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Mit in der Debatte der Arbeiterklasse über die Revolution steht die Frage des Tempos. Zwischen Kleingläubigen, bei denen alles „noch im weiten Feld steht“ und Sanguinikern, die denken, es könnte „morgen schon losgehen“, wenn nicht von irgendwem irgendwo gebremst würde, schwanken die Meinungen her und hin. Selten aber werden bei dieser Fragestellung konkret die Faktoren bezeichnet, die für das Rasch oder Langsam die entscheidenden sind, so daß die Frage über die Dauer der Revolution sich nicht erhebt über das Niveau der Frage, ob ein Tag kurz oder lang sei. Dem, der im Gefängnis sitzt, kommt er lang, dem, der an einem Frühlingstag im Walde geht, kommt er kurz vor, und doch ist für beide ein Tag, der von vierundzwanzig Stunden. In Wirklichkeit ist der Gang der Revolution abhängig von Faktoren zweierlei Art: objektiven und subjektiven. Objektive Faktoren sind die Stärke des Gegensatzes zwischen Produktionsverhältnissen und Verteilungsordnung, die Möglichkeit und Fähigkeit der bestehenden Produktionsordnung, noch weiter zu funktionieren, die Lage des Proletariates, die Schärfe des Gegensatzes zwischen Proletariat und Bourgeoisie, die Zuspitzung der Krisen innerhalb der Weltbourgeoisie selbst usw. Es erübrigt sich an dieser Stelle, schon oft Gesagtes noch öfter zu wiederholen. Die wachsende Arbeitslosigkeit, die wachsende Verelendung des Proletariats wie des gewerblichen und intellektuellen Mittelstandes und des Beamtentums, der immer höher steigende Staatsbankrott, die Neulagerung der bourgeoisen Staaten zu neuen feindlichen Interessengruppen, der Weltgegensatz der Unterdrücker gegen die Unterdrückten aller Länder, die letzteren zum erstenmal in der Weltgeschichte zu einem bewußten, weltpolitisch denkenden und wollenden Körper vereinigt, in der Kommunistischen Internationale mit Sowjetrußland als Haupt: das sind die objektiven Faktoren.
Hier sollen uns vielmehr die subjektiven Faktoren oder vielmehr der subjektive Faktor, der heute, bei jener Gestaltung der objektiven Verhältnisse, der entscheidende ist, beschäftigen: inwieweit ist die revolutionäre Klasse willens und fähig, ist sie reif, die Macht zu übernehmen? Inwieweit ist die konterrevolutionäre Klasse geistig zermürbt und matt geworden, daß sie sich die Macht entwinden läßt? Diese beiden Kräfte, der Erobererwille der revolutionären Klasse, der Verteidigungswille der konterrevolutionären, leben nicht als getrennte nebeneinander: die eine mißt sich an der anderen ab; der Kampf der Parteien ist ihr Widerspiel, der Besitz der Staatsgewalt ist ihr Ziel und die Stärke des Gebrauches der Staatsgewalt ihr Maßstab.
Es ist oft festgestellte Tatsache, daß in diesem Sinne, trotz steigenden wirtschaftlichen Verfalles, die deutsche Bourgeoisie sich konsolidiert hat. Die Staatsgewalt war im November 1918 „Niemandsland“ geworden. Sie war der Bourgeoisie entglitten, und da ist heute keiner, der behaupten wollte, das Proletariat habe sie aufgenommen. Die Bourgeoisie war, trotz der betäubenden Schläge, die sie erhalten hatte, die erste auf den Beinen; die Noskeschen Massenmorde im Januar 1919 und dann weiter bis in den März 1919 waren ihre Wegmale, die Weimarer Verfassung das äußerlich erkennbare Zeichen, daß sie sich wieder als die Herrin fühlte. Seitdem hat die Herrschaft der Bourgeoisie – im politischen Sinn – in Deutschland keine ernste Erschütterung mehr erfahren: der Kapp-Putsch, der von rechts und links her zu einer Erschütterung hätte führen können, ging glimpflich an ihr vorüber.
