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Karl Kautsky, Das Weitertreiben der Revolution, Broschüre herausgegeben und verlegt von der Arbeitsgemeinschaft für staatsbürgerliche und wirtschaftliche Bildung, o.J. (zuerst erschienen in der Freiheit, Nr. 79, 29. Dezember 1918).
HTML-Markierung und Transkription: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.
Nach der Auffassung der Spartakusleute unterscheiden sie sich von den anderen sozialistischen Richtungen dadurch, dass sie die Revolution weitertreiben wollen, während die Mehrheitssozialisten der Gegenrevolution huldigten und die Unabhängigen durch ihre Teilnahme an der Regierung aus Schwäche oder aus Unwissenheit wider ihren Willen die Gegenrevolution unterstützten. Danach besäße die Revolution außerhalb des Spartakusbundes keine sichere Basis mehr.
Doch so klein diese Basis augenblicklich sein mag, die Spartakusleute sind überzeugt, sie werde und müsse rasch wachsen. Noch jede Revolution habe mit der Herrschaft der gemäßigsten unter den Revolutionären begonnen, an deren Stelle immer radikalere Elemente traten, bis die Radikalsten schließlich die Oberhand gewannen. So werde es auch diesmal gehen. Auf die erste gemäßigte Phase der Revolution müsse naturnotwendig die zweite, die radikale, folgen. Ehe wir uns daran machen, diese Behauptung zu prüfen, müssen wir uns darüber klar werden, was wir unter dem Weitertreiben der Revolution zu verstehen haben. Darüber kann kein Zweifel bestehen, dass sie noch nicht zum Abschluss gelangt ist, dass sie erst in ihren Anfängen steht, politisch wie sozial.
Die Militärautokratie ist niedergeworfen, die jedem Fortschritt bisher im Wege stand, jedoch der alte Verwaltungs- und Herrschaftsapparat im Staate und der Armee fungiert weiter. Man stand vor der Wahl, ihn mit einem Schlage zu zertrümmern, damit auch jede Demobilisierung, jede Verwaltungstätigkeit im Staat, ja das ganze gesellschaftliche Leben unmöglich zu machen, oder ihn und damit die Grundlagen des alten Regimes, das uns in den Abgrund gestürzt hat, weiter fortbestehen zu lassen und auf diese Weise die Revolution auf einen vorübergehenden Rollenwechsel zu beschränken. Aus dieser verzweifelten Alternative halfen uns die Arbeiter- und Soldatenräte heraus, die es durch ihre Kontrolle ermöglichten, dass der alte Staatsapparat weiter funktionieren konnte, ohne die Gegenrevolution herbeizuführen.
Doch dieser Zustand kann nur ein vorübergehender sein. Der bisherige Staatsmechanismus muss völlig umgestaltet, die Bürokratie ihrer Macht und vieler ihrer Funktionen entkleidet und unter die Kontrolle demokratisch erwählter Volksvertretungen in der Gemeinde, den Provinzen, den Bundesstaaten, dem Reiche gestellt werden. Gleichzeitig ist das Reich einheitlicher zu gestalten, das Übergewicht Preußens ist zu brechen durch seine Zerspaltung aus einem Bundesstaat in etwa drei, die Kleinstaaterei durch Zusammenschluss in größeren Gebilden zu beseitigen, die Reservatrechte Bayerns und Württembergs, die Souveränitätsrechte der Bundesstaaten aufzuheben. Die Schweiz und die Vereinigten Staaten von Amerika sind Föderativstaaten mit weitestgehender Selbständigkeit der Bundesglieder. Aber es fällt heute dem Kanton Bern nicht ein, einen Gesandten im Kanton Zürich zu unterhalten oder einen eigenen Gesandten nach Paris zu entsenden. Ebenso wenig werden sich Texas und New York etwas Derartiges gestatten. Auch die Staatsbahnen sind in der Schweiz Bundesbahnen, nicht Kantonalbahnen.
