W.I. Lenin

 

Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution

(Die Aprilthesen)

(7. April 1917)


Prawda, Nr.26, 7. (20.) April 1917.
W.I. Lenin, Werke, Bd.24, S.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Erst am 3. April nachts in Petrograd eingetroffen, konnte ich in der Versammlung vom 4. April mein Referat über die Aufgaben des revolutionären Proletariats natürlich nur in meinem eigenen Namen und unter Hinweis auf meine ungenügende Vorbereitung halten. [1]

Das einzige, was ich tun konnte, um mir und gewissenhaften Opponenten die Sache zu erleichtern, war die Ausarbeitung schriftlich formulierter Thesen. Ich habe sie sehr langsam und zweimal vorgelesen, zuerst in der Versammlung der Bolschewiki, sodann in der gemeinsamen Versammlung der Bolschewiki und Menschewiki.

Ich veröffentliche nun diese meine persönlichen Thesen, die bloß mit ganz kurzen erläuternden Anmerkungen versehen sind, deren Gegenstand ich in meinem Referate viel eingehender behandelt habe.

Thesen

  1. In unserer Stellung zum Krieg, der von seiten Rußlands auch unter der neuen Regierung Lwow u. Co. [2] infolge des kapitalistischen Charakters dieser Regierung, unbedingt ein imperialistischer Raubkrieg bleibt, ist auch das kleinste Zugeständnis an das „revolutionäre Oboronzentum“ [3] unzulässig.
    Einem revolutionären Kriege, der die revolutionäre Vaterlandsverteidigung wirklich rechtfertigen würde, kann das klassenbewußte Proletariat zustimmen nur unter der Bedingung: a) des Überganges der Macht in die Hände des Proletariats und der sich ihm anschließenden ärmsten Teile der Bauernschaft; b) des Verzichts in Taten und nicht nur in Worten auf alle Annexionen; c) des tatsächlichen und völligen Bruchs mit allen Interessen des Kapitals.
    Die breiten Schichten der Anhänger des revolutionären Oboronzentums in der Masse, die es zweifellos ehrlich meinen und den Krieg nur als notwendiges Übel gelten lassen, nicht aber weil sie Eroberungen wollen, die jedoch von der Bourgeoisie betrogen werden, muß man besonders gründlich, beharrlich und geduldig über ihren Fehler aufklären. Man muß ihnen den untrennbaren Zusammenhang zwischen Kapital und imperialistischem Krieg klarmachen, man muß ihnen beweisen, daß die Beendigung des Krieges durch einen wahrhaften demokratischen Frieden, nicht durch einen Gewaltfrieden, ohne den Sturz des Kapitals unmöglich ist.
    Organisierung der breitesten Propaganda dieser Auffassung unter den Fronttruppen.
    Verbrüderung.
  2. Die Eigenart der gegenwärtigen Lage in Rußland besteht in dem Übergang von der ersten Etappe der Revolution, die infolge des ungenügend entwickelten Klassenbewußtseins und der mangelhaften Organisiertheit des Proletariats die Bourgeoisie an die Macht brachte, zur zweiten Etappe, die die Macht in die Hände des Proletariats und der armen Schichten der Bauernschaft legen muß.
    Dieser Übergang wird charakterisiert einerseits durch ein Höchstmaß von Legalität (Rußland ist zur Zeit das freieste von allen kriegführenden Ländern), andererseits durch das Fehlen einer Gewaltherrschaft über die Massen, und endlich durch die blinde Vertrauensseligkeit der Massen gegenüber der Regierung der Kapitalisten, der ärgsten Feinde des Friedens und des Sozialismus.
    Diese Eigenart verlangt von uns die Fähigkeit, uns den besonderen Bedingungen der Parteiarbeit unter den ungeheuren, eben erst zum politischen Leben erwachten Massen des Proletariats anzupassen.
  3. Keinerlei Unterstützung der Provisorischen Regierung, Aufdeckung der ganzen Verlogenheit aller ihrer Versprechungen, besonders der des Verzichts auf Annexionen. Entlarvung an Stelle der unzulässigen, Illusionen erweckenden „Forderungen“, diese Regierung, die Regierung der Kapitalisten, solle aufhören imperialistisch zu sein.
  4. Anerkennung der Tatsache, daß in den meisten Arbeiterdeputiertenräten unsere Partei die Minderheit ist, vorläufig sogar in einer schwachen Minderheit gegenüber dem Block aller kleinbürgerlichen, opportunistischen, dem Einflusse der Bourgeoisie unterlegenen und diesen Einfluß im Proletariat zur Geltung bringenden Elemente, von den Volkssozialisten und Sozialrevolutionären bis zum Organisationskomitee (Tschcheidse, Zeretelli usw.), Steklow [4] usw. usf.
    Aufklärung der Massen darüber, daß die Arbeiterdeputiertenräte die einzig mögliche Form der Revolutionsregierung sind, und das daher, solange diese Regierung dem Einfluß der Bourgeoisie unterliegt, unsere Aufgabe einzig und allein sein kann das geduldige, systematische, beharrliche, besonders den praktischen Bedürfnissen der Massen sich anpassende Klarmachen der Fehler und der Taktik.
    Solange wir in der Minderheit sind, ist unsere Arbeit die Kritik und Aufdeckung der Fehler, wobei wir gleichzeitig den unerläßlichen Übergang der gesamten Staatsgewalt auf die Arbeiterdeputiertenräte propagieren, damit die Massen ihre Fehler durch Erfahrung überwinden.
  5. Nicht parlamentarische Republik – eine Rückkehr von den Arbeiterdeputiertenräten zu dieser wäre ein Schritt rückwärts –, sondern eine Republik von Arbeiter-, Landarbeiter- und Bauerndeputiertenräten im ganzen Lande, von unten bis oben.
    Abschaffung der Polizei, der Armee, des Beamtentums. [1*]
    Entlohnung aller Beamten, die durchweg wählbar und jederzeit absetzbar sein müssen, nicht über den Durchschnittslohn eines qualifizierten Arbeiters.
  6. Im Agrarprogramm Verlegung des Schwergewichts auf die Landarbeiterdeputiertenräte.
    Enteignung des gesamten adligen Grundbesitzes.
    Nationalisierung des gesamten Bodens im Lande; über ihn verfügen die örtlichen Landarbeiter- und Bauerndeputiertenräte. Schaffung von besonderen Deputiertenräten der armen Bauern. Errichtung von Musterwirtschaften aus allen großen Gütern (im Umfang von etwa 100 bis 300 Desjatinen, unter Berücksichtigung der örtlichen und sonstigen Verhältnisse und nach dem Ermessen der örtlichen Behörden) unter Kontrolle des Landarbeiterdeputiertenrates und auf öffentlichen Kosten.
  7. Sofortige Verschmelzung aller Banken des Landes zu einer Nationalbank, die der Kontrolle des Arbeiterdeputiertenrates untersteht.
  8. Nicht „Einführung“ des Sozialismus als unsere unmittelbare Aufgabe, sondern einstweilen nur sofortige Übernahme der Kontrolle der gesellschaftlichen Produktion und Verteilung der Erzeugnisse durch den Arbeiterdeputiertenrat.
  9. Aufgaben der Partei:
    1. Sofortiger Parteitag;
    2. Änderung des Parteiprogramms, vor allem:
      1. über den Imperialismus und den imperialistischen Krieg,
      2. über die Stellung zum Staat und unsere Forderung eines „Kommunestaats“. [2*]
      3. Änderung des veralteten Minimalprogramms;
    3. Änderung des Namens der Partei. [3*]
  10. Erneuerung der Internationale.
    Initiative zur Schaffung einer revolutionären Internationale, einer Internationale gegen den Sozialchauvinisten und gegen das „Zentrum“. [4*]

