MIA > Deutsch > Marxisten > Kautsky > Rep. u. Sozdem. in Frankreich
Die Verfassung der dritten Republik beruht auf den staatlichen Grundlagen, die das erste Kaiserreich geschaffen; sie erhielt ihre besondere Form durch die, wie die bürgerlichen Republikaner selbst sagten, reaktionärste Kammer, die Frankreich je gehabt. Man hätte glauben sollen, sobald diese monarchisch-klerikale Kammer durch eine andere ersetzt war, in der die antiklerikal-demokratischen Republikaner dominierten, würde sofort diese Verfassung im demokratischen Sinne revidiert werden. Nichts von alledem. Im wesentlichen ist die Verfassung Frankreichs heute noch die von Napoleon I. und den Krautjunkern gegebene. Ein Teil der bürgerlichen Republikaner, die Radikalen, forderte noch eine Zeitlang, daß die äußerlich der Demokratie am meisten widerstreitenden Institutionen, der Senat und die Präsidentschaft, aufgehoben würden. An den Militarismus und die Bureaukratie wagten auch sie nicht zu rühren. An der letzteren hielten sie fest, weil sie selbst nach Posten angelten, der Bevölkerung aber suchten sie weis zu machen, daß gerade diese Zentralisation das beste Mittel bilde, aufs rascheste alle jene segensreichen Reformen durchzuführen, mit denen die Republik schwanger sei. Man brauche nichts zu ändern, als an Stelle der bestehenden Minister sie, die Radikalen, zu Ministern zu machen, und alles werde glänzend gehen. Eine andere Mitwirkung des Volkes dabei als die Erwählung einer genügenden Anzahl Radikaler in die Kammer sei überflüssig. Unter Demokratisierung der Verwaltung verstehen diese Herren heute nicht mehr die Ersetzung der bureaukratischen Bevormundung durch die Selbstverwaltung, sondern die Ersetzung von Protektionskindern der rechten durch solche der linken Seite der Kammer.
Freilich, der Senat und der vom Senat miterwählte Präsident standen dem Personenwechsel anfangs stark im Wege. Aber da sich die Radikalen sonst sehr harmlos erwiesen, haben sich ihnen auch die Tore des Senats eröffnet. Andererseits zeigte sich der Senat auch für die Deputiertenkammer sehr nützlich. Bei dem ungleichen Wahlrecht, aus dem er hervorgeht, und der neunjährigen Mandatsdauer seiner Mitglieder bedarf er nicht der Popularität der Volksmassen. Er kann die Unpopularität leichter ertragen als die Abgeordneten der Kammer. So dürfen diese um so volksfreundlicher sich gebärden, um so mehr ihren Wählern versprechen, um so radikaler stimmen, da sie ja wissen, daß der Senat schon dafür sorgt, daß alle schönen Beschlüsse nur auf dem Papier bleiben, wenn sie die Herrschaft oder Ausbeutung des Kapitalismus wirklich ernsthaft einengen würden. Dank dem Senat können die bürgerlichen Radikalen alle Vorteile ihres Radikalismus bei den kleinbürgerlichen und proletarischen Wählern einheimsen, ohne je befürchten zu müssen, dadurch das kapitalistische Regime zu gefährden. Auf diese Weise wird der nicht auf den „Arbeiterfang“ angewiesene Senat zur notwendigen Ergänzung für die auf den „Arbeiterfang“ ausgehende bürgerliche Demagogie.
Endlich wurde eine Verfassungsrevision immer gefährlicher, je mehr die extremen Parteien von rechts und links erstarkten, die nicht eine Konservierung des bestehenden Zustandes, sondern seinen Umsturz wollten. So haben die Radikalen seit geraumer Zeit jede Agitation auch gegen Präsidentschaft und Senat fallen gelassen; die monarchische Spitze und das ungleiche Stimmrecht gelten ihnen heute als die festesten Stützen der Republik und des allgemeinen Stimmrechtes. Was heute als „Republik“ in Frankreich verteidigt wird, das ist immer noch die Schöpfung der Krautjunkerkammer, welche die Kommune mordete.
Aber ein großer Teil der bürgerlichen Republikaner bedurfte nicht dieses Umwegs, um zur Anerkennung, ja Verehrung der von den Krautjunkern geschaffenen Verfassung zu kommen. Sie erkannten sofort, wie sehr sie den Herrschaftsbedürfnissen der Bourgeoisie entsprach, und so warfen sie leichten Herzens die demokratischen Allüren über Bord, die in ihnen doch nicht eine lebende Macht, sondern bloße Erinnerungen an die große Revolution waren, arbeiteten fröhlich an der neuen Verfassung mit und paßten sich ihr an. Das waren die Opportunisten. Sie gaben ihr radikales Programm den Massen gegenüber nicht auf, wußten aber seine Verleugnung in seine Vollendung umzureden. Durch die Macht der Rede schwarz in weiß verwandeln, ist eine Grundbedingung der politischen Existenz des Opportunismus ebenso wie der „Kooperation der Klassen“. Die Kunst, sich und vor allem die Hörer in Worten zu berauschen, war bei Gambetta ebenso hoch entwickelt wie bei Louis Blanc.
Man höre mir zum Beispiel, wie Gambetta sich über die Tatsache aussprach, daß die Senatoren nicht direkt, sondern von Wahlkörpern erwählt wurden, zu denen ursprüglich jede Gemeinde, die kleinste wie die größte, ob sie 50 Einwohner oder 2 Millionen umfaßte, einen Wahlmann entsandte. Ein reaktionäreres Wahlrecht, ein schlimmeres Attentat auf das allgemeine gleiche und direkte Stimmrecht war nicht gut denkbar. Zu welch herrlicher demokratischen Errungenschaft wußte aber Gambetta diese Erbärmlichkeit umzureden!
„Lange habe ich mich gesträubt,“ sagte er am 23. April 1875 seinen Wählern, den Arbeitern von Belleville, „zu glauben, daß diese Versammlung (die Nationalversammlung), die sicherlich die am meisten monarchisch und – wie soll ich doch sagen – am wenigsten unkirchlich gesinnte ist, die Frankreich je gehabt hat, gesättigt wie sie ist mit den Vorurteilen des oligarchischen Regimentes, bei der Aufgabe, eine erste Kammer zu errichten, dahin kommen würde, ihr als Grundlage zu geben, was das am meisten Demokratische ist, was Frankreich besitzt: den Gemeindegeist nämlich, die 36.000 Kommunen Frankreichs. Sehen Sie jetzt, in welchem Maße der Geist der Demokratie alle Köpfe eingenommen und selbst unsere erklärtesten Gegner durchdrungen haben muß, damit die Gesetzgeber von 1871 dem Senat, den sie schaffen wollten, die 36.000 Kommunen Frankreichs als Quelle anweisen konnten? Bewundern Sie in der Tat die Folgen und die Bedeutung eines solchen Gesetzes!“
Und nun entwarf Gambetta ein glänzendes Bild all der Herrlichkeiten, die für Frankreich aus diesem Wahlrecht hervorgehen werden, das nicht einen Senat, sondern„den großen Rat der Kommunen Frankreichs“ erzeugen müsse. So wurde die Aufhebung des gleichen Stimmrechtes für die Pariser Arbeiter in einen Sieg des Prinzips der Kommune umgeschwindelt.
Dem reaktionären Wechselbalg wird eine demokratische Etikette aufgeklebt, und die Demokratie hat über die Reaktion gesiegt! – eine Methode, die sicher an Friedlichkeit und Sicherheit mit keiner anderen vergleichbar ist. Man kann nur noch Siege erfechten, wenn man bereit ist, jede Niederlage einen Sieg zu nennen.