Das Deutsche Reich zum mindesten zur Einheitlichkeit der Schweiz oder der Vereinigten Staaten zu erheben, wenn im Augenblick nicht mehr an Einheitlichkeit erreicht werden kann, ist eine ebenso dringende Ausgabe wie die weitestgehende Demokratisierung des Reichs in allen seinen Gliedern.
Das ist die eine Aufgabe der Weiterführung der Revolution. Die andere Aufgabe ist sozialer Natur. Durch weitgehende soziale Reformen, staatliches Eingreifen in die Produktion, in das Wohnungswesen, in den Verkehr ist die Lage der großen Volksmassen, des Produzenten wie des Konsumenten, so weit zu heben, als es unter den gegebenen Produktionsverhältnissen möglich ist. Gleichzeitig aber muss alles aufgeboten werden, um die bestehende kapitalistische Produktionsweise so rasch als möglich in die sozialistische zu überführen und damit die letzte Form der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen.
Diese zweite, die soziale Ausgabe der Weiterführung der Revolution ist noch weit wichtiger als die erste, die demokratische, aber auch schwieriger. Kann man den Staat mit einem Mechanismus vergleichen, so ähnelt die Gesellschaft mehr einem Organismus. Dieser ist komplizierter, weniger leicht zu durchschauen und weniger rasch umzuwandeln. Das besagt jedoch nur, dass man die soziale Umwandlung sorgfältig vorbereiten muss, dass man sie nicht ins Blaue hinein vornehmen darf, es besagt nichts gegen die Notwendigkeit, alle Energie, über die man verfügt, an diese Umwandlung zu setzen.
In dieser Auffassung der Weiterführung der Revolution treffen wir uns mit den Mehrheitssozialisten.
Sicher gehen viele Mehrheitssozialisten behutsamer vor, als uns Unabhängigen lieb ist und als uns durch die Umstände geboten scheint. Aber es wäre lächerlich, den Unterschied im revolutionären Tempo als den Unterschied von Revolution und Gegenrevolution erscheinen lassen zu wollen.
Anders dagegen fasst der Spartakusbund die Weiterführung der Revolution auf. Er verlangt nicht nach der Konsolidierung der Demokratie, sondern nach dem gewaltsamen Sturz der jetzigen Regierung sowie jeder weiteren Regierung, bis der Spartakusbund genügend Kraft erlangt, selbst die Staatsmacht zu ergreifen. Da aber die Demokratie hinter der bestehenden Regierung zu stehen scheint, verlangt er auch die Aufhebung der Demokratie.
Die soziale Weiterführung der Revolution stellt sich aber der Bund nicht in der Weise vor, dass nach sorgfältiger Vorbereitung ein Produktionszweig nach dem andern durch das Eingreifen der von den Arbeitern abhängigen Staatsgewalt planmäßig sozialisiert wird, sondern dass sofort und planlos die Arbeiter ununterbrochen durch stete Streiks und das Aufstellen unerfüllbarer Forderungen in allen Produktionszweigen gleichzeitig jegliche Produktion unmöglich machen. Die Steigerung des Notstandes muss nach der Ansicht der Spartakusleute die revolutionäre Temperatur zur Siedehitze steigern. Wie aus diesem siedenden Hexenkessel die gesellschaftliche Ordnung der Produktion hervorgehen soll, ist bis zurzeit Geheimnis des Spartakusbundes geblieben. Auf jeden Fall ist seinen Mitgliedern noch nicht die Erkenntnis aufgedämmert, dass nach der Revolution der Streik eine ganz andere Wirkung hat als vor der Revolution.
Bei alledem sind sie sich dessen wohl bewusst, dass ihre Methoden beständiger ökonomischer Unruhen es unmöglich machen, den Volksmassen Nahrung, Kleidung, Wohnung zu schaffen, indes gleichzeitig in den Staaten des Westens, in Frankreich, England, Amerika, die Produktion wieder in die alten Bahnen einlenkt. Damit ersteht die Gefahr, dass die Arbeiter im sozialistischen Deutschland schlechter ernährt, gekleidet, behaust sind als in kapitalistischen Staaten. Das ist eine schwere Gefahr für den internationalen Sozialismus, dessen Werbekraft nicht gewinnen würde, wenn das Regime des Sozialismus in Deutschland für den Arbeiter bloß Elend und Not bedeuten würde.
