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Leipziger Volkszeitung, Nr. 218, 20. September 1899.
Im Dietzschen Verlage ist soeben die – wie Kautsky selbst in der Vorrede ausdrücklich erklärt – letzte Erwiderung seinerseits an Bernstein erschienen, in der Form eines stattlichen Buches von 12 Bogen unter dem Titel Bernstein und das sozialdemokratische Programm. Eine Antikritik.
Inhaltlich umfaßt das Buch die Gesamtheit der von Bernstein berührten Fragen, also: 1. die Methode (die materialistische Geschichtsauffassung, die Dialektik, der Wert), 2. alle wichtigeren Fragen in bezug auf die wirtschaftlichen Grundlagen des sozialdemokratischen Programms (die Zusammenbruchstheorie, Großbetrieb und Kleinbetrieb, die Zunahme der Besitzenden, die Aktiengesellschaften, die Verwendung des Mehrwertes, die Verelendungstheorie, der neue Mittelstand, die Krisentheorie, die Formulierung des Programms), 3. die Taktik (Politik und Ökonomie, selbständige oder unselbständige Politik, dürfen wir siegen?).
Wir übergehen im folgenden das erste Hauptstück (über die Methode), da es Ansichten darlegt, die wir schon aus den Kautskyschen Artikeln in der Neuen Zeit kennen, und wenden uns direkt an das aktuellste und praktisch wichtigste zweite Hauptstück: die wirtschaftlichen Grundlagen unseres Programms, wo Kautsky Fragen beleuchtet, die in der bisherigen Diskussion mit Bernstein nur lückenhaft und unvollständig berücksichtigt wurden. Es sind drei Einwände, die Bernstein gegen die Marxsche Theorie der kapitalistischen Produktionsweise zu erheben hat: 1. Die Zahl der Besitzenden nimmt nicht ab, sondern zu. 2. Der Kleinbetrieb geht nicht zurück. 3. Die Wahrscheinlichkeit umfassender und verheerender Krisen wird immer geringer. Kautsky analysiert nacheinander diese drei Fragen, wobei er vor allem die zweite als die grundlegende und entscheidende der Prüfung unterzieht.
Nach der Marxschen Lehre führt die ökonomische Entwicklung in der modernen Gesellschaft zum Untergang des selbstwirtschaftenden Arbeiters und zu seiner Verwandlung in einen Lohnarbeiter, der von dem Kapitalisten ausgebeutet wird. Im weiteren Ergebnis führt die kapitalistische Entwicklung zur Expropriation in neuer Form: zur Expropriation der Kapitalisten durch Kapitalisten selbst, durch das Mittel des Konkurrenzkampfes und der Konzentration der Kapitalien. Dieser Vorgang bildet nach Marx seinerseits die materielle Grundlage zur dritten Form der Expropriation: zur Enteignung der Kapitalisten durch die stets anschwellende und durch die kapitalistische Produktionsweise selbst geschulte, vereinte und organisierte Arbeiterklasse, mit anderen Worten, zur Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft. Die Konzentration des Kapitals ist somit für die sozialistischen Bestrebungen von entscheidender Bedeutung. Sie stellt die historische Aufgabe: die Einführung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung; sie produziert die Kräfte zur Lösung der Aufgabe: die Proletarier; und sie schafft die Mittel zur Lösung: die gesellschaftliche Produktion. Kann auch die Lösung selbst, das heißt die sozialistische Umwälzung, nur aus dem Bewußtsein, dem Willen, dem Kampfe des Proletariats entspringen, so schafft doch die Konzentration des Kapitals ebenso die materiellen Voraussetzungen des Kampfes selbst wie seines siegreichen Ausganges. Indem Bernstein die Tatsache der Konzentration bezweifelt, stellt er die wichtigste wirtschaftliche Voraussetzung des Sozialismus in Frage, und es ist höchst wichtig, in diesem Punkte völlige Klarheit zu schaffen.
Bernstein führt zur Bekräftigung seiner Ansichten, daß der Mittelbetrieb, entgegen der Marxschen Annahme, nicht im Rückgang begriffen ist, eine Reihe von statistischen Daten für England, Österreich, Frankreich, die Schweiz und die Vereinigten Staaten an. Aber für jedes dieser Länder bietet er uns die Ergebnisse je einer Zählung und nicht mehrerer Zählungen. Seine Zahlen können uns also über die Richtung der kapitalistischen Entwicklung in jenen Ländern nicht das geringste sagen. Sie zeigen uns höchstens, wie weit die Konzentration dort bereits vorgeschritten ist, wie hoch die Aussichten der sozialistischen Umwälzung stehen. Aber das sind Fragen, die uns hier gar nicht interessieren, denn nicht darauf kommt es ja an, wie bald wir die Umwälzung in Angriff nehmen können, sondern ob wir uns überhaupt in der Richtung auf dieselbe entwickeln. Auf statistische Untersuchungen der Frage, wie weit die Welt noch vom Zukunftsstaat entfernt ist, dürfen wir wohl verzichten. Dann bleiben aber von dem ganzen Zahlenmaterial, das Bernstein vorführt, nur die Ziffern der deutschen Berufs- und Betriebszählungen übrig.