Indes waren es nur die Proletarier und Kleinbürger, die Gambetta mit dieser Methode betrog, nicht die Bourgeoisie; nicht jene Klasse, deren Interessen er tatsächlich vertrat, sondern jene, deren Stimmen er zu fangen suchte, um sie den kapitalistischen Interessen dienstbar zu machen. Die Illusion war nicht bei ihm, sondern bei seinen Wählern. Den bürgerlichen Interessen entspricht der Senat vollkommen.
Die Verfassung von 1875 erstand unter den Nachwirkungen des Aufstandes der Pariser Kommune. Daher war ihr leitender Gesichtspunkt der, die Republik so zu gestalten, daß sie eine Herrschaft des Proletariats ausschloß. Aber das Proletariat ist heute die einzige Macht, die der Kapitalistenklasse wirksam entgegentreten kann, weil sie die einzige ist, die eine höhere Produktionsweise als die kapitalistische repräsentiert. Unter den Einschränkungen der Kapitalistenklasse sind die vom Proletariat errungenen oder seinen dauernden Klasseninteressen dienenden die einzigen, die einen Kulturfortschritt bedeuten und die Gesellschaft auf eine höhere Stufe heben. Alle anderen Einschränkungen des Kapitalismus bewirken eine Hemmung der sozialen Entwicklung, eine Unterbindung der höchsten bisher erreichten Form des ökonomischen Lebens zugunsten niedrigerer, rückständiger, überlebter, führen zu unerträglichen Zuständen.
So muß schließlich immer wieder der Kapitalismus heute zur Herrschaft kommen, unter jeder Verfassung, die nicht das Proletariat zur Herrschaft führt; mag sie so antiliberal als möglich sein, durch ihre politischen Formen Kleinbürger, Bauern, Junker, Soldaten, Pfaffen, absolutistische Bureaukraten oder welche nichtkapitalistischen oder antikapitalistischen Klassen immer bevorzugen, das Kapital wird unter jeder dieser Verfassungen herrschen. Es bemächtigt sich am Ende auch der demokratischen Republik dort, wo das Volk, der„Demos“, mehr aus Kleinbürgern und Bauern als aus Proletariern besteht; das „Kaiserreich ohne Kaiser“, wie man die dritte Republik treffend nannte, bot aber für seine Herrschaft vornherein den günstigsten Boden. Es hatte im Kaiserreich mit dem Kaiser durch den Kaiser geherrscht, der immerhin noch eigene dynastische Zwecke neben den kapitalistischen verfolgte; im Kaiserreich ohne den Kaiser wird es direkt der Kaiser selbst, der die Minister einsetzt, den Senat und die Deputiertenkammer zusammensetzt und dirigiert. So wird die republikanische Politik noch leichter zu kapitalistischer Politik als die monarchische.
Das tritt deutlich zutage zum Beispiel in der Kolonialpolitik.
Man kann in der kapitalistischen Kolonialpolitik zwei verschiedene Zeitalter unterscheiden, die voneinander ebenso verschieden sind wie die ältere und jüngere Schutzzollpolitik, mit der sie zusammenhängen. Zwischen beiden Epochen liegt das Zeitalter des Freihandels. Die ältere Kolonialpolitik bildete einen Bestandteil der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals; sie beruhte auf direkter Plünderung reicher Länder, deren Reichtümer sie als Kapital in das Heimatland importierte. Die neue Kolonialpolitik findet solche reiche Plünderungsobjekte nur in geringem Maße vor. Sie entspringt den Bedürfnissen eines Kapitalismus, der an seinem eigenen Überfluß zu ersticken droht, der seine Reichtümer und Kapitalien in die Kolonien exportieren will, natürlich nur zu dem Zwecke, damit auch die kapitalistische Ausbeutung dahin zu exportieren.
Die alte Kolonialpolitik bereicherte, wo sie mit Erfolg betrieben wurde, nicht bloß die Kapitalisten, sondern auch den Staat, der an der Plünderung der Kolonien teilnahm. Die neue Kolonialpolitik bereichert die Kapitalisten auf Kosten des Staates, da es in den Kolonialländern zunächst nur wenig zu plündern gibt, während die Festsetzung und Ausbreitung der kapitalistischen Ausbeutung dort erhebliche Ausgaben für militärische Expeditionen und die Erhaltung eines großen staatlichen Herrschaftsapparats erfordert.
Bismarck, der ein gutes Auge für die Interessen der Staatsgewalt hatte, wehrte sich denn auch lange genug dagegen, die neue Kolonialpolitik zu beginnen. Es war die französische Republik, die sie mit aller Macht inaugurierte, als sie 1881 nach Tunis ging, 1882 nach Anam, 1888 nach Tonking und Madagaskar. Die deutsche Kolonialpolitik begann erst ein Jahr später.
In welchem Maße daneben die hohe Finanz Regierung und Kammer zu beherrschen und ihren Spekulationen sich sogar direkt dienstbar zu machen wußte, bezeugte am besten der bekannte Panamaskandal von 1888.
Wie wenig aber die Staatsgewalt dort vermochte, wo sie mit den kapitalistischen Interessen in Konflikt geriet, erweist die französische Eisenbahnpolitik.
Die Eisenbahnen haben sich als eines der mächtigste unter den modernen Kriegsmitteln erwiesen. Alle modernen Großstaaten auf dem Festland Europas trachten daher nach möglichster Verstaatlichung ihres Eisenbahnnetzes, um es vollständig in ihrer Hand zu haben. Im Deutschen Reiche ist diese Verstaatlichung fast völlig durchgeführt.
Anders in der Republik. Sie hat keine Kosten gescheut, ihre Armee der deutschen ebenbürtig zu machen; sie spart weder mit dem Gute, noch mit dem Blute des Volkes für diesen Zweck. Aber der so heiße Patriotismus des französischen Kapitals erlischt rapid, wenn durch die Maßregeln zur Verteidigung des Vaterlandes das Gebiet seiner Ausbeutung beschränkt werden soll.
Die Erfahrungen des deutsch-französischen Krieges hatten die Notwendigkeit der Verstaatlichung der Eisenbahnen für die moderne Kriegführung deutlich erwiesen, ihr Ankauf durch den Staat wurde daher in Preußen lebhaft betrieben, namentlich 1879 bis 1884.
Auch in Frankreich suchten seine Patrioten in gleicher Richtung zu wirken, besonders Gambetta trat eifrig für die Verstaatlichung ein. Aber der „Diktator“ mußte vor der Profitgier derselben Bourgeoisie die Segel streichen, deren Klasseninteressen er selbst so sehr gefördert.
Nach dem Scheitern der Verstaatlichungsprojekte kam es zu Verhandlungen zwischen dein Staate und den sechs großen Eisenbahngesellschaften. Das Resultat waren die Verträge von 1883, les conventions scélérates, die ruchlosen Verträge, wie sie hinterdrein genannt wurden, und mit Recht. Weit entfernt, die Privilegien einzuschränken, mit denen das Kaiserreich die Gesellschaften ausgestattet, wurden sie neu bestätigt und vermehrt. Eine Reihe von Bahnen, die der Staat seit 1879 gebaut, wurden ihnen geschenkt, ebenso wurden der Westbahn 80 Millionen geschenkt, die sie dem Staate schuldete. Den Gesellschaften wurden Mindestdividenden vom Staate garantiert, und zwar:
der Ostbahn |
|
7½ |
Prozent des Anlagekapitals |
der Westbahn |
71/10 |
|
|
der Südbahn |
10 |
||
der Mittelmeerbahn |
11 |
||
der Orleansbahn |
111/10 |
||
der Nordbahn |
18½ |
Die Belastung der Steuerzahler durch diese Verträge war enorm. In zehn Jahren (1884 bis 1893) betrugen die Garantiezuschüsse des Staates au die Eisenbahnen 688 Millionen Franken. und dabei dauerte die Plünderung der Reisenden und der Frachtenversender durch die Gesellschaften fort.