Dieser Gefahr suchen sie vorzubeugen dadurch, dass sie die Weltrevolution verlangen. Sie erwarten nicht etwa, dass sie von selbst ausbrechen werde — nicht das mindeste deutet darauf hin. In einem siegreichen Lande sind die Volksmassen anders gestimmt als in einem besiegten. Da die Weltrevolution von selbst nicht kommen will, verlangen sie nach ihrer gewaltsamen Herbeiführung. Wie das geschehen soll, ist ebenfalls wieder das Geheimnis des Spartakusbundes oder vielleicht gar noch ein Geheimnis für ihn selbst. Eines aber ist klar: Das Anstreben der Weltrevolution heißt das Streben, die auswärtigen, siegreichen Regierungen zu stürzen. Dies Streben ist aussichtslos, aber leider nicht in gleichem Maße harmlos. Die siegreichen Regierungen sind ebenso Gewaltsmenschen wie die Spartakusleute, und deren Sieg in Deutschland bedeutete erneuten Krieg mit der Entente. Lenin hat bereits drei Millionen Mann und reiche Lebensmittel zu diesem Zweck versprochen, doch hat er nicht gezeigt, wo in Russland diese Armeen und Vorräte verborgen sind.
Weiterführung der Revolution im Spartakussinne heißt also nicht Durchführung und Befestigung der Demokratie und planmäßige Sozialisierung der Produktion, sondern Aufhebung der Demokratie, stete Störung der Produktion und als Beigabe noch Erneuerung des Krieges. Das alles aber soll notwendig sein für die Revolution, weil es ein Naturgesetz sei, dass in revolutionären Zeiten immer die weniger radikalen von den radikalen Parteien abgelöst werden und nur die radikalste Partei die Revolution zum völligen Siege bringen könne. Der Sieg des Spartakusbundes würde den Gipfel der Revolution bilden — ihm gegenüber sei jedes andere Streben gegenrevolutionär.
Diese Auffassung stützt sich, abgesehen von leeren Gerüchten über gegenrevolutionäre Komplotte der Mehrheitssozialisten, auf kein einziges Argument der Gegenwart, sondern nur auf die Vergangenheit, auf die Geschichte der Revolutionen. Sie übersieht gänzlich den Unterschied von einst und setzt.
Die bisherigen Revolutionen der letzten Jahrhunderte waren alle bürgerlichen Ursprungs. Da aber die Bourgeoisie für sich allein nur geringe Kampffähigkeit besitzt, wurden alle diese Revolutionen herbeigeführt durch das energische Eingreifen der unterhalb der Bourgeoisie stehenden Volksklassen, des Kleinbürgertums und des Proletariats. Zunächst bemächtigte sich die Bourgeoisie der Staatsgewalt und wendete sie zu ihren Zwecken an. Das konnte das Kleinbürgertum und das Proletariat nicht befriedigen, die in den revolutionären Kämpfen ihre Kraft kennen gelernt hatten. Sie gebrauchten sie dazu, die Bourgeoisie weiter zu treiben, um schließlich eine den ärmeren Volksklassen ergebene Regierung einzusetzen. Auf diese Weise wurde die Revolution durch den Kampf der Klassen naturnotwendig weiter getrieben und radikalisiert. So folgte auf 1789 der Sieg der Bergpartei; es folgte in Frankreich auf den 4. September 1870 der 18. März 1871, es folgte 1917 in Russland der Märzrevolution die Novemberrevolution. Daher nehmen die Spartakusleute und ihre Freunde an, auch die jetzige Revolution könne bei ihrer ersten Phase nicht stehen bleiben, sie müsse in eine zweite eintreten, und die könne nichts anderes darstellen als den Sieg der radikalsten Partei, des Spartakusbundes.
