionsweise ist in ständigem Fortschreiten begriffen, erobert beständig neue Gewerbszweige und neue Gegenden, in denen sie die Besitzer von selbständigen Kleinbetrieben degradiert, proletarisiert, ins Elend schleudert, und dieser Prozeß kann kein Ende nehmen außer mit der kapitalistischen Produktionsweise selbst.
Der dritte Haupteinwurf Bernsteins gegen die wirtschaftlichen Grundlagen des sozialdemokratischen Programms bezieht sich auf die Krisen. Bernstein unterstellt, daß die Sozialdemokratie ihre Aussichten auf den sozialistischen Sieg von einer Weltkrisis abhängig mache, und er beweist mit allen Mitteln, daß eine solche in nächster Zeit nicht zu erwarten ist. Selbstverständlich handelt es sich wiederum um seine eigene Erfindung. Die Marxsche Lehre hat nur nachgewiesen, daß Krisen sich aus der kapitalistischen Entwicklung mit Naturnotwendigkeit ergeben und daß diese Entwicklung die Tendenz habe, die Krisen stets zu verschärfen und schließlich zu einer ausweglosen Überproduktion zu führen.
Ob dies richtig oder ob wir einer immer geregelteren, krisenlosen kapitalistischen Entwicklung entgegengehen, wie Bernstein annimmt, ist der Kern der Frage.
Die Tendenz zur Krisenbildung selbst ergibt sich aus der einfachen und unbestreitbaren Tatsache, daß, während eine unaufhörliche Erweiterung eine Lebensbedingung der kapitalistischen Produktion ist und während diese Erweiterung an sich schrankenlos ist, die Absatzmöglichkeit, der Markt, sowohl der innere wie der äußere, in jedem Lande seine Grenzen hat. Derselbe Widerspruch zwischen der Ausdehnung der Produktion und den Schranken des Marktes muß mit Naturnotwendigkeit früher oder später den Zeitpunkt herbeiführen, wo der Kapitalismus einfach an seinen eigenen Absatzverhältnissen scheitert, wo er eine gesellschaftliche Unmöglichkeit, die sozialistische Umwälzung im gleichen Maße eine Notwendigkeit wird.
Dieser Zustand braucht nicht notwendig in einer endgültigen, allgemeinen Weltkrise, er kann nach und nach für einen Produktionszweig nach dem anderen eintreten.
In der Textilindustrie ist heute bereits in ihren alten Sitzen die Zeit chronischer Überproduktion gekommen. Wohl erweitert sich immer noch der Markt, aber viel rascher nimmt die Zahl der auswärtigen Konkurrenten zu. So ist denn in England seine mächtige Textilindustrie bereits in eine Periode der Stagnation eingetreten.
Besser steht es noch um die Eisenindustrie, der der Eisenbahnbau in den barbarischen und halbzivilisierten Ländern und die militaristischen Rüstungen immer noch frisches Blut zuführen. Aber dieselbe Vervollkommnung der Kommunikation mit rückständigen Ländern führt auf der anderen Seite einen wachsenden Import von Rohprodukten aus ihnen nach den alten kapitalistischen Gebieten mit sich und erzeugt dort den Zustand chronischer Überproduktion in der Landwirtschaft und ihren Industrien, der Spiritus- und Zuckerproduktion.
Aber auch der Aufschwung der Eisenindustrie (inklusive der Maschinenproduktion), die heute die führende Industrie ist und auf der in erster Linie die gegenwärtige Periode der Prosperität beruht, muß einmal ein Ende nehmen, nicht nur ein zeitweiliges, in einer vorübergehenden Krise, sondern er muß schließlich in chronische Überproduktion und Stagnation auslaufen, immer vorausgesetzt, daß die kapitalistische Produktionsweise sich ungestört weiterentwickelt, denn die Eisenindustrie gräbt sich selbst ihr Grab durch die Einbürgerung der Maschine im Ausland. Erzeugt sie zuerst vorwiegend Konkurrenten für die einheimische Textilindustrie und Landwirtschaft, so früher oder später auch die eigenen Konkurrenten, die nicht nur die Bedürfnisse ihres Landes selbst befriedigen, sondern auch einen stets wachsenden Überschuß für den Weltmarkt produzieren. Fast scheint es, als wäre auch in der Eisenindustrie England an der Grenze der Ausdehnungsfähigkeit gegenüber Deutschland und vor allem den Vereinigten Staaten angekommen. Ist aber einmal die Eisenindustrie der Länder der Großindustrie dort, wo heute Textilindustrie und Landwirtschaft Englands sind, dann hat die Expansionsfähigkeit der kapitalistischen Produktionsweise ein Ende und damit auch ihre Lebensfähigkeit. Das braucht aber nicht allzulange zu währen, wenn man sich erinnert, wie rasch die Vereinigten Staaten, Japan, Rußland eine nennenswerte Großindustrie entwickelt haben.