Das Schlimmste ist aber die Art und Weise, wie diese Verträge zustande kamen. Der Minister der öffentlichen Arbeiten, Raynal ebenso wie der Berichterstatter der Kommission der Kammer, Rouvier, malten die Verträge und ihre günstigen Folgen für den Staatsschatz und den Verkehr in rosigstem Lichte. Die Prüfung ihrer Vorspiegelungen wurde aber äußerst erschwert.
„Auf dringendes Verlangen der Regierung wurde ihre Beratung zuerst in der Kommission des Abgeordnetenhauses, dann im Hause selbst auf das äußerste beschleunigt. Die Abgeordneten, die eine gründliche Prüfung und Vorberatung verlangten und nachdrücklich Verwahrung dagegen einlegten, daß so wichtige Vorlagen, wie Camille Pelletan sich ausdrückte, im Galopp durchgepeitscht würden, wurden niedergestimmt“ (A. v. d. Leben, Eisenbahnen, Regierung und Volksvertretung in Frankreich, Zeitschrift für Eisenbahnen und Dampfschiffahrt, Wien 1895, S 99. Diesem Artikel sind auch die meisten der anderen über die Verträge von 1883 hier vorgebrachten Daten entnommen).
Mit welcher Leichtfertigkeit diese Verträge abgefaßt wurden, erhellt daraus, daß sie keine genauen Bestimmungen über die Dauer der Verpflichtung des Staates, die Dividenden zu garantieren, enthielten.
„Weder bei der Begründung des Gesetzentwurfes über die Verträge, noch in den Kommissionsverhandlungen, noch in den Verhandlungen des Abgeordnetenhauses oder des Senats ist die Dauer der Garantieverpflichtung ausdrücklich zur Sprache gekommen“ (A. v. d. Leyen, a. a. O., S. 116).
Hinterdrein legten manche Bahnen die Verträge dahin auf, daß die Garantieverpflichtung bis zum Ablauf der Konzession (bei der Südbahn bis 1960) daure, indes der Minister Barthou 1894 annahm, die Verpflichtung erlösche 1914. Aber der Staatsrat entschied für die Gesellschaften. Von 1884 bis 1893 hatte die Südbahn schon 135 Millionen vom Staate bekommen. Die Verlängerung der Garantiepflicht von 1914 bis 1960 kann den Staat bei dieser Gesellschaft allein leicht eine halbe Milliarde und mehr kosten.
Daß so geriebene Geschäftsleute wie Raynal, Rouvier und die Mehrzahl der französischen Parlamentarier nicht aus Unerfahrenheit oder Leichtsinn solche Verträge abschlossen, ist klar. Von Anfang an wurde denn auch gegen die gesamte Bande in der Presse und in der Kammer die Anklage erhoben, sie sei von den Gesellschaften gekauft worden, und die Angeklagten haben darauf stets nur mit Vertuschungsversuchen geantwortet. Die Hauptschuldigen an den Verträgen figurierten dann auch in der Reihe der Panamisten, unter ihnen Herr Rouvier, jetzt Finanzminister in dem Ministerium Combes, das nach der Meinung naiver Sozialisten berufen sein soll, die Aufhebung der kapitalistischen Ausbeutung zu inaugurieren~m Wirklichkeit ist die Anwesenheit dieses Vertrauensmanns der hohen Finanz im Ministerium eine Garantie für die Kapitalistenklasse, daß die Unterstützung der Regierung durch die Sozialisten auch nicht die mindeste Einengung der Plünderung des Staates durch die Kapitalisten mit sich bringt. In der Tat haben die beiden letzten „sozialistischen“ Ministerien nicht einen Finger gerührt, um den großen Eisenbahngesellschaften zu Leibe zu gehen; Millerand hat die Subventionierung des Kapitals noch vermehrt, indem er den großen Reedern Prämien zusvhanzte (Gesetz vom 25. November 1901).
Das Budget des französischen Staats für 1904 verzeichnet:
Subventionen und Zinsen an Eisenbahngesellschaften |
|
97.600.000 Franken |
Subventionen an Postdampfer |
26.653.000 Franken |
|
Subventionen für die Handelsflotte (Handelsministerium) |
29.250.000 Franken |
|
Zusammen |
158.508.000 Franken |
Man sieht, auch unter sozialistischen Ministern und von Sozialisten gestützten Regierungen verkümmert das Kapital in der dritten Republik nicht.
Au Vergeudung von Staatsgeldern zugunsten der Kapitalistenklasse kann sich die dritte Republik mit dem zweiten Kaiserreich messen. An Energie in der Belastung der unteren Volksklassen ist sie ihm noch über. Die Kolonialpolitik, die Vermehrung der Beamtenposten, die Vergrößerung der Armee, die Subventionierungen kapitalistischer Unternehmungen ließen die Staatsausgaben riesengroß anschwellen.
Wir haben oben gesehen, daß Adolf Wagner ein Wachstum der Steuereinnahmen in der Zeit zwischen 1847 und 1870 von 1.098 auf 1.543 Millionen Franken verzeichnet. Von 1870 bis 1885 gibt er aber eine weitere Zunahme auf 2.692 Millionen an, und im Budget für 1904 sind die Staatseinnahmen auf 3.571 Millionen veranschlagt. Das macht von 1870 bis heute eine Zunahme von zwei Milliarden, mehr als eine Verdopplung der Steuerlasten.
Und das bei fast gleichbleibender Bevölkerung! Sie betrug 1847 36, 1870 über 38, 1901 nicht ganz 39 Millionen. Auf den Kopf kam 1847 eine Steuerlast von 30, 1870 von 40, 1904 von 92 Franken. Sie wuchs in den zwei Jahrzehnten des Kaiserreichs um 10 Franken (33 Prozent), in den drei Jahrzehnten der Republik um 50 Franken (125 Prozent). Auf eine fünfköpfige Familie kommt heute durchschnittlich eine Steuerlast von 450 Franken!
Dabei hat aber die Vermehrung der Steuern nicht gereicht, die steigenden Ausgaben zu decken. Immer neue Schulden mußten gemacht werden. Nach einer Aufstellung in Statemans Yearbook betrug die Verschuldung Frankreichs in Millionen Franken:
|
|
Kapital |
|
Zinsen |
---|---|---|---|---|
28. September 1800 |
714 |
36 |
||
1. Januar 1815 |
1.272 |
64 |
||
1. August 1830 |
4.426 |
199 |
||
24. Februar 1848 |
5.913 |
244 |
||
1. Januar 1852 |
5.516 |
239 |
||
Januar 1871 |
12.454 |
386 |
||
Januar 1889 |
21.251 |
739 |
||
Januar 1899 |
29.948 |
1.256 |
||
Januar 1902 |
30.343 |
1.192 |
Auch wenn man die 5 Milliarden Kriegsentschädigung abzieht und noch weitere 3 Milliarden auf Kriegskosten rechnet, bleibt immer noch eine Vermehrung der Schulden um etwa 10 Milliarden bestehen.
Aber die Vermehrung der Steuern charakterisiert an sich noch nicht das kapitalistische Regime. Der Ruf nach möglichst wenig Steuern ist ein kleinbürgerlicher. Auch ein proletarisches Regime bedarf hoher Steuern, solange es nicht sozialistisch wirtschaftet, wie dies zum Beispiel in Gemeinden eintreten kann, die innerhalb des kapitalistischen Staates vom Proletariat erobert werden. Große soziale Reformen sind ohne große Aufwendungen unmöglich. Hier liegt eine der größten Schwierigkeiten jeder sozialistischen Kommunalpolitik innerhalb der kapitalistischen. Produktionsweise.