Die Spartaziden sollten etwas vorsichtiger sein mit ihrer Methode, frühere und fremde Schablonen unbesehen auf die Jetztzeit und auf Deutschland anzuwenden. Eben haben sie mit dem blindlings von Russland übernommenen Rufe: „alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten“ elend Schiffbruch gelitten. Die jetzige Revolution in Deutschland hat ihre eigenen Gesetze.
Von allen bisherigen Revolutionen unterscheidet sie sich dadurch, dass sie schon in ihrem Beginn eine proletarische und sozialistische ist. Hinter dem Proletariat steht jedoch keine weitere unterdrückte und ausgebeutete Klasse, die ihrerseits ein Interesse daran haben könnte, das neue Regime zu stürzen. Eine Klasse, die im Gegensatz zu der augenblicklich an der Staatsmacht befindlichen die Revolution weiter treiben wollte und müsste, fehlt diesmal vollständig. Im Gegensatz zu den früheren Revolutionen kann also dies Weitertreiben der jetzigen deutschen nicht durch einen Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat erfolgen. Jeder Versuch des Weitertreibens der Revolution durch gewaltsamen Sturz der Revolutionsregierung der ersten Phase bedeutet vielmehr einen Kampf innerhalb der revolutionären Klasse selbst.
Zu einem solchen Kampf innerhalb der radikalen Revolution, der Bergpartei, kam es auch in der großen französischen Revolution jedoch erst in einem Zeitpunkt, als jedes Weitertreiben unmöglich geworden war, unmittelbar vor ihrem Zusammenbruch. Im März 1794 wurden die Hebertisten von Robespierre aufs Schafott geschickt, im April die Dantonisten; im Juli stürzte er selbst und die Gegenrevolution setzte ein.
Beim Weitertreiben der Revolution kann es sich also jetzt nicht um einen Kampf einer unterdrückten gegen eine unterdrückende Klasse, sondern nur noch um einen Kampf verschiedener Methoden und Anschauungen innerhalb derselben Klasse handeln. Damit ist keineswegs gesagt, dass es immer die höchststehende sein müsse, die die niedriger stehende zurückdrängt, aber auch nicht, dass die radikalere notwendigerweise siegen müsse. Die historischen Erfahrungen sagen über den jetzigen Fall gar nichts, der keine Präzedenzen hat.
Die Unterschiede zwischen den proletarischen Parteien können theoretische sein. So zerfielen z. B. die Mitglieder der Pariser Kommune von 1871 in nicht weniger als vier verschiedene Gruppen. Einmal die Jakobiner, die auf dem Standpunkt der Bergpartei von 1793 stehen geblieben waren, Verfechter der politischen Herrschaft der unteren Volksklassen, aber ohne Interesse für den Sozialismus. Neben ihnen die Blanquisten, die sich von den Jakobinern dadurch unterschieden, dass sie die politische Macht in sozialistischem Sinne ausnutzen wollten. Sie hatten aber gar kein bestimmtes sozialistisches Programm und kein Interesse für ökonomische Dinge. Mit den Jakobinern konzentrierten sie sich auf die radikale Republik und die Pfaffenfresserei. Ausübung der politischen Macht durch stärkste politische Zentralisation und rücksichtslosen Terrorismus war die Methode, die sie mit den Jakobinern gemein hatten.
