Karl Kautsky

Die Befreiung der Nationen


9. Die Eintönigkeit der Weltkultur


Es gibt merkwürdigerweise Sozialisten, die das Ziel der Assimilierung der Nationalitäten und ihrer Kultur leidenschaftlich bekämpfen. Höre die Mannigfaltigkeit der Nationalitäten, also der Sprachen auf, so würde das zu allgemeiner Monotonie und geistiger Verarmung führen.

Das würde an sich noch wenig beweisen. Auch die Fabrikware ist viel einförmiger als das Produkt des Handwerks oder des Hausfleißes, und doch wäre es reaktionär, ihre Verbreitung hemmen zu wollen.

.Hier handelt es sich aber zunächst auch nicht darum, was uns behagt oder nicht. Nicht das steht in Frage für uns, ob der aus dem Wachstum des internationalen Verkehrs hervorgehende Assimilierungsprozeß der Völker uns gefallen oder nicht gefallen soll, sondern das, ob wir ihn gewähren lassen oder gewaltsam in ihn eingreifen sollen. Und da müssen wir als Demokraten jede Gewaltsamkeit gegenüber den Volksmassen ablehnen, jedes gewaltsame Eingreifen in ihre sprachlichen wie in ihre religiösen Verhältnisse. Ebensowenig wegen seiner Sprache wie wegen seiner Religion soll der einzelne im Staate schlechter gestellt werden als ein anderer. Aber auch ebensowenig wie eine Religion soll der Gebrauch einer Sprache von Staats wegen gegen freiwilliges Aufgeben geschützt werden.

Und nicht minder wie politischen Zwang müssen wir als Sozialisten, als Verfechter des Proletariats auch jede Anwendung ökonomischen Zwanges zugunsten oder zum Nachteil einer Sprache ebenso bekämpfen wie zur Förderung oder Verfolgung einer Religion. Es darf uns nicht bekümmern, ob diese Neutralität manche Sprache und manche Religion außer Gebrauch setzt, selbst wenn wir dieses Ergebnis bedauern sollten.

Aber wir brauchen das Verschwinden der Vielsprachigkeit nicht einmal zu bedauern.

Im allgemeinen wirkt die wachsende Monotonie und Nivellierung, die der fortschreitende Kapitalismus mit sich bringt, allerdings keineswegs erfreulich. Es ist ganz irrig, wenn David an der von uns schon erwähnten Stelle seines Buches über Die Sozialdemokratie und der Weltkrieg (S.190) die fortschreitende Differenzierung der Nationen deshalb als Notwendigkeit hinstellt, weil „jede Entwicklung feinere Differenzierung“ ist und wir „hier ein großes biologisches Gesetz am Werke sehen“. Einmal handeln wir hier von der Gesellschaft und nicht von tierischen Organismen. Die Biologie geht uns also in diesem Zusammenhang nichts an. Wer seine ökonomischen Einsichten aus der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und nicht etwa aus der der Kaulquappen schöpft, der findet aber, daß der steigende Reichtum an Produkten, den uns der Kapitalismus beschert, begleitet ist von wachsender Monotonie, Verarmung an Formen. Und dieser Zusammenhang ist kein zufälliger.

Die große Produktivität der Arbeit in der heutigen Produktionsweise ist ein Ergebnis der Massenproduktion, die stets einförmige Produktion ist. Immer einförmiger werden Produkte und Produktionsmittel. Unter den letzteren ist das wichtigste die Natur selbst.

Der Fortschritt der Kultur, der Herrschaft der Menschen über die Natur bedeutet Verarmung der Natur an Formen; bedeutet Ersetzung der botanischen Mannigfaltigkeit der Wildnis durch die Einförmigkeit des Ackerfeldes; bedeutet Ersetzung einer unendlichen Fülle wilder Tiere durch einige wenige Arten von Haustieren. Bis zum Austreten des Menschen entwickelt sich die Natur zu immer größerer Mannigfaltigkeit. Seit dem Auftreten des Menschen hat die Entwicklung der organischen Natur keinen weiteren Fortschritt mehr gemacht:

Seit Mitte der Pliozänzeit können wir keine einigermaßen sichere Neuentstehung einer Art nachweisen, der Charakter der diluvialen und der rezenten Epoche ist neben dem Aufkommen von Homo sapiens nur Aussterben und Verarmung. (W. Kobelt, Die Verbreitung der Tierwelt, 1902, Vorwort)

Der Kapitalismus hat die Mittel wie den Drang nach dieser Verarmung gewaltig gesteigert, sie nimmt Dimensionen an, die wahrhaft erschreckend sind. Die Umgebung muß auf den Menschen zurückwirken, ihre Verarmung an Formen muß auch eine geistige Verarmung bei ihm insofern nach sich ziehen, als der verminderten Mannigfaltigkeit der Umgebung eine Verminderung in den Anwendungsarten der geistigen Fähigkeiten des Menschen entspricht.

