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La libre pensée, 12. März 1870.
Übersetzerin: Christa Scheuer.
Deutschsprachige Erstveröffentlichung: Pauls Lafargue, Essays zur Geschichte, Kultur und Politik (Hrsg. Fritz Keller), Karl Dietz Verlag, Berlin 2004.
Stellen, die mit einem Stern * versehen sind, sind Einfügungen des Herausgebers.
Transkription: Fritz Keller.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Seit mehreren Jahren schleppt sich das moderne Theater schwerfällig auf den ausgetretenen Pfaden des Ehebruchs dahin.
Die Frauen unserer Aristokratie und unseres Bürgertums, in Faulheit versumpft, sind nur hirn- und herzlose Puppen, die man mit Seide, Samt, Spitzen und Federn aufputzt: allein der Ehebruch [3] kann ihrem grauen Dasein ein bißchen Farbe verleihen und sie interessant machen. Der Ehebruch ist also die einzige Hoffnung unserer modernen Dramaturgen und wie eine Schafherde stürzen sie sich dicht gedrängt auf dieses gelobte Land. Ihre Heldinnen, vom Blitzstrahl der brennenden Leidenschaft verklärt, in Tränen aufgelöst und wahnsinnig vor Schuldgefühlen, sinken zusammen mit dem Vorhang zu Boden, erdrückt von der Vergebung des Gatten... der allerdings meist eine gründliche Abreibung verdient hätte! Aber da alle Zuschauer, insbesondere die Frauen, die Heldin verstehen, schluchzen sie mit ihr und richten sie im Grunde ihres Herzens wieder auf. Unsere moralinsauren Dramaturgen jedoch, glauben dem Gesetz Rechnung zu tragen, das da sagt: „Du wirst treu und folgsam sein diesem Mann, der Dir nur Hilfe und Schutz schuldet“ und dabei hat der noble Herr Gatte immer das Recht, sich in seiner Rolle abscheulich zu benehmen.
George Sand kehrt zum Schwung ihrer kämpferischen Jugend zurück, sie vergißt den Marquis von Villemer und ihre anderen Idyllen und ist wieder mit erhobener Fahne ins Rampenlicht getreten. [4] Glühend und leidenschaftlich wie einst fordert sie die heiligen Rechte der Natur.
„Der Andere“ ist ein idealistisches Stück. Anstatt ihre These aus Charakteren und Situationen von unbestreitbarer Echtheit hervorgehen zu lassen, belegt sie sie durch Tatsachen und Personen, die ihrer Vorstellung entsprungen sind. Hier liegt der große Fehler des Dramas, sowohl vom Standpunkt der Kunst als auch der Beweisführung. Der Fehler liegt jedoch nicht bei George Sand; sie hält sich nur an die seit langem eingebürgerten Bühnengewohnheiten. Unser modernes Theater wartet noch auf seinen Balzac. [5]
* * *
Hier also die Aussage. Es sollte gezeigt werden, wie ein geradliniger, schöner Charakter unter der idiotischen Erziehung, die uns seit der Kindheit niederbügelt, derart verfälscht werden kann, daß er es fertigbringt, die echtesten und spontansten Aufschreie des menschlichen Organismus zu ersticken.
Hélène von Merangis, einem Ehebruch entsprungenes Kind, von der bigotten Großmutter erzogen, wird mit dem, was man pompös die Moral nennt vollgepumpt. Der Mann, den sie für ihren Vater hält, hat sie weggeschickt und ihr von Kind auf nie das geringste Zeichen der Zuneigung übermittelt. Nur einmal schreibt er ihren Namen, um kundzutun, daß man sie lebendig in einem Kloster begraben soll. Trotz all dem bringt man sie soweit, in ihrem Herzen einen Altar für diesen Mann zu errichten, den sie zärtlich Vater nennt und den sie vergöttert. Und ihr Herz blutet, wenn sie daran denkt, daß dieser Mann sie nicht liebt.
Der „Andere“, der echte Vater, Maxwell, widmet ihr sein Leben, umgibt sie mit Liebe. Hélène liebt ihn. Maxwells größtes Glück wäre es, sie Tochter nennen zu dürfen. Um aber die Mutter Hélènes nicht zu entehren, bewahrt er das Geheimnis ihrer Geburt.
Die Umstände der Handlung bringen es mit sich, daß Hélène alles erfährt. Ihre Erziehung hat ihr ursprüngliches Wesen derart verbildet, daß sie für ihren legalen Vater, der, nachdem er ihre Mutter vernachlässigt und das Beispiel der Untreue gegeben hatte, der sich als „französischer Philosoph“ [6] gar freute, sie schuldig zu sehen, denn so konnte er ruhigen Gewissens seinen eigenen Ausschweifungen nachgehen, für diesen Mann also, der so Angst hatte, seine Eigenliebe angekratzt zu sehen, tötet sie fast ihren wahren Vater Maxwell, den sie, die Kleine, von der Seite ihrer Mutter reißt, welche aus Verzweiflung stirbt. Für den Mann, der ein legaler Henker war, hat sie kein Wort des Vorwurfs und sie klagt Maxwell an; einzig und allein er war der Grund für ihr eigenes Unglück und das ihrer Mutter.