Ihnen gegenüber standen die Proudhonisten, die ganz im Ökonomischen aufgingen, ihr Augenmerk vornehmlich auf die ökonomische Befreiung des Proletariats richteten und geringes politisches Interesse bekundeten. Sie waren Gegner jeder Gewalttat und widerstrebten der politischen Zentralisation in dem Maße, dass sie die Auflösung Frankreichs in einen Hausen selbständiger Gemeinden forderten. Doch waren die Proudhonisten in den letzten Jahren des Kaiserreichs in einem Wandlungsprozess begriffen, unter dem Einfluss der Internationale, der sie angehörten, und ihres vornehmsten Kopfes, Karl Marx. Ein Teil der Internationalisten, die man als eine besondere, die vierte Gruppe ansehen kann, kam den Marxschen Anschauungen sehr nahe, begriff die Bedeutung der politischen Macht für die ökonomische Befreiung der Arbeiterklasse und sah die Notwendigkeit der Einheitsrepublik ein, innerhalb deren er allerdings an Stelle des Zentralismus die Selbstverwaltung der Gemeinde forderte. Er verwarf den Terrorismus.
Diese Internationalisten bildeten der Zahl nach den schwächsten Teil der Kommune, dabei aber denjenigen, der am eifrigsten arbeitete und die Situation am besten begriff. Auf ihn sind die wirklichen Leistungen der Kommune zurückzuführen, ihn hatte Marx vor allem im Auge, als er in seiner Schrift über den Bürgerkrieg in Frankreich das Wirken der Kommune beschrieb.
Doch nur weniges konnte die kleine Fraktion durchsetzen, und das nur mühsam, in stetem Kampf namentlich gegen die Jakobiner und Blanquisten. Die wenigen Wochen der Lebensdauer der Pariser Kommune waren erfüllt von wütenden inneren Kämpfen der drei Fraktionen untereinander, Kämpfen, die zur Auflösung der Kommune nicht wenig beitrugen, in keiner Weise aber ein Weitertreiben der Revolution bewirkten.
Allerdings standen die verschiedenen Fraktionen bei aller Gegensätzlichkeit dem gemeinsamen bürgerlichen Feind geschlossen gegenüber. Nie haben sie einander anders als mit Worten befehdet, und in den Kampfespositionen, auf die sie gestellt waren, haben sie alle getreu bis zum Ende ausgehalten, ohne Unterschied der Richtung. Das proletarische Klassenbewusstsein erwies sich bei ihnen stärker als alle Gegensätze der Anschauungen und Methoden.
Heute sind wir theoretisch weiter als damals. Wir stehen alle auf dem gleichen Boden des Marxismus; wir unterscheiden uns im Wesentlichen nur durch Verschiedenheiten der Auslegungs- und Anwendung der gleichen Grundsätze. Die Extreme dabei kann man in der Weise kennzeichnen, dass die einen sich noch nicht völlig von bürgerlichen Denkweisen losgelöst haben und der bürgerlichen Welt noch starkes Vertrauen entgegenbringen, deren innere Kraft sie auch überschätzen. Die anderen wieder stehen der bürgerlichen Welt völlig verständnislos gegenüber, betrachten sie als Gehege von Schurken. Sie missachten ihre geistigen und ökonomischen Leistungen und glauben, die Proletarier vermöchten ohne jedes Fachwissen und ohne jegliche Vorbereitung sofort alle politischen und ökonomischen Funktionen zu übernehmen, die von den bürgerlichen Gewalten bisher ausgeübt wurden.
Zwischen diesen beiden Extremen finden wir diejenigen, die die bürgerliche Welt studiert und begriffen haben, die ihr selbständig und kritisch gegenüberstehen, aber auch ihre Leistungen zu würdigen wissen und die Schwierigkeiten der Aufgabe, sie durch eine höhere Ordnung zu ersetzen, erkannt haben. Dieses marxistische Zentrum muss ebenso auf der einen Seite die Zaghaften anspornen, die Vertrauensseligen zur Kritik aufrufen, wie es auf der andern Seite das blinde Drauflosstürmen der Unwissenden und Gedankenlosen zu zügeln hat. Es fällt ihm die widerspruchsvolle Aufgabe zu, gleichzeitig vorwärts zu treiben und zu bremsen.