Doch gibt es Faktoren, die dem entgegenwirken. Dieselbe Technik, die Formen der Natur vernichtet, führt zur Kenntnis von Formen, die den Sinnen des Naturmenschen unzugänglich sind. Sie wühlt die Erde um und zeigt ihm die reichen Formen der Vorwelt; das Teleskop erschließt ungeheure Fernen, das Mikroskop ungeheuer kleine Welten.

Die gleiche Technik befreit aber auch den Menschen immer mehr von dem Kampfe um des Lebens Notdurft, verleiht ihm vermehrte Zeit und Mittel zum Luxus, der nichts anderes ist als entweder künstlich erhaltene oder künstlich geschaffene Mannigfaltigkeit.

Der Luxus ist ökonomisch bedingt. Je größer die Produktivkraft der Arbeit, desto größer die Möglichkeit des Luxus. Je größer also einerseits die durch die Ökonomie geschaffene Monotonie des Lebens, desto größer die Möglichkeit, ihr durch den Luxus entgegenzuwirken. Der Luxus steht im Gegensatz zur Ökonomie und ist in diesem Sinne Verschwendung. Aber er braucht nicht sinnlose Verschwendung zu sein. Er wird es bloß in unsinnigen Händen.

Wenn ein Stück Natur unbebaut bleibt, wenn wilde Tiere, die nutzlos sind, geschont werden, wenn man eine Ruine stehen läßt und erhält, statt aus ihr Bausteine zu holen, so ist das Luxus, ebenso wie alle Kunst Luxus ist. Es wirkt der Verarmung des Lebens entgegen, die durch die Ökonomie erzeugt wird, erhält bestehende Mannigfaltigkeit oder schafft neue.

Diese Art der Mannigfaltigkeit des Lebens, die der Luxus bietet, bildete bisher, seitdem es Klassenunterschiede gibt, ein Privilegium der besitzenden Klassen, ebenso wie jene Mannigfaltigkeit, die aus der Wissenschaft fließt. Die arbeitenden Klassen bekamen nur die andere Seite des ökonomischen Fortschritts zu verkosten, die wachsende Verödung und Monotonie des Lebensinhalts, die in der kapitalistischen Gesellschaft ihren Gipfel erreicht.

Der Sozialismus wird die Gegenwirkung gegen die Verarmung des Lebens, wird Wissenschaft, Kunst, Naturgenuß zum Allgemeingut der Volksmassen machen. Das ist der Weg, der aus der Ökonomie hervorgehenden Monotonie des Lebens entgegenzuwirken.

Eine wichtige Rolle wird dabei die Bevölkerungsfrage spielen. Das vorige Jahrhundert wurde beherrscht von der Übervölkerungsfurcht. Das Elend wurde der Übervölkerung zugeschrieben. Das war völlig ungerechtfertigt. Das zwanzigste Jahrhundert beginnt mit Entvölkerungsfurcht. Selbst Sozialisten teilen sie und zeigen sich beunruhigt über den Rückgang der Geburtenziffern. Aber die rasche Volksvermehrung ist nur wünschbar vom Standpunkt nationaler Machtpolitik aus, die das eigene Volk möglichst zahlreich sehen will, damit es in der Weltpolitik eine möglichst große Macht in die Wagschale werfen kann. Für das Wohlergehen der Massen ist diese rasche Volkszunahme keineswegs erforderlich. Ginge sie noch ein Jahrhundert lang in dem bisherigen Tempo weiter, dann kämen wir zu beängstigenden Zuständen. Europas Bevölkerung im vierzehnten Jahrhundert kann man auf 100 Millionen annehmen; noch im Beginn des achtzehnten Jahrhunderts betrug sie kaum erheblich mehr. Dann aber wuchs sie bis zum Jahre 1800 auf 175 Millionen und von da an bis zum Ausbruch des Weltkriegs auf 460 Millionen. Eine Vermehrung in gleichem Tempo gäbe nach weiteren hundert Jahren eine Bevölkerung von 1.200 Millionen.

Nun braucht man nicht von malthusianischer Furcht ergriffen zu werden, daß diese Volksmasse nicht zu ernähren sei. Aber der Luxus, namentlich der Naturluxus käme dabei zu kurz. Je mehr die Zahl der zu ernährenden Mäuler wächst, desto mehr muß jedes anbaufähige Fleckchen Boden in Anbau genommen werden.