Maxwell, zutiefst von der Anschuldigung seiner Tochter getroffen, die nicht verzeiht, weil „Verzeihen erniedrigt“, schreit auf:
Die unglückliche Frau, die Dir das Leben schenkte, soll das gegebene Wort gebrochen haben? Aber wer hat ihr denn zuerst das Beispiel gegeben und ihr dann die traurige Unausweichlichkeit des Verlassens aufgezwungen? Das ist ein Schandfleck, den diese Frau nicht verdient hat, öffentliche Anzweiflung ihrer eigentlichen Unschuld, gebilligter Verdacht, Ermunterung für die Dreistigkeit aller! Es war Verwirrung und Fall eines schwachen Wesens, dem der Meister, sein legitimer Beschützer, plötzlich sagt: „Steh still, geh nicht weiter, ich gehöre einer anderen Liebe, Du störst mich. Paß’ selbst auf Dich auf oder laß’ es bleiben, das ist mir egal. Es wird mir sogar nützlich sein, wenn Du Dich schuldig machst, denn das erlaubt mir, es auch selbst mehr und mehr zu sein“. – Der so spricht und handelt, ist also der Achtbare? Und der Schuldige ist laut Dir derjenige, der diese gebrochene, beschimpfte, dem Erstbesten, der aus Begehren oder aus Mitlied bei ihr stehenbleibt, ausgelieferte Frau aufrichtet, sie in die Arme nimmt, ihr sein Leben schenkt? Das ist der Schuldige? Nichts kann ihn freisprechen? Nicht seine Leidenschaft, seine Jugend, seine Reue, sein für sie vergossenes Blut? Nun, es steht Dir frei, das zu glauben. Ich fühle aber eine brennende Revolte gegen diese hartherzigen Aussagen und ich rufe die Gerechtigkeit künftiger Zeiten an: bei menschlicher Beurteilung muß Mitleid eine Rolle spielen, dann wähle man zwischen Schutz und Vergebung!
Aber George Sand: Nicht Mitleid muß gefordert werden. Wenn Sie glauben, daß „Verzeihen erniedrigt“, so demütigt das Mitleid. Solange die Frauen nicht selbst ihren Unterhalt verdienen, solange Kinder zu Lasten der Frau gehen, ist die Ehe mit allen ihren Folgen notwendig: denn die Ehe ist ja nur eine Angelegenheit von Absicherungen. Sehen sie was in den Industriegebieten vor sich geht: überall wo die Industrie Frauen und Kinder miteinbezog und ihnen die Möglichkeit zu unabhängigem Leben gab, ziehen die Frauen es vor, nicht zu heiraten und ihre Freiheit zu bewahren. Die Verteidiger der Frauen mögen haufenweise Gefühle nennen, einen Berg schöner Worte hervorbringen, den sozialen Stand der Frauen werden sie um kein Jota verändern. Das Problem liegt wo anders: das ist [...] [7]
Wir würden gern die drei Hauptpersonen einer detaillierten Kritik unterziehen: Maxwell, Marcus und Hélène, aber es fehlt an Platz. Wir können nur auf die drei Liebesszenen hinweisen, die sehr originell und von entzückendem Reiz sind. Sie sind vielleicht die schönsten Szenen des Stücks. Die Szenen mit Maxwell und seiner Tochter und Marcus sind manchmal von erstaunlicher Kraft.
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Vier große Künstler brillieren das ganze Stück hindurch. Sarah Bernhardt [8], die beiden Bertons [9] und Raynard.
Sarah Bernhardt lebte, litt und weinte mit ihrer berührenden Stimme als Hélène de Merangis. Berton (Vater) hat in diesem idealistischen Stück, in dem er einen Schotten spielt, echte Ausdrucksmöglichkeiten gefunden, die die Zuschauer hinrissen. Er spielte so gut wie im Batard [Bastard], diesem brutalen Stück, wo es seiner ganzen Wärme bedurfte, um die Tatsachen auszugleichen, die in so kruder und wunderbarer Weise ausgebreitet werden. Die im Stück am stärksten ausgearbeitete Person des Marcus ist ohne jeden Zweifel vollendet von Berton (Sohn) dargestellt. Erst kalt, dann ... leidenschaftlicher wurde er, so wie sein Vater, in der hitzigen Szene des dritten Akts, bejubelt. Raynard ist auf der Bühne zu Hause, er bewegt sich, spricht, lacht mit einer Jovialität ohnegleichen, er ist kein Schauspieler, sondern ein Pädagoge, ehrlich und maßvoll. Adèle P. bewies große Selbstaufopferung, als sie eine solche Rolle akzeptierte, wobei sie dennoch viel Talent einbringen konnte.
