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DZA, Hist. Abt. II, Merseburg, Ministerium des Innern, Rep. 77, Tit. 343 A, Nr. 152, Adh. 47.
Wilhelm Liebknecht, Gegen Militarismus und Eroberungskrieg, Berlin 1986, S.100-58.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
An das deutsche Volk!
Der Reichstag ist heute aufgelöst worden [2]; damit ist unser Mandat erloschen, und die Wähler Deutschlands haben innerhalb fünf Wochen (am 21. Februar) an die Wahlurne zu treten, um ihr Urteil abzugeben zwischen Reichstag und Reichsregierung. In dem Konflikt, welcher zur Auflösung geführt hat war uns, den Abgeordneten der sozialdemokratischen Partei, die wir leider zur Zeit der tätigen Mitwirkung unserer durch Inhaftierung verhinderten Genossen [3] entbehren müssen, mit denen wir jedoch im Geist uns völlig eins wissen, der Weg klar vorgezeichnet: Unwandelbar auf dem Boden unseres Programms stehend, mußten wir jeden Kompromiß verwerfen, im Interesse des arbeitenden Volkes mußten wir der Regierung, welche eine Verstärkung des Militärs forderte, jeden Mann und jeden Groschen verweigern. Mit dem Militarismus, welcher ein notwendiger Auswuchs des herrschenden Staatshund Gesellschaftssystems ist, gibt es für die Sozialdemokratie ebensowenig eine Aussöhnung wie mit diesem System selbst. Der Militarismus ist unverträglich mit der Freiheit und dem Wohlstand der Völker und legt es in die Hand der Machthaber, ohne Zustimmung der Volksvertretungen verheerende Kriege herbeizuführen. Wir verlangen die allgemeine Volksbewaffnung, die Erziehung der gesamten Nation zur Wehrhaftigkeit, die Schaffung eines Volksheeres, welches die ganze Wehrkraft der Nation umfaßt. Ein solches Heer ist zur Verteidigung des Landes doppelt und dreifach so stark wie das gegenwärtige, zum Angriff auf andere Nationen nicht zu verwenden und folglich eine Bürgschaft des Friedens. Mit der Beseitigung des Militarismus ist der Weltfriede gesichert.
Wenn wir von dem Militarismus und dessen Vertretern absehen, ist eine ernstliche Kriegsgefahr überhaupt nicht vorhanden; die Völker wollen und brauchen den Frieden. Je größer die Zivilisation eines Volkes, desto höher sein Friedensbedürfnis. Eine Gefahr birgt allein das halbbarbarisch-despotische Rußland, und dieser Gefahr wird erfolgreich begegnet durch einen Bund der Kulturvölker. Aber das schlimmste Hindernis eines solchen Bundes sind die kolossalen Kriegsrüstungen der Gegenwart, die in Gestalt des „bewaffneten Friedens“ einen unerträglichen Zustand geschaffen haben, verglichen mit dem der Krieg selbst kaum als das größere Übel erscheint. Daß ein Zustand nicht fortdauere, bei dem jeder Funke einen Weltbrand verursachen kann, das liegt, wenn wir eine winzige Minderheit ausnehmen, im Interesse des gesamten Volkes.
Der Reichskanzler hat für die kommende Wahlschlacht das Losungswort gegeben: „Kaiserliches oder Parlamentsheer!“
Diese Parole drückt den vorhandenen Gegensatz nicht richtig aus; die Frage, welche zur Entscheidung steht, lautet: „Gilt in Deutschland der Wille des Reichskanzlers mehr als der Wille der Volksvertretung?“
Wir Sozialdemokraten sind keine Anhänger des parlamentarischen Regierungssystems, welches gegenwärtig nur den Anschauungen und Interessen der Bourgeoisie entsprechen kann, aber da wir die Volksherrschaft erstreben, müssen wir für die Volksvertretung die äußersten Machtbefugnisse fordern.
Hat die Volksvertretung in Deutschland bisher nicht die Interessen des Volkes so gewahrt, wie es sein sollte, so liegt die Schuld in erster Linie an dem Volke selbst, das in seiner Mehrzahl nicht Vertreter der Volksinteressen, sondern Vertreter von Sonder- und Klasseninteressen in den Reichstag gewählt hat. Indem wir uns an das Volk wenden, verlangen wir vor allem von ihm, daß es seine Interessen erkenne und sie bei der bevorstehenden Wahl zur Geltung bringe.