Ob also eine Weltkrisis, ob die partiellen Krisen bald oder nicht bald eintreten, das sind sehr untergeordnete Fragen, die man auch gar nicht beantworten kann. Genug, die allgemeine Überproduktion in dieser oder jener Form muß und wird über kurz oder lang eintreten. Und dies ist es, was das Todesurteil für die kapitalistische Gesellschaft bedeutet.
Freilich braucht deshalb letztere gar nicht einmal bis zur äußersten Grenze der Überproduktion am Leben zu bleiben.
Die unheilbar chronische Überproduktion, sie bedeutet die letzte Grenze, bis zu der das kapitalistische Regime sich überhaupt behaupten kann, sie braucht nicht notwendigerweise seine Todesursache zu bedeuten. Die materialistische Geschichtsauffassung kennt neben dem ökonomischen Zwange noch andere Faktoren der sozialen Entwicklung, die zwar ökonomisch motiviert, aber nichtsdestoweniger vielfach ideeller, ethischer Natur sind und die wir zusammenfassen in der Formel des Klassenkampfes. Der Klassenkampf des Proletariats kann zum Umsturz der kapitalistischen Produktionsweise führen, ehe noch diese in das Stadium ihrer Verwesung eingetreten. Wenn der Hinweis auf die chronische Überproduktion nicht gleichbedeutend ist mit der Prophezeiung der großen Weltkrisis, so überhaupt nicht mit der Prophezeiung einer besonderen Art des Untergangs der kapitalistischen Produktion. Seine Bedeutung besteht darin, daß er durch Festsetzung einer äußersten Grenze der Lebensfähigkeit der heutigen Gesellschaft den Sozialismus aus jenem nebelhaften Bereich, in das ihn heute so viele Sozialisten verweisen, uns näher rückt, so daß dieser aus einem Ziel, das vielleicht nach 500 Jahren verwirklicht werden dürfte – vielleicht auch nicht – ein absehbares und notwendiges Ziel praktischer Politik wird.
Aber die Kartelle? Sind dies nicht Mittel, die Produktion einzuschränken und zu regulieren, also der Überproduktion und den Krisen vorzubeugen? Ja, im Innern des Landes sucht jedes Unternehmerkartell das Angebot einzuschränken, aber nur um die Schleuderkonkurrenz im Auslande nur um so mehr zu verschärfen, also einer Überproduktion geradezu vorzuarbeiten. Bernstein muß das zugeben, wirft aber ein: „‚In der Regel‘ geht dies Manöver nur da an, wo dem Kartell ein Schutzzoll Deckung gewährt [Hervorhebung – R.L.], der es dem Ausland unmöglich macht, ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen.“ [3] Die regulierende und rettende Tätigkeit der Kartelle wird also von Bernstein selbst an eine Aufhebung des Schutzzollsystems als Vorbedingung geknüpft. Aber dadurch wird sie von ihm selbst auch zur Chimäre gemacht, denn an eine Rückkehr zum Freihandel gegenwärtig denken kann nur jemand, der die Welt auf dem Kopf stehend betrachtet.
Aber wir nehmen an, die Kartelle seien wirklich imstande, die Krisen durch Einschränkung der Produktion zu bannen. Was wäre damit für das Proletariat und die Mittelschichten gewonnen? Die Kartelle sind eines der kräftigsten Mittel zur Expropriation der kleinen Kapitalisten. Wenn die in gleicher Richtung gehende Wirkung der Krisis durch die des Kartells abgelöst wird, so wird die Herrschaft des Großkapitals dadurch nicht weniger unerträglich.
