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Protokoll, S. 34/35.
Abgedruckt in: Institut für Marxismus Leninismus beim ZK der SED (Hrsgb.): Dokumente und Materialien zur Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung, Reihe II, Band IV. S. 218 ff.
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Ich bin bei den Beratungen der deutschen Delegation, in denen diese neue Fassung des ersten Absatzes [1] beschlossen wurde, nicht zugegen gewesen, sondern ich habe sie jetzt erst kennengelernt. Ich bin leider gezwungen, wie ich gegen die erste Fassung sprechen wollte, so mich auch gegen diesen neuen Antrag zu wenden. („Bravo!“) Woher kommt es, daß der Gedanke einer sozialistischen Kolonialpolitik hier in unseren Kreisen soviel Anhänger gefunden hat, wo es mir doch scheint, daß er ein vollständiger logischer Widerspruch ist? Ich schreibe das dem Umstande zu, daß dieser Gedanke so neu ist, er ist plötzlich über Nacht aufgetaucht. Bisher haben wir noch nie etwas von sozialistischer Kolonialpolitik gehört. Ferner schreibe ich es dem Umstand zu, daß er mit anderen Gedanken verknüpft ist, die sehr richtig und notwendig sind, aber nur äußerlich mit der Kolonialpolitik zusammenhängen und tatsächlich gar nichts mit ihr zu tun haben. Darunter sind namentlich zwei Gedanken, die nicht von der Hand zu weisen sind, einmal der Gedanke, daß wir die Kolonien nicht einfach ignorieren können, daß wir in ihnen gewisse Aufgaben zu erfüllen haben und soviel als möglich für sie positiv tätig sein müssen. Das hat aber meines Wissens noch niemand bestritten. Die Aufgaben. die wir in den Kolonien haben, sind grundsätzlich genau dieselben wie die in der Heimat: der Schutz der Volksmassen gegen die Ausbeutung durch den Kapitalismus und gegen den Druck der Bürokratie und des Militarismus, also Sozialpolitik und demokratische Politik. Das ist aber etwas ganz anderes als Kolonialpolitik. Kolonialpolitik bedeutet die Eroberung und gewaltsame Festhaltung eines überseeischen Landes. Ich bestreite, daß Demokratie und Sozialpolitik mit Eroberung und Fremdherrschaft etwas zu tun haben. („Bravo!“) Weiter hat man gesagt, wir hätten Zivilisationspolitik zu treiben und müßten hinausgehen zu wilden Völkerschaften, um die Naturvölker als Lehrer und Berater zu bilden. Ja, das müssen wir allerdings, ich stimme dem, was Bebel darüber im Reichstage gesagt hat, vollständig zu. Wir sind selbst daran interessiert, daß diese Naturvölker auf eine höhere Stufe gelangen, aber ich bestreite, daß dazu eine Kolonialpolitik, daß dazu die Eroberung und Festhaltung eines fremden Landes nötig ist. Ja, ich möchte sagen, daß Kolonialpolitik im Grunde einer Zivilisationspolitik schädlich ist. („Sehr richtig!“) Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, daß niedrigstehende Völker der Zivilisation, die ihnen höherstehende Völker bringen, feindlich gegenüberstehen. Alle Erfahrung zeigt im Gegenteil, daß da, wo man den Wilden freundlich entgegenkommt, sie die Werkzeuge und Hilfsmittel der höheren Zivilisation gern annehmen. Kommt man aber, um sie zu unterdrücken und zu unterjochen, sollen sie unter die Bevormundung eines wenn auch wohlwollenden Despotismus gebracht werden, so werden sie mißtrauisch. Dann verwerfen sie mit der fremden Herrschaft auch die fremde Kultur, dann kommt es zu Kämpfen und Verwüstungen. So sehen wir, daß überall, wo Kolonialpolitik besteht, es nicht zur Hebung, sondern zur Depression der Völker kommt. Auch ein sozialistisches Regime könnte daran nichts ändern. Es müßte ebenfalls die Kolonien als Fremdkörper betrachten und müßte dort eine Fremdherrschaft errichten. Wenn wir zivilisatorisch auf Naturvölker wirken wollen, so ist die erste Notwendigkeit, daß wir ihr Vertrauen gewinnen. Und dieses gewinnen wir nur dadurch, daß wir ihnen die Freiheit geben. („Bravo!“) Bernstein wollte uns einreden, daß diese Politik der Eroberung eine Naturnotwendigkeit sei. Ich war sehr erstaunt, daß er hier die Theorie verfochten hat von den zwei Gruppen von Völkern, von denen die eine zum Herrschen, die andere zum Beherrschtwerden bestimmt sei, daß es Völker gäbe, die Kinder seien und nicht imstande wären, sich selbst zu verwalten. Das ist nur eine Variation des alten Satzes, der die Grundlage allen Despotismus bildet, daß der eine auf die Welt kommt mit Sporen an den Füßen, der andere mit dem Sattel auf dem Rücken, um den ersten zu tragen. Das ist noch stets die Argumentation jeder Aristokratie gewesen, das war auch die Argumentation des amerikanischen Sklavenhalters im amerikanischen Süden, der sagte, die Kultur beruhe auf der Zwangsarbeit der Sklaven, und das Land würde in die Barbarei zurückfallen, wenn die Sklaverei beseitigt würde. Diese Argumentation dürfen wir uns nicht aneignen. Bernstein berief sich mit Unrecht auf Marx. Gewiß, Marx hat gesagt, die Erde gehöre der Menschheit. Die Menschheit aber treibt heute keine Kolonialpolitik. („Sehr gut!“) Marx hat nicht gesagt, die Erde gehöre den kapitalistischen Nationen. („Sehr gut!“ Die Redezeit ist abgelaufen) Ich bitte Sie zum Schluß, den Einleitungssatz [1], der so neu ist, der so sehr im Widerspruch mit unserem ganzen sozialistischen und demokratischen Denken steht („Sehr richtig!“), der noch gar nicht genug überlegt ist, nicht anzunehmen. Sie müssen uns wenigstens Zeit geben, diesen Satz erst einmal gründlich zu diskutieren und ordentlich zu überlegen. Er muß erst reiflich in der Parteipresse, in den wissenschaftlichen Organen und in den Versammlungen diskutiert werden. Vorher können wir uns unmöglich auf den ganz neuen Gedanken einer sozialistischen Kolonialpolitik festlegen.
Daher bitte ich Sie, den Antrag der Deutschen abzulehnen und dem Antrage der französischen Delegation Ihre Zustimmung zu geben. [2] (Lebhafter, lang anhaltender Beifall)
1. Die deutsche Delegation beantragte folgende Fassung des ersten Absatzes: „In der Erwägung, daß der Sozialismus die Produktivkräfte des ganzen Erdkreises entfalten und alle Völker zur höchsten Kultur emporführen will, verwirft der Kongreß nicht jede Kolonialpolitik prinzipiell, weil diese unter sozialistischem Regime zivilisatorisch wirken kann.“ (Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Stuttgart. 18. bis 24. August 1907, S. 34)
2. Die französische Delegation beantragte, den ersten Absatz der Mehrheitsresolution (siehe S. 213, Anm. 1) zu streichen.
Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012