Am besten wird dies geschehen, ja einzig und allein wird dies geschehen durch die Wahl sozialdemokratischer Abgeordneter.
Was insbesondere die Frage anbelangt, welche den Anlaß zur Auflösung geliefert hat, mußten wir auf das entschiedenste festhalten an der einjährigen Feststellung des Budgets.
Das Budgetrecht, welches das Hauptmachtmittel der Volksvertretung bildet, ist ein bloßes Blendwerk, wenn es nicht mit alljährlicher Budgetbewilligung verbunden ist. Von Seiten der übrigen Oppositionsparteien war es deshalb eine Schwäche, daß sie durch Gewährung des Triennats (des dreijährigen Militärbudgets) dieses wichtigste Machtmittel preisgaben.
Unser Programm ist allbekannt. Dasselbe läßt sich in wenige Sätze zusammenfassen:
Hebung des Volkswohlstands und Herbeiführung des gesellschaftlichen und internationalen Friedens durch eine gründliche Sozialreform, deren Endziel die genossenschaftliche Organisation der Arbeit an Stelle der regellosen kapitalistischen Produktion ist; Beseitigung aller indirekten Steuern; Ersetzung aller vorhandenen Steuern durch eine einzige progressive Einkommen-, Besitz- und Vermögenssteuer; eine der Höhe der Wissenschaft entsprechende allgemeine Volkserziehung, Schutz der persönlichen Freifeit, Abschaffung aller Ausnahmegesetze, die nur eine äußerlich mildere Form des Bürgerkrieges sind, gleiches Recht für alle!
Unsere Tätigkeit als Abgeordnete war von unserm Programm diktiert und wird, falls das Votum der Wähler unser Mandat erneuert, auch in Zukunft von unserm Programm diktiert sein. Für uns ist Kompromiß gleichbedeutend mit Prinzipienverrat. Nicht, daß wir den Erfordernissen praktischen Schaffens unzugänglich wären – wir haben bei jeder Gelegenheit seit es Vertreter der Sozialdemokratie im Reichstage gibt, den tatsächlichen Beweis geliefert, daß wir bei einer Gesetzgebung zugunsten des Volkes zu ernster Mitwirkung bereit sind. Wir erinnern an unseren Entwurf eines Arbeiterschutzgesetzes, an unseren Antrag zum Schutze des Koalitionsrechts, an unsere Anträge zu dem Kranken- und Unfallversicherungsgesetz und Hilfskassengesetz, welche es bezweckten, diesen Gesetzen ihren schwerfällig bürokratischen Charakter zu nehmen und sie den Arbeitern nützlich zu machen, an unsern Antrag zugunsten der Familien der Landwehrleute, an unsern Antrag zur Milderung des Exekutionsverfahrens, an unsere Anträge zur Entschädigung unschuldig Verurteilter und Inhaftierter, zur Sicherung der Wahlfreiheit. Jedem Angriff auf die Rechte des Volkes, jedem Versuch, die Lasten des Volkes zu vermehren und die Lebensmittel des Volkes zum Vorteil des Großgrundbesitzes und Großkapitals zu verteuern, sind wir mit voller Kraft entgegengetreten und haben keine Gelegenheit versäumt, für die Interessen der Arbeiter und die Forderungen der Humanität und Gerechtigkeit einzustehen.
Wir glauben durch unsere ganze Tätigkeit im Reichstage gezeigt zu haben, daß unsere Sache die Sache des Volkes ist.
Wir erwarten von dem Volk, daß es zu uns steht.
Siegt die Regierung in dem jetzt beginnenden Wahlkampf, so ist die Volksvertretung zu einer Geldbewilligungsmaschine herabgedrückt, das Branntwein- und Tabakmonopol werden uns aufgedrängt, die Steuerschraube wird noch schärfer angezogen, und das allgemeine Wahlrecht wird vernichtet. Kein Zweifel, das allgemeine Wahlrecht steht in Gefahr!