Damit der Leser versteht, wieso ich den „Fall“ gewissenhafter Opponenten als seltene Ausnahme hervorhebe, bitte ich ihn, die obigen Thesen den folgenden Einwand des Herrn Goldenberg gegenüberzustellen: Lenin „hat die Fahne des Bürgerkriegs inmitten der revolutionären Demokratie aufgepflanzt“ (zitiert im Jedinstwo des Herrn Plechanow, Nr.5). [8]

Nicht wahr, eine Perle?

Ich schreibe, lese, kaue durch: „Die breiten Schichten der Anhänger des revolutionären Oboronzentums in der Masse, die es zweifellos ehrlich meinen ... die jedoch von der Bourgeoisie betrogen werden, muß man besonders gründlich, beharrlich und geduldig über ihren Fehler aufklären ...“ Die Herrschaften von der Bourgeoisie aber, die sich Sozialdemokraten nennen, die weder zu den breiten Schichten noch zu den Vertretern der Masse des Oboronzentums gehören, haben die eiserne Stirn, meine Ansichten folgendermaßen wiederzugeben und zu interpretieren: „Die Fahne (!) des Bürgerkrieges“ (vom Bürgerkrieg ist weder in den Thesen noch im Referat auch nur ein Wort enthalten!) „inmitten (!!) der revolutionären Demokratie aufgepflanzt(!)“.