Wodurch kann das Kartell der Krise vorbeugen? Doch nur durch Einschränkung der Produktion. Wir haben aber gesehen, daß stete Ausdehnung der Produktion eine Lebensbedingung für die kapitalistische Produktionsweise ist und vor allem für das Proletariat. Wie sich die Kartelle, wenn es ihnen gelänge, die Produktion zu regeln, mit dem neu akkumulierten Kapital abfänden, ob sie nicht durch dessen Drängen immer wieder zur Erweiterung der Produktion getrieben oder gesprengt würden, das geht uns hier nichts an. Aber sicher ist es, daß jede Hemmung der Ausdehnung der Produktion in der heutigen Produktionsweise unerträgliche Zustände hervorrufen muß und daß es eine Torheit ist, zu glauben, diese würden von den Arbeitern weniger hart empfunden, wenn sie durch künstliche Kartellierung der Unternehmer statt durch Krisen und Bankrotte hervorgerufen werden. Im Gegenteil, wenn die Unternehmer der Krise dadurch vorbeugen wollen, daß sie deren Nachteile den Proletariern in Zeiten der Prosperität aufbürden, wenn sie, um den Profit zu retten, die Arbeiter allein die Folgen einer Produktionseinschränkung tragen lassen, wenn sie ihnen die Folgen einer Überproduktion auferlegen, ehe noch eine solche eingetreten, so kann dies nur dazu führen, den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit aufs höchste zu steigern.
Weit entfernt, die zum Sozialismus führenden Wirkungen der Krisen aufzuheben, müssen sie vielmehr in derselben Richtung wirken, und das wahrscheinlich, ohne die Krisen zu hemmen. Mehr als jede andere Erscheinung des kapitalistischen Wirtschaftslebens erfüllen sie die arbeitenden Schichten des Volkes mit dem Empfinden der Notwendigkeit der Expropriation der Expropriateure und mit dem Bewußtsein, daß die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat das einzig wirksame Mittel ist, ihnen zu Leibe zu gehen.
Mit seinen Ausführungen über Krisen und Kartelle schließt Bernstein seine Untersuchungen über die wirtschaftliche Entwicklung der modernen Gesellschaft. Geben sie uns Veranlassung, unser Programm zu ändern? Haben sie erwiesen, daß die ökonomische Entwicklung in anderer Richtung vor sich geht als sie Marx gezeichnet?
Ich denke, sagt Kautsky, wir können auf diese Frage ruhig mit Nein antworten.
Bernstein hat in seinem letzten Artikel im Vorwärts [4] seine Kritik hauptsächlich gegen die Formulierung der Begründung unseres Programms gerichtet. Tatsächlich handelt es sich nicht um die Formulierung, sondern um die Begründung, um die ganze Auffassung, um das sozialistische Programm selbst. Bernstein behauptet, auf sozialistischem Standpunkt nach wie vor zu stehen. Vergebens würde man aber nach einer Begründung seines Sozialismus fragen. Dieser Sozialismus liegt denn auch bloß in seiner subjektiven Vorstellung. Objektiv, vom Standpunkte seiner theoretischen Ausführungen, gehört Bernstein, wie Kautsky konstatiert, in jenes bunte Lager des sozialreformerischen Liberalismus, das ihn auch mit vollem Recht für sich reklamiert.
Wir übergehen das letzte Hauptstück des Kautskyschen Buches über die Taktik, wo er die Notwendigkeit eines selbständigen politischen Kampfes der Arbeiterklasse gegenüber den Bernsteinschen Mahnungen zur liberalen „Sammlungspolitik“ nachweist. Zum Schluß beantwortet Kautsky die Frage, „ob wir siegen dürfen“ trotz der Befürchtungen, die Bernstein wegen der mangelnden politischen Reife des Proletariats hegt.
Das Proletariat, sagt Kautsky, steht, was seine politische Reife betrifft, allen anderen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft gar nicht nach, am allerwenigsten seine Elite, die bei einer Machtergreifung die Führung selbstverständlich übernehmen würde. Aber dies ganze Räsonnement über die Reife ist ja überhaupt eine absurde und müßige Beschäftigung, da eine Eroberung der Staatsgewalt durch das Proletariat doch nicht ein beliebig künstlich hervorzurufendes, sondern nur ein notwendiges historisches Ereignis sein kann.