Das allgemeine Wahlrecht, der Ausdruck der Volkssouveränität, ist gegenwärtig die einzige Waffe, durch welche das Volk seine Forderungen zur Geltung bringen kann und durch deren Besitz es erst mündig geworden ist. Die Entziehung des Wahlrechts bedeutet die Entmündigung des Volks – und jede sogenannte Einschränkung oder Regulierung des Wahlrechts, unter welch harmloser Form sie sich auch darbieten möge, läuft darauf hinaus, die Massen des arbeitenden Volkes, d.h. die Masse, welche die Gesellschaft erhält und den Staat auf ihren Schultern trägt, ihres Wahlrechts zu berauben, also politisch zu entmündigen.
Die Beschränkung des allgemeinen Wahlrechts ist die Proklamation des nackten Klassenstaats, und die sozialdemokratische Partei, welche den Klassenstaat prinzipiell bekämpft, hat das Recht, von dem Volke zu verlangen, daß sie in diesem Kampfe von den Massen unterstützt werde.
Alle anderen Parteien stehen auf dem Boden des Klassenstaates und der Klassenherrschaft und sind deshalb gegenüber dem politischen und sozialen System, welches der Ausfluß und Ausdruck dieser Klassenherrschaft ist zu konsequentem Handeln unfähig.
Angesichts der beispiellosen Verfolgungen, deren Zielscheibe seit 1878 und namentlich in neuester Zeit die Sozialdemokratie ist und die sich aller Wahrscheinlichkeit nach steigern werden, ermahnen wir die Wähler und insbesondere unsere Parteigenossen zur Besonnenheit. Zur Einigkeit zu mahnen, haben wir nicht nötig. Nichts darf die Schlagfertigkeit der Partei beeinflussen. Das gemeinsame Ziel erheischt unter allen Umständen Unterordnung des einzelnen unter die Mehrheit der Gesinnungsgenossen. Der Wahlkampf vollzieht sich unter den günstigsten Bedingungen für unsere Partei. Von den glänzenden Versprechungen, mit denen die Ära der neuen Wirtschaftspolitik eingeleitet wurde, hat sich nicht eine erfüllt; der arme Mann befindet sich in einer schlimmeren Lage als früher, und kein Landmann, kein Handwerker, kein Kleingewerbetreibender und namentlich kein Arbeiter kann mit den Früchten des herrschenden Systems vor Augen noch an demselben festhalten.
Das sozialdemokratische Prinzip zeigt den Weg zur Rettung, und hiermit appellieren wir an das Volk. Möge es wählen zwischen uns und unseren Feinden, die auch des Volkes Feinde sind!
Berlin, 14. Januar 1887
W. Blos, W. Bock, B. Geiser, F. Geyer,
C. Grillenberger, F. Harm, W. Hasenclever,
A. Heine, M. Kayser, J. Kräcker, W. Liebknecht,
H. Meister, W. Pfannkuch, H. Rödiger, A. Sabor,
G. Schumacher, P. Singer, W. Stolle, Ph. Wiemer
1. Der Aufruf zur Reichstagswahl am 21. Februar 1887, den Liebknecht unter Mitwirkung von Paul Singer verfaßte, wurde in vielen tausend Exemplaren in ganz Deutschland verbreitet. Die Wahlen fanden in einer Atmosphäre des Chauvinismus und der Kriegspanik statt. Die beiden konservativen Parteien und die Nationalliberale Partei hatten sich zu einem Wahlkartell zusammengeschlossen und behielten dadurch die absolute Mehrheit im Reichstag. Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands errang mit 763.128 Stimmen ihren größten Wahlerfolg seit Bestehen der Partei, gewann aber nur 11 Mandate statt bisher 24. Auch Liebknecht wurde erst bei einer Nachwahl im August 1888 als Abgeordneter in den Reichstag gewählt.
2. Den Anlaß für die Reichstagsauflösung am 14. Januar 1887 bildete die dem Reichstag am 25. November 1886 zugegangene Militärvorlage. Sie sah für die nächsten sieben Jahre eine Erhöhung der Friedenspräsenzstärke des Heeres um zehn Prozent vor. Der Reichstag haue jedoch die geforderte Heeresvermehrung mit 183 gegen 154 Stimmen nur für drei statt für sieben Jahre bewilligt.
3. Die gewählten Reichstagsabgeordneten Ignatz Auer, August Bebel, Johann Heinrich Wilhelm Dietz, Karl Frohme, Louis Viereck und Georg v. Vollmar waren aufgrund der ihnen im Freiberger Geheimbundprozeß 1886 zudiktierten Strafen inhaftiert.
Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003