Die hohen Steuern unterscheiden also au sich noch nicht ein proletarisches oder proletarierfreundliches Regime von einem kapitalistischen, wohl aber die Art der Steuern und ihre Verwendung.
Und da marschiert die dritte Republik an der Spitze der kapitalistischen Staaten.
Wir haben gesehen, daß die erste Republik danach trachtete, die Bedürfnisse des Staates möglichst nur durch direkte Steuern zu decken – und, wo diese nicht ausreichten, durch die Konfiskation von Gütern der Volksfeinde. Schon vor der Erringung der Republik hatte das revolutionäre Volk die indirekten Steuern selbst fast ganz abgeschafft, die Organe ihrer Erhebung verjagt. Wir haben aber auch gesehen, wie nach der Niederwerfung der unteren Volksklassen sogleich auch wieder die Rückkehr zu den indirekten Steuern begann. Sie wurden seitdem der Hauptpfeiler des französischen wie jedes anderen bürgerlichen Steuersystems. Die dritte Republik aber hat, im Gegensatz zur ersten, ihre Bedeutung über das vom Kaiserreich überkommene Maß hinaus nicht vermindert, sondern vermehrt.
Wenn man die schon mehrfach erwähnte Tabelle Adolf Wagners, die er in dem Ergänzungsheft zu seiner Speziellen Steuerlehre (S. 187) selbst bis 1894 ausdehnte, durch die Zahlen für 1904 ergänzt, erhalten wir folgende Resultate:
Millionen Franken |
1847 |
1870 |
1885 |
1894 |
1904 |
---|---|---|---|---|---|
Direkte Steuern |
331,7 |
332,8 |
446,5 |
535,0 |
626,2 |
Verkehrssteuern |
263,8 |
446,5 |
708,0 |
710,3 |
759,4 |
Indirekte |
464,8 |
708,9 |
1.309,6 |
1.542,4 |
1.945,9 |
Andere kleinere |
48,0 |
54,8 |
228,3 |
186,0 |
239,5 |
Summe |
1.098,2 |
1.543,0 |
2.692,4 |
2.973,7 |
3.571,0 |
Prozente |
|||||
Direkte Steuern |
30,2 |
21,5 |
16,6 |
18,0 |
17,5 |
Verkehrssteuern |
23,1 |
29,0 |
26,3 |
23,9 |
21,2 |
Indirekte |
42,3 |
46,0 |
48,6 |
51,8 |
54,5 |
Andere kleinere |
4,4 |
3,5 |
8,5 |
6,3 |
6,8 |
Summe |
100,0 |
100,0 |
100,0 |
100,0 |
100,0 |
Progression |
|||||
Direkte Steuern |
100,0 |
100,3 |
134,6 |
161,3 |
188,7 |
Verkehrssteuern |
100,0 |
175,9 |
279,0 |
280,0 |
299,2 |
Indirekte |
100,0 |
152,5 |
281,7 |
331,8 |
418,6 |
Andere kleinere |
100,0 |
114,2 |
475,6 |
387,6 |
499,0 |
Summe |
100,0 |
140,5 |
245,2 |
278,0 |
325,2 |
Das Anwachsen der direkten Steuern ist aus dieser Tabelle nicht ganz klar zu ersehen, da das französische Budget Steuern, die wir als direkte ansehen, namentlich die Erbsteuer, nicht als solche, sondern als Verkehrssteuern bezeichnet. Aber ganz auffallend tritt in der Tabelle das stete Anwachsen der indirekten Verbrauchssteuern zutage. Während die Gesamtsumme der Steuern seit 1847 sich verdreifachte, hat sich die der indirekten Steuern vervierfacht.
Kurt Eisner findet den französischen Etat „weit antikapitalistischer als die preußisch-deutsche Steuerschröpfung“. Ihm imponiert besonders die Grundsteuer und die Erbsteuer, die er der preußischen Einkommensteuer entgegenhält. Es ist wahr, die Grundsteuer ist revolutionären Ursprungs, sie sollte die einzige Steuer bilden, den Mehrwert besteuern. Ihr Ertrag war 1790 auf 240 Millionen Franken veranschlagt. Wie war seitdem ihre Entwicklung?
„Die ursprüngliche Hauptsumme (principal) des Grundsteuerkontingentes des ganzen Staates hat erhebliche Herabsetzungen erfahren.“ Das so herabgesetzte Kontingent ist aber dann „seit geraumer Zeit (1821) im wesentlichen tatsächlich stabil geworden, gegen die Natur jeder Steuer, auch gegen die ursprüngliche Absicht des Gesetzgebers und im vollen Gegensatz zur Entwicklung des französischen Steuerbedarfes und der meisten übrigen, besonders der indirekten Verbrauchs- und der Verkehrssteuern, aber auch der Patentsteuer, zu welchen allen die Grundsteuer daher immer mehr in ein Mißverhältnis gekommen ist.“ (Adolf Wagner, a. a. O., S. 488)
Nie war dies Mißverhältnis so groß, wie unter der dritten Republik. Man hat also keine Ursache, die über hundert Jahre alte Steuer, die alle französischen Regimes überdauert hat, gerade der jetzigen Republik zugute zu schreiben. Sie ertrug 1870 172, 1885 178 Millionen, ist für 1904 auf 194 Millionen veranschlagt. Die Grundsteuer trifft sowohl Kulturland wie mit Gebäuden bedeckten Boden. Seit 1884 werden beide Arten Grundsteuer getrennt aufgeführt. Da zeigt die Grundsteuer vom Kulturland sogar eine Abnahme. Sie betrug in Franken:
|
|
1884 |
|
1901 |
|
Zu (+) oder |
---|---|---|---|---|---|---|
Für Kulturland |
118.650.252 |
104.982.554 |
− 18.717.698 |
|||
Gebäude |
57.070.621 |
89.539.551 |
+ 32.468.930 |
|||
Summe |
175.720.878 |
194.472.105 |
+ 13.751.282 |
Man sieht, die französischen Agrarier haben sich über die Republik nicht zu beklagen. Die Grundsteuer wird für sie immer geringer. Wir werden den Agrarierschutz Frankreichs noch in einem anderen Zusammenhange kennen lernen.
Nicht dasselbe wie von der Grundsteuer kann man von der Erbschaftssteuer sagen. Sie ist hoch, und ihre Erträge steigen natürlich mit der Zunahme des kapitalistischen Reichtums. Immerhin nicht so stark wie die allgemeine Steuerlast. Die Erträge der Erbsteuer stiegen von 1885 bis 1904 von 177 Millionen auf 221, also um 25 Prozent, dagegen die allgemeinen Steuereinnahmen von 2.692 auf 3.571 Millionen, also um 32 Prozent.
Überdies ist diese Erbsteuer gar nicht von der Republik geschaffen, sie findet sich schon vor der großen Revolution im ancien régime. Sie beruht heute n0ch im wesentlichen auf dem Gesetz vom 22. Frimaire des Jahres VII (1798), der Zeit der vollsten Reaktion und Säbelherrschaft, unmittelbar vor dem Staatsstreich Napoleons. Das Gesetz vom 25. Februar 1901, das sie reformierte, hat nicht viel an ihr geändert. Bis dahin war sie ohne jegliche Progression gewesen, hatte also gerade das nicht enthalten, was wir von einer jeden derartigen Steuer fordern müssen. Seitdem ist eine gewisse Progression eingetreten, aber eine minimale, die nicht weit geht. Von einer Befreiung der kleinsten Erbschaften, des Erbteils der Ärmsten, ist aber keine Rede. Für Erbschaften in direkter Linie sind zu bezahlen bei einem Betrag von 1–1.000 Franken 1 Prozent; die Steuer wächst bis zu einem Maximum von 2½ Prozent für Erbschaften von 250.001 Franken darüber hinaus. Bei Erbschaften zwischen Nichtverwandten aber beträgt die Erbsteuer mindestens 15 Prozent (bis 1000 Franken) und höchstens 18 (1 Million und darüber). Der Sohn eines hunderte fachen Millionärs hat also nur 2½ Prozent für sein reiches Erbe zu zahlen; das arme Dienstmädchen, das für langjährige Dienste mit einem kleinen Legat bedacht wird, muß 15 Prozent davon dem Staate abgeben. Und noch eine Schönheit der französischen Erbsteuer: Bei den kleinsten Beträgen sind die Steuersätze für Erbschaften unter Nichtverwandten 15mal so groß wie für solche in direkter Linie. Bei den größten (über eine Million) nur 7mal so groß. Eine eigenartige Progression.