„Wenn es aber absurd ist, von dem Aufschub eines historischen Ereignisses zu reden, was haben dann die Kassandrarufe von der mangelnden politischen Reife des Proletariats für einen Sinn? Wir sind nicht die Lenker der historischen Entwicklung. Diese hängt von Faktoren ab, die weit mächtiger sind als einzelne Parteien und ihre frommen Wünsche. Ob das Proletariat jetzt schon weit genug ist, die politische Herrschaft zu übernehmen, ob es dereinst, wenn es die politische Macht erobert, in allen Punkten schon die nötigen politischen Fähigkeiten entwickeln, ~ es der ungeheuren historischen Aufgabe, die ihm zufällt, ohne weiteres gewachsen sein wird, ob seine Siege durch Niederlagen unterbrochen sein werden, ob die kommende politische Entwicklung eine langsame oder schnelle sein wird – wer könnte darauf antworten? Wenn man aber diese Fragen nicht beantworten kann, wird alles Spintisieren über die heutige politische Reife des Proletariats zwecklos, und es kommt auf kein höheres Niveau durch die Verdächtigung derjenigen, die in die apodiktische Impotenzerklärung des Proletariats nicht mit einstimmen. Unsere Aufgabe besteht nicht darin, das Proletariat mitten im Kampfe zu entmutigen durch grundloses Verkleinern seiner politischen Fähigkeiten, sondern darin, die höchsten Anforderungen an die politischen Fähigkeiten des Proletariats zu stellen und daher alles aufzubieten, sie möglichst zu steigern, so daß jeder Moment es auf der größten Höhe seiner Leistungsfähigkeit findet.
Zu dieser Aufgabe gehört es aber nicht nur, daß wir das Proletariat organisieren und ihm bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen erkämpfen helfen. Dazu gehört es auch, daß wir den Blick des Proletariats erweitern über den Kreis seiner Augenblicks- und Berufsinteressen hinaus, daß wir es die großen Zusammenhänge aller proletarischen Interessen untereinander und mit den allgemeinen gesellschaftlichen Interessen erkennen lassen. Es gehört dazu, daß wir ihm große Zwecke setzen, mit denen es selbst zu höherem Geistesleben heranwächst, daß wir es erheben über die alltägliche Kleinarbeit, die unentbehrlich ist und die das Leben dringend erheischt, die es uns aber ebendeshalb von selbst aufdrängt, ohne daß wir nötig hätten, dazu besonders eifrig zu mahnen. Sorgen wir dafür, daß nicht Kleinheitswahn das Proletariat und seine Ziele degradiert, daß nicht an Stelle einer weit ausblickenden grundsätzlichen Politik das Fortwursteln von Fall zu Fall eintritt, mit anderen Worten, daß nicht die nüchterne Alltäglichkeit den Idealismus überwuchert, daß nicht das Bewußtsein der großen historischen Aufgaben verlorengeht, die dem Proletariat gestellt sind. Wenn wir in diesem Sinne unsere volle Kraft einsetzen, haben wir unsere Pflicht als Sozialdemokraten getan: der Erfolg unseres Wirkens steht in der Hand von Faktoren, die wir nicht beherrschen.“ [5]
Mit diesen Worten schließt Kautsky sein Buch, mit dem die Polemik gegen Bernstein den glücklichsten Abschluß findet. Nun gibt es keine einzige Behauptung seinerseits, die nicht geprüft, beantwortet und gründlich widerlegt worden wäre.
Worauf wir besonders in diesem Buche aufmerksam machen möchten, sind die Abschnitte, wo das eigentliche Fundament der Bernsteinschen Kritik, seine statistischen Beweise gegen die sozialdemokratischen Lehren, einer eingehenden Prüfung unterzogen sind.
Es wird jetzt vielerorten zugunsten Bernsteins die Freiheit der Wissenschaft in Anspruch genommen. Man lese fleißig die von uns besprochenen Kapitel des Kautskyschen Buches, man überzeuge sich, mit welchen „wissenschaftlichen“ Mitteln hier von Bernstein gearbeitet wurde, und man wird vielleicht zu der Einsicht kommen, daß ein Appell an die Wissenschaft bei dieser letzten aus unseren Reihen hervorgegangenen Attacke gegen die Sozialdemokratie nicht minder eine Frivolität ist wie bei den früheren Attacken aus dem Lager der Herren Wolf, Wenckstern, May und Konsorten.
1. Ferd. Lassalle’s Reden und Schriften. Neue Gesammt-Ausgabe. Mit einer biographischen Einleitung herausgegeben von Ed. Bernstein, Zweiter Band, Berlin 1893, S. 426/427.
2. Rodbertus: Sociale Briefe an von Kirchmann. Erster Brief: Die sociale Bedeutung der Staatswirthschaft, Berlin 1850, S. 71/72.
3. Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 78.
4. Eduard Bernstein: Meine Stellung zum theoretischen Teil des Erfurter Programms, in: Vorwärts (Berlin), Nr. 206 vom 3. September 1899.
5. Karl Kautsky: Bernstein und das sozialdemokratische Programm, Stuttgart 1899, S. 194/195.
Zuletzt aktualisiert am 10.1.2012