Diese drei Tendenzen sind es, die innerhalb des Proletariats mit einander ringen. Mit Klassenunterschieden und Klassengegensätzen haben sie gar nichts zu tun, und es liegt nicht die geringste innere Notwendigkeit vor, dass gerade die am entschiedensten vorwärts treibende siegen muss, und schon gar nicht die Notwendigkeit, dass sie die höchste Form der Bewegung darstellt.
Im Gegenteil. Das Zentrum wird am ehesten intellektuell am höchsten stehen. Freilich ist damit nicht gesagt, dass es sich in der Revolution siegreich behaupten muss. In revolutionären Zeiten kommen die großen ungeschulten Massen in Bewegung, die nicht fein unterscheiden. Die werden am ehesten von den Extremen angezogen. Marx und Engels fanden sich 1849 in der Emigration völlig isoliert, abgestoßen sowohl von den bürgerlichen Radikalen wie von den sozialistischen Revolutionären. Ebenso wendeten sich nach dem Fall der Pariser Kommune von 1871 die radikalen Blanquisten und Bakunisten wie die zahmen Sozialliberalen gegen Marx und Engels und isolierten sie in der Internationale. So haben auch jüngst die zurzeit klarsten Köpfe des russischen Marxismus, die Axelrod und Martow, ihren Einfluss auf die Massen in hohem Grade verloren.
Wie der Kampf zwischen den Extremen auf die Revolution zurückwirken wird, hängt vor allem davon ab, in welcher Weise sie ihn führen. Durchbricht er nicht die einheitliche proletarische Front, führt er bloß dazu, dass die Linke die Rechte vorwärts treibt und die Rechte bis Linke von Unbesonnenheiten und Illusionen abhält, dann kann er die Revolution beleben und befruchten.
Ganz anders, wenn er dazu führt, dass die extreme Linke die Rechte in einem Bürgerkrieg gewaltsam niederwirft und damit die „zweite Phase“ der Revolution einleitet.
Wodurch würde sie ihren Sieg erfechten, die Massen für sich gewinnen? Durch Versprechungen, die deshalb weiter gehen, als die des anderen Teils, weil sie abgesehen von allen ökonomischen Realitäten, weil sie inmitten allgemeiner Armut an Produktion und allgemeiner Einschränkung der Produktion den Massen eine Fülle von Produkten versprechen. Weil sie absehen von der Notwendigkeit des Wissens und den bisher in Unwissenheit erhaltenen Proletariern einreden, sie vermöchten ohne weiteres die höher gebildeten Klassen in allen Funktionen zu ersetzen.
Ein anderer Faktor, der den Extremen von links zum Siege verhelfen könnte, bestünde darin, dass sie eine Arbeiteraristokratie für sich gewännen. Stets gibt es Arbeiterschichten, die stärker sind als andere und eine bessere Lebenslage zu erringen verstehen auf Kosten ihrer benachteiligten Brüder. Vor der Revolution erreichten sie das durch Gewinnung des Wohlwollens der Kapitalisten. Die Möglichkeit einer anderen Arbeiteraristokratie ersteht in der Revolution. Auf der einen Seite finden wir da der unbewaffneten Zivilbevölkerung gegenüber bewaffnete Proletarier. Diese sind stärker als jene und es liegt für die extremen Revolutionäre nahe, sie dadurch zu gewinnen, dass sie ihnen außerordentlich günstige Einkünfte gewähren, die heute, wo die kapitalistischen Profite so niedrig sind, auf Kosten der Arbeiterbevölkerung aufzubringen sind. Auf der anderen Seite gibt es Produktionszweige mit monopolistischem Charakter, die in der kapitalistischen Ära von ihrem Besitzer benutzt wurden, die Allgemeinheit zu schröpfen. Jetzt in der Revolution können ihre Arbeiter die Machtposition, die sie erlangt haben, dazu benutzen, auf Kosten der Gesamtheit außerordentliche Löhne einzuheimsen. Wenn man den Arbeitern der Kohlengruben den Gemeinsinn ausredet, wenn man sie antreibt, zu streiken und Löhne zufordern, die die Kohlenpreise in die Höhe treiben, ohne sich zu fragen, ob dadurch die Industrie zum Stillstand, das Volk zum Frieren gebracht wird, so kann man wohl in den Kohlengräbern einen gewaltigen Machtfaktor für sich gewinnen.