Daß es nicht dahin kommt, dafür sorgt der Geburtenrückgang, der uns nicht zu beunruhigen braucht.

Damit soll freilich nicht gesagt werden, daß die Kleinhaltung der proletarischen Familien ein Mittel ist, das Proletariat zu emanzipieren. Dazu ist sie ganz untauglich.

Natürlich wird die sozialistische Gesellschaft ebenso wie die kapitalistische, die ihr den Weg bahnt, auf der Massenproduktion beruhen. Aus dieser Art der Produktion geht die hohe Produktivität der Arbeit hervor, die allein es möglich macht, nicht nur jedes Mitglied der Gesellschaft mit allen Notwendigkeiten des Lebens zu versehen, sondern ihm auch alle Kulturgüter zugänglich zu machen, die notwendige Arbeitszeit für jeden auf ein Minimum zu reduzieren und die freie Zeit, den wahren Reichtum eines jeden, zum größten Teil seiner Lebenszeit zu gestalten.

Die Massenproduktion erheischt Massenkonsum, sie setzt eine große Volksmasse voraus, für die produziert wird.

Der eine Weg, diese Masse zu erzielen, ist der rascher Volkszunahme. Unter sozialistischen Zuständen ist eine solche Volkszunahme nicht zu erwarten, sie stünde sogar im Widerspruch zu den Luxusbedürfnissen der Volksmasse. Aber zum Glück ist sie nicht der einzige Weg, die Produktivität der Arbeit durch Ausdehnung der Massenproduktion zu steigern. Ein anderer Weg zu diesem Ziele besteht in der Steigerung des Verkehrs zwischen den Volksmassen. Dadurch werden ihre notwendigen Bedürfnisse immer einförmiger gestaltet, sie können immer mehr von wenigen industriellen Zentren aus befriedigt werden, denen die ganze Welt Rohmaterial liefert.

Größte Intensität des internationalen Verkehrs wird eine Lebensbedingung der sozialistischen Gesellschaft sein. Die notwendige Folge ist die fortschreitende Beseitigung der Verkehrshindernisse, darunter des wichtigsten unter ihnen, der Sprachverschiedenheiten.

Die sozialistische Gesellschaft wird sicher der wachsenden Monotonie entgegenzuwirken haben, die die kapitalistische Ökonomie mit sich bringt. Sie kann ihr aber nicht entgegenwirken auf dem Gebiet der Ökonomie selbst. Da wird sie die Massenproduktion mit ihren Wirkungen, darunter die wachsende Assimilierung der Nationen, fortzusetzen haben, wenn sie nicht den Ast absägen will, auf dem sie sitzt, die hochgesteigerte Produktivität der Arbeit. Nur durch Ausdehnung des Luxus, darunter vor allem des Luxus der unberührten Natur, des Urquells aller Schönheit, alles Reichtums, aller Genüsse, kann sie der Monotonie der Ökonomie entgegenwirken, nicht durch Erhaltung der Mannigfaltigkeit der Sprachen.

In der Bibel schon wird diese Mannigfaltigkeit der Sprachen als eine gewaltige Beeinträchtigung der Menschheit betrachtet. Wie die Bibel alle Menschen von einem Menschenpaar abstammen läßt, so nimmt sie auch an, es habe ursprünglich nur eine Sprache gegeben. Wie nun die Menschen zunehmen an Zahl und Intelligenz und beginnen, einen Turm zu bauen, der bis in den Himmel ragen soll, beginnt Gott sie zu fürchten. Er vermeint, sich ihrer nicht mehr erwehren zu können, wenn sie alle sich untereinander verständigen:

Und Jahve sprach: Ein Volk sind sie und haben alle dieselbe Sprache, und das ist nur der Anfang ihres Tuns, und fortan wird ihnen nichts unerreichbar sein, was sie sich vornehmen werden. Wohlan, wir wollen hinabfahren und daselbst ihre Sprache verwirren, so daß keiner mehr die Sprache des anderen verstehen soll. (1. Buch Mose 11, 6, 7.)

Auf diese Weise vereitelte Jahve den Aufstieg der Menschheit. Es ist das Hohelied der Internationalität, das hier gesungen wird.

Die sprachliche Trennung der Menschheit bedeutet Schwächung ihrer Macht. Ihre sprachliche Vereinigung bedeutet die Erhebung auf den höchsten Gipfel der Macht. Ihr entgegenzuwirken, ist reaktionär. Um der Mannigfaltigkeit willen die Völker hindern wollen, sich zu verständigen, heißt, für eine gute Sache untaugliche, ja verkehrte und schädliche Mittel anwenden.


Zuletzt aktualisiert am 26 September 2009