Neben diesen Steuern kommen hier noch in Betracht die Personal- und Mobiliar- und die Tür- und Fenstersteuer. Die Personalsteuer beträgt den dreifachen Betrag des vom Generalrat für die Gemeinde als üblich angesetzten Tagelohns (mit dem Maximum von 1½ Franken) und wird in gleicher Höhe von jedem Einwohner beider Geschlechter in der Gemeinde erhoben, der „im Genusse seiner Rechte“ und nicht notorisch arm ist. Das ist eine ganz primitive, brutale Kopfsteuer. Die Mobiliarsteuer wird berechnet nach der Höhe des Mietwertes der Wohnung, die der Steuerzahler bewohnt. Auch hier keine Progression oder vielmehr, da bei den kleinen Einkommen ein größerer Prozentsatz auf die Kosten der Wohnung entfällt als bei den größeren, bildet diese Steuer eine nach unten progressive Einkommensteuer.
So sagt denn auch Adolf Wagner von ihr:
„Ohne Steuerfreiheit für kleine Wohnungen der Ärmeren und mit proportionalem Steuerfuß wirkt sie, vollends neben der Personalsteuer, umgekehrt progressiv auf die kleinen Leute, die Masse der Bevölkerung. Bedenken, die sich in Frankreich bei dessen sonstiger hoher Verbrauchsbesteuerung noch steigern.“ (a. a. O., S. 458)
Dieselben Bedenken wie die Mobiliarsteuer treffen die Tür- und Fenstersteuer, die außerdem noch dadurch bedenklich wird, daß sie nichts anderes ist als eine Besteuerung der Licht- und Luftzufuhr für die nicht im Freien arbeitende Bevölkerung, also eine Besteuerung ihrer Hygiene.
Diese direkten Steuern sind also höchst irrationell, nach unten drückender als nach oben. Unter den indirekten stehen in erster Linie die Monopole und die Zölle, die in Frankreich enorm hoch geschraubt sind. 1870 ertrugen die letzteren 70 Millionen, 1885 schon 291 und 1904 421 Millionen! Der Ertrag der Monopole ist für 1904 auf 480 Millionen veranschlagt (ohne Post und Telegraphen). Das Tabakmonopol warf 1870 247, 1885 397, 1904 433 Millionen ab.
Die Schönheiten des französischen Steuersystems blieben unvollständig, wollten wir nicht auch noch der Besteuerung der Gemeinden gedenken. Die große Revolution hatte, wie wir gesehen, das Oktroi aufgehoben; an dessen Stelle wurde den Gemeinden gestattet, Zuschläge zu den direkten staatlichen Steuern, also zunächst der Grundsteuer, einzuheben. Die Reaktion behielt die Zuschläge, gesellte ihnen aber das Oktroi wieder zu, das 1798 für Paris, im folgenden Jahre für andere Gemeinden eingeführt wurde.
„Dies Oktroi ist allmählich in so zahlreichen Gemeinden (im Jahre 1888 in 1.525) angewandt, so umfassend ausgebildet und zu einem so starken Ertrag gebracht worden, daß es an finanzieller Bedeutung für den Kommunalhaushalt der Gesamtheit der französischen Gemeinden und zumal für den riesigen Haushalt von Paris die direkte Besteuerung mittels der Zuschlagcentimen erheblich übertrifft“ (Adolf Wagner, a. a. O., S. 865)
Das Oktroi, dieser Rest des Mittelalters, in Preußen schon 1873 (die Mahl- und Schlachtsteuer) aufgehoben, erwächst und gedeiht lustig in der dritten Republik wie in den drei ihr vorhergehenden Monarchien, nachdem die große Revolution geglaubt, ihm für immer den Garaus gemacht zu haben. Es sind eben ganz eigenartige Traditionen der Revolution, welche die dritte Republik beherrschen.
Wir finden im Handwörterbuch der Staatswissenschaften eine Tabelle, aus der wir folgende Zahlen herausheben:
Jahr |
Zahl der Oktroi- |
Bevölkerung de |
Rohertrag |
Steuer pro Kopf |
---|---|---|---|---|
Franken |
Franken |
|||
1823 |
1.484 |
5.997.600 |
61.871.443 |
10,32 |
1863 |
1.508 |
9.582.144 |
167.043.698 |
16,43 |
1883 |
1.526 |
12.518.762 |
285.704.247 |
22,82 |
1893 |
1.518 |
14.108.352 |
316.847.524 |
24,54 |
1898 |
1.509 |
13.454.110 |
333.194.906 |
24,76 |
Der Ertrag dieser schlimmsten und reaktionärsten aller Steuern ist also noch immer im Steigen. Man vergleiche damit Berlin, dessen Gemeindesteuern pro Kopf 1898 28 Mark ausmachten, wovon 42 Pfennig durch Verbrauchssteuern aufgebracht wurden.
Zu alledem kommt noch hinzu die hartnäckige Weigerung jedes bisherigen Parlamentes der dritten Republik, eine progressive Einkommensteuer einzuführen, wie sie in verschiedenen deutschen Staaten seit längerer Zeit besteht. Der jüngste Entwurf Rouviers verspricht auch, kein besseres Schicksal zu haben als seine Vorgänger. Sollte er aber wirklich Gesetz werden, wird er der reine Hohn auf eine wirkliche progressive Einkommensteuer sein.
Adolf Wagner findet denn auch im französischen Steuersystem durchaus nichts .„Antikapitalistisches“. Er ist voll Sympathie für die in Frankreich vorwiegenden Steuerarten, sowohl die indirekten Steuern wie die Monopole; er meint auch, in der Hauptsache sei das Steuersystem der dritten Republik eine Notwendigkeit, was richtig ist, bei den gegebenen sozialen und politischen Verhältnissen; aber er muß zugeben, daß es das Gegenteil ist des antikapitalistischen Steuersystems, das die große Revolution einzuführen versuchte, daß es die Fortsetzung und Verschärfung des monarchistischen Steuersystems bildet. Im Ergänzungsheft zu seiner Speziellen Steuerlehre (1896) schreibt er:
„Im Anfang des zweiten Jahrhunderts nach dem Jahre 1789 ist man in Frankreich mehr als je von dem im Beginn der ersten Revolution verfolgten Ziele der Steuerpolitik: weg mit den indirekten Steuern, entfernt. Unter dem Einfluß der Ereignisse von 1870/71, der seitdem innegehaltenen allgemeinen Politik hat man gerade in der dritten Republik eine Steuerpolitik eingeschlagen und konsequent durchgeführt, welche den Schwerpunkt der Steuern selbst immer mehr noch in die indirekte Verbrauchsbesteuerung, daneben in die Verkehrsbesteuerung gelegt hat. In den letzten Jahren, auch wieder seit Mitte und Ende der achtziger Jahre, besonders unter dem Einfluß der jüngsten Zollpolitik, ist diese Richtung sogar abermals stärker geworden ... Ein idealistischer Finanzmann und Steuerpolitiker der ersten Revolution, welcher das Steuersystem des ancien régime verurteilte und zusammenbrechen half, würde staunen, wenn er im heutigen französischen System im ganzen doch wieder so viele Ähnlichkeit mit dem alten sähe“ (S. 134, 135).