Aber es ist klar, dass alle diese Methoden, die Revolution: weiter zu treiben, in Wirklichkeit nichts anderes bewirken können, als ihre Herabdrückung auf eine tiefere Stufe. Sie bedeuten nichts als die Spekulation auf Unwissenheit, Gedankenlosigkeit, Leichtfertigkeit und Selbstsucht.
Dieser Degradation entspricht es auch, wenn die politischen Kampfmittel der extremen Linken immer primitiver werden. Nachdem Marx und Engels, Bebel und Liebknecht Jahrzehnte lang gekämpft, um den Arbeitermassen die Erkenntnis beizubringen, dass in den Händen eines politisch reifen Proletariats der Stimmzettel, wie Marx sich ausdrückte, aus einem Mittel der Prellerei zu einem Mittel der Befreiung wird, verfechten die Spartakusleute heute wieder den alten Antiparlamentarismus. Und nicht einmal den Antiparlamentarismus der Syndikalisten, die die gewerkschaftliche Organisation zum Werkzeug der Befreiung der Arbeiter zu machen suchte. Von den Gewerkschaften ebenso enttäuscht wie vom Parlamentarismus, setzten sie alle ihre Hoffnungen auf die Arbeiter- und Soldatenräte. Nun auch dabei in ihren Erwartungen betrogen, bleibt ihnen nichts mehr übrig als die „Straße“. Die Straße soll das neue Deutschland, soll die neue Gesellschaft ausbauen. Die Straße, das beißt diejenigen Arbeiterschichten, die es bisher noch zu keiner Organisation gebracht hatten. Nicht aus den Arbeiterorganisationen soll der Sozialismus, die Organisation der Produktion und die Demokratie, die Neuorganisation des Staates, hervorgehen; diese neuen Ordnungen sollen geschaffen werden von denen, die noch zu keiner Organisation fähig waren.
Die Herrschaft der Unorganisierten über die Organisierten, der Unwissenden über die Unterrichteten, der Selbstsüchtigen über die Selbstlosen — das bedeutet unter den heute gegebenen Bedingungen die „Weiterführung“ der Revolution. Es hieße nichts anderes, als die Revolution degradieren. Und diese Degradation wäre nur die Vorstufe zu völligem Ruin.
Denn der geschlossenen bürgerlichen Masse gegenüber kann sich das Proletariat nur behaupten, wenn es selbst geschlossen bleibt und alles aufbietet, was es an Intelligenz, an Selbstlosigkeit, an Organisation aufzubringen vermag.
Eine Sekte des Proletariats, die nur ans Ruder zu kommen vermag durch Zerstörung aller dieser Faktoren, gräbt der Revolution das Grab.
Doch glücklicherweise besteht keinerlei Notwendigkeit dafür, dass diese Sekte auch wirklich zur Macht kommt. Wir haben schon gesehen, dass in der proletarischen Revolution die Dinge anders liegen, als in der bürgerlichen, in der die Ablösung gemäßigter durch radikalere Parteien eine Notwendigkeit war, die aus den Bedingungen des Klassenkampfes hervorging. Die gemäßigteren und die radikalen Elemente, die augenblicklich in Deutschland um die Macht kämpfen, stellen nicht verschiedene Klassen dar, sondern nur verschiedene Elemente derselben Klasse. Welche dieser Elemente siegen werden, das hängt von der Reife des deutschen Proletariats ab.
Ist es aber diesmal nicht notwendig, dass die "radikalere" Partei die gemäßigtere besiegt, so ist damit auch gesagt, dass die weitere Phase des Ganges der bürgerlichen Revolutionen in der jetzigen deutschen Revolution nicht notwendig eintreten muss: die Gegenrevolution.