Dieser Sieg der Bourgeoisie ist nun freilich nichts Absolutes, sondern im höchsten Sinn etwas Relatives, das seinen Charakter als Sieg nur so lange erhält, als die Kräfte der revolutionären Klasse jene Kräfte nicht übertreffen. Daß die Kräfte des Proletariats imstande sind, jene zu überflügeln, steht außer Frage. Nicht nur, weil soviel mehr proletarische Fäuste sind als bourgeoise Glacehandschuhe: die Bourgeoisie ist unter dem Druck des ständig fortschreitenden wirtschaftlichen Zerfalls, ist völlig erfüllt von dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit ihrer Lage, lebt vom Tag auf den anderen, sie hat keine Hoffnungen mehr. Das Proletariat ist die einzige Klasse, die den Stern der Hoffnung und damit des Sieges in der Brust trägt: der physische und der – um mit Napoleon zu reden – moralische Faktor sind auf Seiten des Proletariats und damit der Sieg selbst.
Der Stand der revolutionären Kräfte, deren Entfaltung ist also alles. Haben sie sich schnell oder langsam entwickelt? In gewissem Sinne gibt Marx eine Antwort. Er sagt (Klassenkämpfe in Frankreich, Ausgabe 1895, S. 20):
Nicht in seinen unmittelbaren ... Errungenschaften brach sich der revolutionäre Fortschritt Bahn, sondern umgekehrt, in der Erzeugung einer geschlossenen, mächtigen Konterrevolution, in der Erzeugung eines Gegners, durch dessen Bekämpfung erst die Umsturzpartei zu einer wirklich revolutionären Partei heranreifte.
In nichts wird die Schärfe und die Raschheit der revolutionären Entwicklung in Deutschland klarer als hierin. Marx dachte an die Entfaltung der revolutionären im Kampfe gegen die stabilierte konterrevolutionäre Macht. In Deutschland aber, in dieser Revolution, entwickelten sich die revolutionären Kräfte nahezu Schritt haltend mit der Entfaltung der Kräfte der Konterrevolution. Das kommt in zweierlei zum Ausdruck. Die Stärke einer revolutionären Klasse, des Proletariates, wächst proportional mit der Stärke und Zahl ihrer klarsten, bewußtesten und entschiedensten Vorkämpfer. Die Kommunisten in Deutschland nun, im November 1918, bildeten eine Gruppe, und nicht einmal eine große. Die Kommunisten des Februar 1921 bildeten eine Schar von 500.000 Mann. Die andere Erscheinung, in der die bisher wachsende Stärke der revolutionären Kräfte zum Ausdruck kommt, ist die: die deutsche proletarische Klasse hat in den 2½ Jahren der deutschen Revolution schon furchtbare Schläge erhalten. Sie hat Blut in Strömen verloren, sie sank ein-, zwei-, dreimal schwer getroffen dahin und hat sich doch nach kurzem schon immer wieder mit neuen Kräften erhoben, riesengroß und riesenstark. Das hat noch keine Klasse der Welt bisher geleistet. Die Entfaltung der revolutionären Kräfte in Deutschland – mögen Ungeduldige sich noch so sehr darob in Erstaunen setzen – ging in ungeahnt und ungeheuer raschem Tempo voran: das Proletariat, das vier Jahre lang hinter dem Kaiser hergelaufen ist und heute eine halbe Million Kommunisten stellt, hat geistig und politisch ein neues Gesicht bekommen.
Aber, werden die Ungeduldigen sagen, was nutzen uns die Feststellungen, wo das Proletariat die Macht noch nicht erobert hat? Und damit kommen wir zum eigentlichen Problem: was kann die Kommunistische Partei in dieser Situation tun, um die Staatsgewalt zu erobern?
Zuletzt aktualisiert am 9.8.2008