Und nun noch ein Blick auf die Verwendung der auf so irrationelle und arbeiterfeindliche Art aufgebrachten Milliarden.
Nach dem jüngsten Budget entfielen auf:
Verzinsung der Staatsschuld |
|
1.216.934.612 |
Franken |
Kosten der Steuererhebung |
213.805.685 |
|
|
Armee |
680.720.000 |
||
Marine |
312.931.832 |
||
Kolonien |
110.358.097 |
||
Zusammen |
2.534.750.226 |
Franken |
71 Prozent der Ausgaben entfallen auf diese Gebiete. Dazu kommen noch über 150 Millionen Subventionen an kapitalistische Unternehmungen, endlich bisher 43 Millionen für die Kirche. Auf den Rest entfallen bloß 28 Prozent des Gesamtbudgets von 3.571 Millionen Franken. Und auch davon geht ein erheblicher Bruchteil auf die Bezahlung von Sinekuren und arbeiterfeindlichen Funktionen hinaus.
Man muß diese Ziffern im Auge behalten, wenn man die Kraft der Republik, größere Ausgaben für soziale Reformen auf sich zu nehmen, richtig taxieren will. Die Volksmasse ist schon aufs äußerste durch Steuern bedrückt, die Kapitalistenklasse weiß aber die Klinke der Gesetzgebung vortrefflich zu benutzen, um Angriffe auf ihren Geldbeutel abzuwehren. Ohne solche oder ohne große Verringerung der Ausgaben für Staatsschulden oder Kriegswesen ist aber der französische Staat ganz außerstande, erhebliche Summen für soziale Reformen aufzubringen, bleiben alle Versprechungen solcher leere Flausen.
Die Steuerpolitik ist eines der Gebiete, auf denen die kapitalistische Republik sich leicht arbeiterfeindlicher zeigt als die Monarchie, ein anderes ist die Sozialpolitik. Natürlich wäre es lächerlich, zu sagen, die Monarchie, in der die Staatsgewalt zu einer größeren Selbständigkeit gegenüber der Gesellschaft gelangt ist, sei in allen Punkten weniger arbeiterfeindlich als die kapitalistische Republik. Es gibt Gebiete, wo Proletariat und Bourgeoisie das gleiche Interesse gegenüber der Staatsgewalt haben; auf diesen Gebieten ist die kapitalistische Republik dem Proletariat freundlicher als die Monarchie – natürlich stets unter der Voraussetzung sonst gleicher Umstände; die Preßfreiheit zum Beispiel. ist in der kapitalistischen Republik leicht größer, auch das Schulwesen dort besser geordnet als in der Monarchie. Auf dem letzteren Gebiet hat die dritte Republik Hervorragendes geleistet. Wo die Interessen der Staatsverwaltung und der Bourgeoisie zusammenfallen, da werden Monarchie und kapitalistische Republik auf einer Stufe stehen; und das gilt für die meisten Gebiete des Staatslebens, so äußere Politik (abgesehen von der Kolonialpolitik, an der heute das Kapital ein größeres Interesse hat als der Staat), Militarismus usw.
Dagegen wird die kapitalistische Republik leicht dort arbeiterfeindlicher als die Monarchie, wo das proletarische Interesse im Gegensatz steht zum kapitalistischen, dagegen in einem gewissen Einklang mit dem Staatsinteresse. In einem gewissen Einklang, denn eine volle Harmonie zwischen dem heutigen Staat und dem Proletariat ist auf keinem Gebiet möglich. Aber ihre Interessen gegenüber der Bourgeoisie gehen in der Steuerfrage zum Beispiel doch soweit Hand in Hand, als das Proletariat auf das lebhafteste daran interessiert ist, die besitzenden Klassen möglichst stark zur Tragung der Staatslasten herangezogen zu sehen, zur eigenen Entlastung, und der Staat auch ein Interesse daran hat, aus den besitzenden Klassen möglichst viel für sich herauszuholen. Dies Interesse kann aber um so weniger zur Geltung kommen, je mehr die Staatsgewalt von den besitzenden Klassen direkt abhängig ist.
Andererseits hat die Staatsgewalt auch ein gewisses Interesse au der physischen Kraft und Leistungsfähigkeit der Staatsbürger sowohl als Steuerzahler wie als Soldaten. Der Kapitalist hat wohl auch ein Interesse daran, möglichst kräftige und ausdauernde Arbeiter zu beschäftigen, aber wenn noch genügende Reserven davon vorhanden sind, liegt ihm wenig daran, wie rasch er sie verbraucht, wie sehr die Zahl der degelierierten Elemente im Proletariat wächst.
Eine der Kapitalistenklasse selbständiger gegenüberstehende Staatsgewalt wird daher, wenn sie nicht ganz von der Hand in den Mund lebt und völlig verrottet ist, leichter Einrichtungen zum Schutze der Arbeiterschaft treffen, als eine von ihr direkt abhängige. Das zeigt uns auch die dritte Republik.
Kurt Eisner hebt freilich ihr Koalitionsrecht und ihren Normalarbeitstag rühmend hervor. Aber der Glanz dieses Ruhmes verblaßt bedenklich, wenn man sich die Arbeiterpolitik der dritten Republik näher ansieht.
Esist bekannt, daß eine der ersten sozialpolitischen Taten der großen Revolution die Zertrümmerung der Zünfte war. Um sie nicht wieder aufleben zu lassen, wurde durch das Gesetz vom 14. Juni 1791 verboten, daß Arbeiter oder Unternehmer desselben Berufs sich zusammentun, um ihre gemeinsamen Interessen zu wahren. Diese Bestimmungen richteten sich nicht bloß gegen die Zünftlerei der Vergangenheit. Unter dem Einfluß der neuen Freiheit, die so grell kontrastierte mit dem überkommenen Elend, hatte sich in Paris eine starke Ausstandsbewegung von Lohnarbeitern aller Art entwickelt, die nach Lohnerhöhungen verlangten. Das Gesetz vom 14. Juni 1791 war die Antwort der Bourgeoisie darauf.
Es wurde indes zunächst nicht allzu hart empfunden. Das Lohnproletariat war noch schwach, ganz im kleinbürgerlichen Gedankenkreis befangen, außerdem aber lag ihm der polidchhe Kampf als Mittel zur Verbesserung seiner Lage viel näher als der wirtschaftliche; jener war auch damals weit aussichtsreicher. Dagegen trat der letztere mehr in den Vordergrund nach dem Sturze der Schreckensherrschaft, und das veranlaßte nicht nur, daß das Gesetz vom 14. Juni 1791 energischer zur Anwendung gebracht, sondern auch, daß es verschärft wurde durch Polizeimaßregeln und Gesetze, die schließlich in den Artikeln 414, 415 und 416 des Code pénale (1810) gipfelten. Der erste dieser Artikel bestrafte jede Koalition der Unternehmer, die „ungerechterweise und mißbräuchlich“ eine Herabsetzung der Löhne erzwingen will, mit Gefängnis von 6 Tagen bis Monaten und einer Geldstrafe bis 3.000 Franken. Jede Koalition der Arbeiter und jede Verrufserklärung wurde durch die Artikel 415 und 410 mit Gefängnis von 1 bis 3 Monaten bestraft; den Rädelsführern aber drohten 2 bis 5 Jahre. Auch wurden diejenigen, die sich gegen die beiden letzteren Artikel vergingen – also nur die sich koalierenden Arbeiter, nicht auch die sich koalierenden Unternehmer –, der polizeilichen Uberwachung für 2 bis 5 Jahre unterworfen.