In den bürgerlichen Revolutionen war es unvermeidlich, dass die bürgerlichen Elemente früher oder später durch ganz oder halbproletarische Elemente in der Macht abgelöst wurden, aber ebenso unvermeidlich, dass diese Unmögliches versuchten, weil ökonomisch nur die bürgerliche Gesellschaft möglich war. Ebenso notwendig, wie die zweite Phase der Revolution musste daher auch ihre dritte eintreten, der Zusammenbruch des proletarischen Regimes, die Gegenrevolution.
Diese Notwendigkeit liegt heute nicht vor. Ökonomie und Proletariat sind heute in Deutschland reif zur Sozialisierung. Aber auch die Wissenschaft ist seit der bürgerlichen Revolution vorgeschritten. In der großen französischen Revolution und auch noch 1871 ahnten die Massen noch nichts davon, dass ihre Befreiung an bestimmte ökonomische Bedingungen geknüpft, dass die Gesellschaft in steter Entwicklung begriffen sei und bestimmte Entwicklungsphasen sich nicht beliebig überspringen lassen. Sie glaubten noch, mit Gewalt ließe sich alles erreichen, nur auf die Gewinnung der Gewalt käme es an.
Seitdem haben wir die große Lehre unserer großen Meister Marx und Engels kennen gelernt. Wohl ist sie, wie gerade die letzten Jahre zeigten, vielfach unverstanden geblieben und nur in Äußerlichkeiten aufgenommen worden, aber sie hat doch die Notwendigkeit der Erkenntnis des ökonomischen Unterbaues der Gesellschaft weiten Kreisen nahe gelegt und diese Erkenntnis gefördert.
Wie weit sie gediehen ist, das wird sich jetzt zu bewähren haben. Je tiefer sie gedrungen ist, desto eher wird das Proletariat in der Lage sein, sich stets nur Aufgaben zu setzen, die unter den gegebenen Bedingungen gelöst werden können. Es wird alle Kraftverschwendung und alle Rückschläge vermeiden, die mit dem Anstreben von Unmöglichem verbunden sind, es wird aber gerade dadurch das jeweilig Erreichbare mit umso größerer Konzentration von Kraft anstreben, es umso rascher und zweckmäßiger durchsetzen und wird es dauernd behaupten können.
Mit Versuchen einer Gegenrevolution müssen wir natürlich stets rechnen. Wir müssen ihnen gegenüber wachsam und gewappnet sein. Aber so steht es diesmal nicht, dass die Gegenrevolution, wie bisher stets, das notwendige Ende der Revolution sein muss, dass das proletarische Regime von vornherein dazu verurteilt sei, eine vorübergehende Erscheinung zu bilden.
Behauptet sich aber das proletarische Regime in Deutschland, dann wird und muss es von selbst die Revolution weiter treiben, durch die unwiderstehlichste aller Kräfte, die Logik der Tatsachen. Dann muss nicht nur die Sozialisierung der Betriebe, sobald die ersten Schwierigkeiten überwunden und Erfahrungen gesammelt sind, ein rascheres Tempo annehmen. Dann kann auch die Rückwirkung auf die übrige zivilisierte Welt nicht ausbleiben. Dann wird die Bewegung des Proletariats überall unwiderstehlich werden, seine politische Macht überall wachsen, die Sozialisierung überall in Angriff genommen werden müssen. Die sozialistische Weltrevolution wird dann zur Tatsache werden, ohne Emissäre, ohne Verschwörungen, ohne Kriegszustand mit den Mächten des Auslandes.
Vorbedingung ist allerdings, dass das Proletariat in Deutschland am Ruder bleibt, was nur möglich ist, wenn es geschlossen der bürgerlichen Welt gegenübersteht. Versuche, die Revolution weiter zu treiben durch Methoden, die seine Geschlossenheit zerreißen, treiben die Revolution nicht vorwärts, sondern abwärts, moralischem und ökonomischem Verfall und schließlichem Untergang entgegen.
Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012