Was ist das? Wodurch unterscheidet sich das von einer Pogromhetze? von der Russkaja Wolja? [9]

Ich schreibe, lese, kaue durch: „... daß die Arbeiterdeputiertenräte die einzig mögliche Form der Revolutionsregierung sind, und daß daher ... unsere Aufgabe einzig und allein sein kann das geduldige, systematische, beharrliche, besonders praktischen Bedürfnissen der Massen sich anpassende Klarmachen der Fehler und der Taktik“ ...

Die Opponenten einer gewissen Sorte aber stellen meine Ansichten als einen Aufruf zum „Bürgerkrieg inmitten der revolutionären Demokratie“ dar!!

Ich habe die Provisorische Regierung deswegen angegriffen, weil sie weder einen baldigen noch überhaupt einen Termin zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung festsetzte und sich auf bloße Versprechungen beschränkte. Ich führte den Nachweis, daß ohne die Arbeiter- und Soldatendeputiertenräte die Einberufung der Konstituante nicht gesichert, deren Gelingen unmöglich ist.

Man unterstellt mir, ich sei gegen die unverzügliche Einberufung der Konstituierenden Versammlung!!!

Ich wäre geneigt, diese als „Phantasien eines Fieberkranken“ zu bezeichnen, hätten mich nicht Jahrzehnte politischen Kampfes gelehrt, Gewissenhaftigkeit der Opponenten als eine seltene Ausnahme zu betrachten.

Herr Plechanow bezeichnete in seiner Zeitung meine Ausführungen als „Fieberphantasien“. Sehr gut, Herr Plechanow! Doch wie täppisch, wie plump und begriffsstutzig sind sie in Ihrer Polemik! Wenn ich zwei volle Stunden im Fieber phantasierte, warum duldeten denn Hunderte von Zuhörern diese „Phantasien“? Ferner: Warum widmet Ihre Zeitung der Wiedergabe von „Fieberphantasien“ eine ganze Spalte fürwahr, mit Ihrer Logik ist es nicht weit her!

Es ist natürlich viel leichter, zu schreien, zu schimpfen, zu zetern, als den Versuch zu machen, darzulegen, zu erklären, sich zu erinnern, wie Marx und Engels in den Jahren 1871, 1872 und 1875 über die Erfahrung der Pariser Kommune urteilten, und darüber, was für einen Staat das Proletariat braucht.

Der ehemalige Marxist Herr Plechanow erinnert sich anscheinend nicht gern des Marxismus.

Ich habe die Worte Rosa Luxemburgs zitiert, die am 4. August 1915 die deutsche Sozialdemokratie einen „stinkenden Leichnam“ genannt hat. [10] Die Herren Plechanow, Goldenberg u. Co. fühlen sich „beleidigt“ ... Um wessentwillen? Um der deutschen Chauvinisten willen, die man Chauvinisten genannt hat!

Die armen russischen Sozialchauvinisten, Sozialisten in Worten, Chauvinisten in der Tat, wissen nicht mehr ein noch aus.

gez.: N. Lenin

 

 

Fußnoten von Lenin

1*. D.h. Ersetzung des stehenden Heeres durch die allgemeine Bewaffnung des Volkes.

2*. D.h. eines Staates nach dem Vorbild der Pariser Kommune. [5]

3*. Statt „Sozialdemokratie“, deren offizielle Führer in der ganzen Welt den Sozialismus verraten haben, indem sie zur Bourgeoisie übergegangen sind (die „Oboronzen“ und die schwankenden „Kautskyaner“ [6]), müssen wir uns Kommunistische Partei nennen.

4*. Als Zentrum bezeichnet man in der internationalen Sozialdemokratie die Richtung, die zwischen den Chauvinisten (= Oboronzen) und den Internationalisten schwankt: Kautsky u. Co. in Deutschland, Longuet u. Co. in Frankreich, Tschcheidse u. Co. in Rußland, Turati u. Co. in Italien, MacDonald u. Co. in England usw. [7]

 

 

Anmerkungen

1. am 3. April nachts in Petrograd eingetroffen, Versammlung vom 4. April

2. Regierung Lwow

3. das „revolutionäre Oboronzentum“

4. Volkssozialisten, Tschcheidse, Zeretelli, Steklow

5. Pariser Kommune

6. „Kautskyaner“

7. Kautsky u. Co. in Deutschland, Longuet u. Co. in Frankreich, Tschcheidse u. Co. in Rußland, Turati u. Co. in Italien, MacDonald u. Co. in England usw.

8. Goldenberg, Jedinstwo, Plechanow

9. Russkaja Wolja

10. Rosa Luxemburg, „stinkenden Leichnam“

 


Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008