Die Zusammenstellung der statistischen Ergebnisse von 1895 und 1882 führt Bernstein mehrmals vor. Was zeigt uns diese Zusammenstellung? Wollte man bloß Bernstein widerlegen, so könnte man sich die Arbeit sehr leicht machen: Man brauchte bloß ihn selbst sprechen zu lassen. Noch im November 1896 schrieb Bernstein nach einer eingehenden Prüfung derselben statistischen Tabellen von 1895 und 1882 in der Neuen Zeit:
„Berücksichtigt man die bedeutenden Verschiebungen in der Verteilung der Arbeitstätigen nach Betriebsklassen, wie sie die neueste Gewerbestatistik aufzeigt, hält man dazu die unbestrittene und unbestreitbare Tatsache, daß die Produktivkraft der Arbeit in den großen Betrieben am stärksten gestiegen ist, so wird man die Folgerung nicht zu kühn finden, daß, wenn 1882, gering gerechnet, zwischen 47 und 54 Prozent der Gesamtproduktion in Industrie und Gewerbe auf die fabrikmäßige Großindustrie entfiel, der Anteil dieser heute nicht geringer als zwischen 60 und 70 Prozent der Gesamtproduktion sein kann. Zwei Drittel, wenn nicht drei Viertel der gewerblichen Produktion Deutschlands gehören der fabrikmäßigen Großproduktion, dem kollektivistischen Großbetrieb. Die Tatsache wird dem Auge durch tausend Umstände verdeckt, vor allem dadurch, daß ein sehr großer Teil dieser Produkte der großen Industrie Halbfabrikate sind und ein anderer uns durch Personen vermittelt wird, die nur scheinbar an seiner Herstellung beteiligt, in Wirklichkeit in bezug auf sie nichts als Händler sind. Aber an ihrer Richtigkeit scheint kein Zweifel möglich.“ [1]
Bernstein selbst konstatierte also vor kurzem, daß die fabrikmäßige Großindustrie, die 1882 erst die Hälfte der nationalen Produktion lieferte, dreizehn Jahre später bereits zwei Drittel, wenn nicht drei Viertel derselben erzeugte. Das ist also nicht nur eine unzweifelhafte, sondern sogar eine sehr rapid vor sich gehende Konzentration.
Dieselbe Tatsache kommt zum Vorschein, wenn wir die Zahl der Betriebe in den einzelnen Betriebsgrößen vergleichen: Während die Gesamtzunahme der Betriebe von 1882 bis 1895 4,6 Prozent betrug, vermehrten sich die Kleinbetriebe (1–5 Personen) um 1,8 Prozent, die Riesenbetriebe (über 1.000 Arbeiter) um 100 Prozent!
Der Anteil der Kleinbetriebe an der Gesamtsumme der Betriebe ist freilich immer noch ein riesiger (1882 96 Prozent, 1895 93 Prozent), aber das Bild ändert sich, wenn wir die beschäftigten Personen in Betracht ziehen. Die Gesamtzahl der im Gewerbe beschäftigten Personen wuchs in dem genannten dreizehnjährigen Zeitraum um 40 Prozent, die der im Kleingewerbe Beschäftigten nur um 10 Prozent, die der in den Riesenbetrieben um 110 Prozent! Die Kleinbetriebe, die 1882 noch fast zwei Drittel der gewerblichen Bevölkerung umfaßten, enthielten 1895 weniger als die Hälfte derselben.
So zeigt uns die Statistik der beiden letzten Gewerbezählungen ebenso in bezug auf die Zahl der Betriebe wie auf die produzierte Menge, wie auf die Zahl der beschäftigten Arbeiter einen starken relativen Rückgang des Kleingewerbes und einen starken Fortschritt der Riesenproduktion.
Sehen wir aber weiter, in welchen Produktionszweigen eigentlich der Kleinbetrieb noch am stärksten vertreten ist. In den eigentlichen Industriebranchen – im Bergbau, der chemischen Industrie, der Textilindustrie, dem Maschinenbau, der Papierindustrie, in der Industrie der Steine, Erden und der Leuchtstoffe – in all den Zweigen, die die Grundlage der kapitalistischen Produktion bilden und die große Masse der Arbeiterbevölkerung beschäftigen, hier finden wir den Kleinbetrieb schon zum größten Teil verdrängt durch den Großbetrieb. Ungefähr die Hälfte bis drei Viertel der hier beschäftigten Personen sind in Betrieben mit über 50 Arbeitern konzentriert.