Dazu kamen die Artikel 291 bis 294 des Code pénal, durch die festgesetzt wurde, daß kein Verein mit mehr als 20 Mitgliedern sich ohne Zustimmung der Regierung bilden dürfe.
Das famose Koalitionsverbot blieb vollinhaltlich in Kraft bis zur Februarrevolution. In dieser herrschten jedoch die Arbeiter zu kurze Zeit, als daß sie es hätten umstürzen können. Sie bewirkte bloß die formelle Gleichstellung von Unternehmern und Arbeitern. Die Koalitionen beider wurden mit den gleichen Strafen belegt.
Eine erheblichere Milderung des Koalitionsverbots brachte erst das Kaiserreich, als es in den sechziger Jahren sich einen liberalen Anstrich geben wollte und das aus der kapitalistischen Prosperität erwachsende Proletariat, angeregt durch das englische Beispiel, sich immer mehr zu regen begann. Die gewerkschaftliche Organisation wurde nun zu einem dringenden Bedürfnis für die Lohnarbeiter, das sie um jeden Preis zu befriedigen suchten, wenn’s auf gesetztlichem Wege nicht ging, so auf ungesetzlichem. Namentlich die Form der durch das Gesetz vom 15. Juli 1850 anerkannten, früher aber schon geduldeten Hilfskassen (sociétés des secours mutuels) wurde ein beliebter Deckmantel, um dahinter „Widerstandsgesellschaften“ (sociétés du résistances) zu verstecken, wie die dem Lohnkampf dienenden Gewerkschaften in Frankreich damals vorwiegend hießen, für die dann nach der Kommune ihr jetziger harmloserer Name (syndicats) gebräuchlich wurde. Schon in den vierziger Jahren finden wir derartige Widerstandsgesellschaften, aber erst in den sechziger Jahren erhielten sie eine solche Ausdehnung und Kraft, daß die Regierung mit ihnen rechnen mußte.
Wie sonst erwies sich auch hier die kaiserliche Regierung völlig haltlos. Aus Angst vor den Gewerkschaften machte sie ihnen Konzessionen, um sie zu gewinnen, und malträtierte sie sie polizeilich, um sie nicht erstarken zu lassen. Die Folge dieser famosen Politik war, daß sie gleichzeitig erstarkten und immer oppositioneller wurden.
Das Koalitionsrecht wurde den Arbeitern gegeben, die ständige Organisation des proletarischen Widerstandes blieb aber verboten. Die Artikel 414 bis 416 des Code pénal wurden in ihrer alten Form aufgehoben und durch neue ersetzt. Nach der neuen Fassung von Artikel 414 und 415 wurde jeder bestraft, der durch „Gewalttätigkeiten, Tätlichkeiten, Drohungen oder betrügerische Manöver“ eine gemeinsame Arbeitseinstellung herbeiführt oder herbeizuführen sucht, um die Löhne zu steigern oder herabzudrücken oder die Freiheit der Arbeit zu beschränken. Dafür wurden 6 Tage bis 3 Jahre Gefängnis und Geldstrafe von 16 bis 8.000 Franken angedroht, außerdem Unterstellung unter polizeiliche Überwachung, wenn diese Schandtaten die Folge einer Verabredung waren. Artikel 416 verbot die Verrufserklärungen.
Mit Recht bemerkt A. Leroy in einem Artikel über die Gewerkschaften (in La vie socialiste, Nr. 2, S. 85), damit sei das alte Koalitionsverbot nur gefallen, um es in neuer Form aufleben zu lassen: in der eines Schutzes der Freiheit der Arbeit.
Das Gesetz vom 14. Juni 1791 blieb dabei bestehen, doch wuchs gegen Ende des Kaiserreichs die stillschweigende Duldung der Gewerkschaften.
Die dritte Republik ging lange nicht über das zweite Kaiserreich hinaus. Ihre einzige Leistung bestand zunächst in dem Gesetz vom 14. März 1872, das die„Internationale“ verbot und die Mitgliedschaft bei ihr mit 3 Monaten bis 2 Jahren Gefängnis bedrohte.
Die berufliche Organisation wurde den Arbeitern freilich nach wie vor durchs die Verhältnisse aufgezwungen, aber unter dem Schreckensregiment nach der Kommune äußerten die Gewerkschaften zunächst sehr friedliche Tendenzen, warfen sich namentlich auf die Gründung von Genossenschaften und bekämpften erbittert den neuauftauchenden Sozialismus, der durch Guesde und Genossen seit 1876 propagiert wurde. Indes allmählich begann er auch in den Gewerkschaften Fuß zu fassen, und je länger diese rechtlos blieben, um so größer wurde die Gefahr, daß der oppositionelle Geist in ihnen um sich greife. So finden wir seit 1881 die Bestrebungen der bürgerlichen Republikaner, den Gewerkschaften an Stelle der Duldung eine rechtliche Grundlage zu geben, „um den sozialen Frieden zu sichern“, Versuche, die unter dem opportunistischen Ministerium Ferry, mit Waldeck-Rousseau als Minister des Innern zu dem Gesetz vom 21 . März 1884 führten, durch welches das Gesetz vom 14. Juni 1791 aufgehoben und erklärt wurde, die Artikel 291 bis 294 des Code pénal fänden auf die Gewerkschaften keine Anwendung. Auch der Artikel 416 des Code pénal wurde aufgehoben, dagegen blieben die Artikel 414 und 415 bestehen, welche die „Freiheit der Arbeit“ schützen.
Was die Arbeiter in Deutschland 1869 erlangten, darauf hatten die Arbeiter in der dritten Republik also bis 1884 warten müssen. [1] Man kann aber nicht sagen, daß nun wenigstens das französische Koalitionsrecht dem deutschen überlegen gewesen wäre. Wohl hat es einen großen Vorteil gegenüber diesem. Es gilt auch für ländliche Arbeiter. Aber man würde sich täuschen, wollte man annehmen, daß es auf alle Arbeiterschichten Anwendung findet. Es gilt, sonderbarerweise nur für solche, die „industrielle, kommerzielle oder landwirtschaftliche Interessen haben“. Also zum Beispiel nicht für die Intellektuellen. Erst das Gesetz vom 30. November 1892 erlaubt die gewerkschaftliche Organisation für Ärzte und Hebammen. Dagegen haben die Lehrer bis heute noch nicht dies Recht.
Besonders zweifelhaft ist die Stellung vieler Arbeiter im Staats- und Gemeindedienst, die nicht eine ausgesprochene „industrielle, kommerzielle oder landwirtschaftliche Tätigkeit ausüben“. Die Regierungen und Gerichte verneinten das für viele von ihnen. Erst als das Vereinsgesetz vom 1. Juli 1901 für die Vereine überhaupt freiere Bestimmungen schuf, das aber immer noch eine Reihe von Fußangeln, namentlich für Vereine mit internationalen Beziehungen, enthält, konnten die Staatsarbeiter (Postbeamte und andere) sich organisieren – wenn die Regierung es gestattete. Zur Stunde, wo ich dies schreibe, finde ich lebhafte Klagen in den Pariser Blättern des ministeriellen Sozialismus über die Versuche des Direktors der indirekten Steuern, die Gewerkschaft seiner Beamten zu zerstören, deren Rechtslage keineswegs eine unzweifelhafte ist. Und dabei hatte diese Gewerkschaft sich in der untertänigsten Weise dem Finanzminister gegenüber benommen und dem alten Panamisten Rouvier wiederholt ihre Hochachtung und Verehrung ausgesprochen.