Wir wohnten der dritten Vorstellung bei. Im Saal saß echtes Publikum, keine Journalisten oder sonstige Blasierte. Und nach der erlebten Begeisterung kann man George Sand einen großen Erfolg voraussagen.
1. * Auf Französisch erschienen in La libre pensée [Die freie Meinung] vom 12. März 1870. Deutschsprachige Erstveröffentlichung. Übersetzerin: Christa Scheuer.
2. * Die Schriftstellerin George Sand (1804–1876) kämpfte an der Seite der Revolutionäre 1848 für eine soziale Republik und engagierte sich Zeit ihres Lebens gegen eine heuchlerische Moral, weshalb sie unter anderem von Heine, Dostojewski und Bakunin geschätzt wurde. „Wirklich, wenn ich sagen höre“, schrieb sie zum Beispiel über die Lage der Arbeiter, „der Arbeiter soll brav, ordentlich, fleißig und sparsam sein, frage ich mich, weshalb man nicht das Beispiel vor das Gebot setzt. Ist es nicht ein ausgezeichneter Wahnsinn, von einer bestimmten Menschenklasse Tugenden zu verlangen, von denen man sich selbst befreit glaubt, besonders wenn ihr diese Tugenden tausendmal schwieriger oder fast unmöglich zu erwerben sind [...]?“ (Le Temps vom 5. September 1871, zit. nach Gisela Schlientz: George Sand – Leben und Werk, F/M. 1987, 318).
In die Literaturgeschichte ist George Sand allerdings vor allem als Freundin von Chopin, Musset, Liszt, Balzac, Sainte-Beuve, Dumas, Flaubert und Turgenjew eingegangen.
Die Premiere des Dramas L’Autre fand am 25. Februar 1870 im Théâtre de l’Odéon in Paris statt – wenige Monate später, am 19. Juli, erklärte Frankreich Preußen den Krieg.
3. * Vgl. dazu Lafargues Studie Der Ehebruch in Gegenwart und Vergangenheit.
4. * Während George Sand in ihrer ersten Schaffensperiode engagierte Novellen, die zur Revolte rufen, schrieb, begann sie ab 1844 mit einer Serie von bukolischen Erzählungen. Zu diesen Idyllen, die sie oft fürs Theater dramatisierte, gehörte auch der 1864 äußerst erfolgreich uraufgeführte Le Marquis de Villemer. Mit L’autre (Der Andere) kehrte Sand gegen Ende ihres Lebens wieder zu ihren Anfängen zurück – eine Wende, die von der Literaturwissenschaft heute weitgehend ignoriert wird.
5. * Honoré de Balzac (1799–1850) zeichnete in den mehr als 40 Bänden seiner Comédie humaine ein dokumentarisches Bild der französischen Gesellschaft. Nach dem Zeugnis von Lafargue (Karl Marx; in: David Rjazanov: Karl Marx als Denker, Mensch und Revolutionär, F/M. 1971, 94) stellte Marx Balzac „an die Spitze aller Romanciers“; „seine Bewunderung war so groß, daß er eine Kritik über dessen großes Werk [...] schreiben wollte, sobald er nur sein ökonomisches Werk vollendet hatte“.
6. * „Es gibt unter den Franzosen sehr unglückliche Leute, die niemand tröstet: das sind die eifersüchtigen Ehegatten. Es gibt welche, die alle Welt haßt: das sind auch die eifersüchtigen Gatten. Es gibt andere, die alle Männer verachten: das sind ebenfalls die eifersüchtigen Gatten [...]. Ein Gatte, der im allgemeinen die eheliche Untreue seiner Frau duldet, findet keine Mißbilligung. Im Gegenteil: Man lobt seine Klugheit“ (Montesquieu in den Persischen Briefen [1721, Brief 55], zit. nach: Ausgewählte Schriften, Berlin o.J., 32ff.).
„Nur ein Dummkopf läßt sich merken, daß er von der Leidenschaft seiner Frau Bescheid weiß; ein kluger Mann aber tut, als wüßte er nichts – und es bleibt ihm auch kaum etwas anderes übrig, als diesen Entschluß zu fassen. Daher sagt man dann auch, daß in Frankreich alle Welt geistreich sei“ (Honoré de Balzac: Physiologie der Ehe – Eklektisch-philosophische Betrachtungen über Glück und Unglück in der Ehe, Leipzig o.J., 372).
7. * Hier bricht der französische Text genau an der Stelle, in der Lafargue seine Ansichten zur Frauenbefreiung darlegen möchte, offensichtlich infolge einer redaktionelle Streichung ab.
8. Sarah Bernhardt (Henriette Rosine Bernard) (1844–1923), berühmte Schauspielerin, debütierte 1862 an der Comédie-Française, wechselte schnell zum Theater Gymnase, schließlich ins Odéon.
9. Künstlerfamilie. Der 1820 geborene Vater, Charles Francis, spielte seit 1863 am Odéon, unter anderem den Marquis de Villemer. Sein Sohn Pierre debütierte 1867 am Theater Gymnase.
Zuletzt aktualisiert am 31.1.2004