Die eigentlichen Domänen des Kleinbetriebes sind Tierzucht und Fischerei, Bekleidungsgewerbe, Beherbergungs- und Handelsgewerbe, Gärtnerei und die künstlerischen Gewerbe. Hier sehen wir mehr als die Hälfte bis über vier Fünftel der Beschäftigten in Zwergbetrieben mit 1–5 Personen zersplittert. Aber auch hier wirkt die Tendenz der Konzentration ganz deutlich, wenn man die Ergebnisse von 1895 und 1882 vergleicht: Während die Arbeiterschaft der kleinen Betriebe (1-5 Personen) in diesen Zweigen (ausgenommen allein die Kunstgärtnerei) um wenige Prozente gewachsen ist, hat sich die der Großbetriebe (über 50 Personen) verdoppelt, vervierfacht, ja in einigen Zweigen verfünffacht und versiebenfacht. Also auch in der eigentlichen Domäne des Kleinbetriebes wird letzterer vom Großbetrieb überholt und zurückgedrängt.
Von der ganzen Produktion bleiben in letzter Linie bei näherem Zusehen bloß zwei Gewerbe, in denen die im Kleinbetrieb beschäftigte Personenzahl rascher wächst als die Bevölkerung: das Geschäft der Bierwirte und das der Kleinkrämer. Aber im „Erquickungsgewerbe“ führen die meisten Geschäfte nur eine nominell selbständige Existenz, während sie in der Tat bloß Anhängsel großer Brauereien sind. Die Zunahme des Kleinbetriebes ebenso hier wie im Zwischenhandel ist, weit gefehlt, ein Zeichen der Lebensfähigkeit des Kleinbetriebes zu sein, vielmehr ein Produkt seiner Zersetzung. Der Kleinbetrieb ist hier ebenso ein Mittel, das Kleingewerbe in direkte Abhängigkeit vom Proletariat zu bringen, wie zugleich oft nur eine Übergangsstufe des Kleinbürgertums selbst in das Proletariat.
Endlich noch ein Zweig der Wirtschaft weist eine sehr starke Verbreitung des Kleinbetriebes auf: das Verkehrsgewerbe. Aber auch hier bietet die Statistik nur ein ganz schiefes Bild der Wirklichkeit: Während gerade die bedeutendsten modernen Verkehrszweige, die Eisenbahnen, Post und Telegraphen, Gemeindeanstalten für Wasserversorgung, Kehrichtabfuhr etc. nicht in der Statistik figurieren, machen sich in ihr Tausende von Dienstmännern, Totengräbern und Droschkenkutschern als ebenso viele „Betriebe“ breit.
Man fasse alle diese Ziffern zusammen und frage sich dann, ob Bernstein ein Recht hat zu behaupten, das von Marx gezeichnete Bild der kapitalistischen Konzentration entspreche nicht der Wirklichkeit. Wenn je eine Theorie eine glänzende Bestätigung fand, so die Marxsche in den Zahlen der deutschen Berufs- und Betriebszählungen. Überall schreitet der Großbetrieb siegreich vor und ruft den Kleinbetrieb auf der anderen Seite nur wieder ins Leben, um ihn unter dem Schein einer selbständigen Existenz in gänzliche Abhängigkeit von sich zu bringen. Was von den „Hunderttausenden von Unternehmungen“ bleibt, die nach Bernstein einer sozialistischen Umwälzung hinderlich in den Weg treten, sind nach näherem Zusehen – Kautsky gelangt hier fast wörtlich zum gleichen Resultat wie Parvus in seiner ersten Artikelserie gegen Bernstein in der Sächsischen Arbeiter-Zeitung [2] – Obstfrauen, Näherinnen, Friseure, Totengräber, Dienstleute und Droschkenkutscher!
Soviel über die Konzentration in der Industrie. Nun fragt es sich, ob die Marxsche Theorie nicht in der Landwirtschaft Bankrott erlitten hat.
1. Eduard Bernstein: Probleme des Sozialismus, in: Die Neue Zeit (Stuttgart), 15. Jg. 1896/97. Erster Band, S. 310/311.
2. Diese Serie von 10 Artikeln unter dem Titel E. Bernsteins Umwälzung des Sozialismus erschien vom 28. Januar bis 1. März 1898 in der Sächsischen Arbeiter-Zeitung.
Zuletzt aktualisiert am 10.1.2012