Also die volle Koalitionsfreiheit der Staatsarbeiter, die von den Verehrern der dritten Republik bei uns so rühmend hervorgehoben wird, steht auf sehr schwachen Füßen. Auch abgesehen davon enthält das Gesetz vom 21. März 1884 noch zahlreiche Beschränkungen der Koalitionsfreiheit. Es gestattet den Gewerkschaften bloß die Beschäftigung mit ökonomischen Fragen, politische Fragen sind daher ausgeschlossen. Nicht bloß die Statuten, sondern auch die Namen der Funktionäre müssen dem Maire der Ortschaft, in der die Gewerkschaft ihren Sitz hat, mitgeteilt werden – eine Bestimmung, die die Arbeiter besonders erregte, da sie befürchteten, die Maires würden diese Namen den Unternehmern mitteilen, denen es dann ein leichtes wäre, durch Entlassung der Betreffenden die Gewerkschaft lahmzulegen. Das wird noch verschlimmert durch die weitere Bestimmung, daß nur solche, die den Beruf tatsächlich ausüben, Mitglieder der Gewerkschaft sein dürfen. Gewesene Arbeiter dürfen wohl Ehrenmitglieder sein, können aber nach der geltenden Rechtsprechung kein Amt in der Gewerkschaft bekleiden. (Vergleiche den Kommentar zu dem Gesetz in der vortrefflichen Sammlung Lois sociales, recueil des textes de la législation sociale een France, herausgegeben von J. Chailly-Berth und A. Fontaine, Paris 1895, Léon Chailly.)
Nicht als eine Konzession, sondern als ein Fallstrick wurde dies Gesetz von den Arbeitern Frankreichs aufgenommen, die dagegen protestierten. Es dauerte lange, ehe sie begannen, sich seiner zu bedienen. Ihr Mißtrauen war nicht unberechtigt. So bot zum Beispiel die Veranlassung zur Schließung der Pariser Arbeitsbörse 1893 der Umstand, daß von den 270 Gewerkschaften, die sie umfaßte, 120 nicht den Anforderungen des Gesetzes entsprachen.
Dies Mißtrauen erklärt es zum Teil, daß noch 1890 nur 140.000 Arbeiter in Frankreich gewerkschaftlich organisiert waren. Erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung, der gegen die Mitte der neunziger Jahre begann, nahm ihre Zahl stärker zu.
Die gewerkschaftliche Organisation ist daher in Frankreich viel jünger als in den meisten kapitalistischen Staaten Europas. Sie ist als Massenorganisation erst ein Jahrzehnt alt. Trotzdem es dort schon seit mehr als einem Jahrhundert eine starke proletarische Strömung in der Politik gibt, seit mehr als sechzig Jahre selbständige proletarische Parteien, hat das Proletariat in der Republik die Grundlagen seiner gewerkschaftlichen Organisation und damit zur Massenorganisation des Proletariats erst jüngst erhalten. Kein Wunder, daß die französischen Arbeiter in allem, was Organisationsarbeit und Disziplin, dauerndes einheitliches Zusammenwirken anbelangt, so sehr hinter den anderen Ländern zurückstehen. Auch das ist eine der Traditionen der großen Revolution, an denen sie leiden.
Die Gegnerschaft gegen Streiks und Gewerkschaften bei Regierungen und Richtern ist aber seit 1884 keineswegs überwunden. Wir haben oben schon darauf hingewiesen, daß die gewerkschaftliche Organisation mancher Staatsarbeiter noch unter den letzten „sozialistenfreundlichen“ Ministerien gehindert wurde. Gerade in den letzten Jahren mehren sich aber auch die Versuche einzelner Gerichte, das Streikrecht – ganz nach dem neuesten englischen Muster – dadurch illusorisch zu machen, daß man die Streikenden entweder wegen Kontraktbruchs verfolgt oder für den Schaden haftbar macht, den die Arbeitseinstellung verursachte, und je mehr die Gewerkschaften wachsen, desto größer die Sorgfalt, über der „Freiheit der Arbeit“ zu wachen, die das Kaiserreich in den Artikeln 414 und 415 des Code pénal begründete, Artikeln, die mehr als je in Kraft sind.
Mit dieser Praxis der Gerichte beschäftigt sich eingehend das schon mehrfach erwähnte Mouvement Socialiste, das den gewerkschaftlichen Dingen besondere Aufmerksamkeit schenkt. In der Nummer vom 5. Juli 1902 schreibt Jules Uhry über die „Streiks vor den französischen Gerichten“ und zeigt, daß „die Gerichte Urteilssprüche erlassen, die auf die Unterdrückung des Streikrechtes hinauslaufen, einfach durch eine neue und sonderbare Auslegung der bestehenden Gesetze“. (S. 1281)
Auf dem französischen Gewerkschaftskongreß vom vorigen Jahre (7. Kongreß der Confédération générale du travail) kam ein Antrag von Bourchet und zwanzig Genossen zur Verhandlung über die Mittel, das Koalitionsrecht zu schützen.
„Bourchet setzt auseinander, durch welche Mittel die Gerichte sich bemühen, das Koalitionsrecht aufzuheben; eine Rechtsprechung macht sich breit, welche die Gewerkschaften trifft. Er zitiert einige typische Beispiele: Die Gewerkschaft der Gelbgießer (fondeurs en cuivre) des Departements der Departements der Seine wurde zu 5.000 Franken Schadenersatz verurteilt; die der Former (mouleurs en fonte) zu 3.000 Franken; die der Arbeiter in den Fabriken von Zinnhähnen (robinettiers) in Lyon zu 2.000 Franken; die der Former derselben Stadt zu 1.000 Franken usw. Und das ist nicht alles. Man könnte diesen Beispielen leicht noch zwanzig andere hinzugesellen.“ (Mouvement Socialiste, 15. Februar 1903, S. 351)
Vergleiche noch den Artikel von Raoul Briquet in derselben Zeitschrift vom 15. Februar 1902 über die englischen Gerichtsurteile gegen die Trade Unions, die mit französischen Urteilen in Parallele gestellt werden.
Diese Verurteilungen fanden statt auf Grund des Artikels 1382 des Code civil, der da sagt: „Jede Tat eines Menschen, die einem anderen Schaden verursacht, verpflichtet den Urheber desselben zu seiner Gutmachung.“ Dazu aber kommen die Artikel 414 und 415. Nach einer Statistik, die A. Leroy in dem schon erwähnten Artikel von La vie socialiste mitteilt (S. 94) fanden in den zwanzig Jahren von 1864 bis 1884 1.027 gerichtliche Verfolgungen wegen Übertretungen der drei Artikel 414 bis 416 statt; dagegen in den zwölf Jahren von 1884 bis 1896 1.329 wegen Übertretungen der beiden Artikel 414 und 415. Von den daraus zwischen 1884 bis 1896 hervorgehenden Verurteilungen umfaßten nur 362 eine Geldstrafe, 2.069 Gefängnis bis zu 1 Jahre, und 6 Gefängnis von mehr als 1 Jahre. Von 1896 bis 1902 betrug die Zahl der wegen dieses Deliktes Angeklagten: 107, 169, 158, 150, 378, 312, 251. Sie ist also erheblich gewachsen.
Wir finden in Frankreich dieselbe Entwicklung des Koalitionsrechtes wie in den anderen kapitalistischen Ländern. Zuerst sucht man die gewerkschaftliche Organisation unmöglich zu machen. Als das nicht mehr geht, gibt man sie bis zu einem gewissen Grade frei, sucht aber nun ihren konservativen Charakter als reine Unterstützungskassen zu fördern und die Ausübung des Streikrechtes möglichst zu beschränken. An Stelle des Kampfes um das Vereinsrecht tritt der Kampf um die „Freiheit der Arbeit“ in den Vordergrund. Das ist, wie gesagt, in Frankreich der Gang ebenso wie anderswo. Aber in der dritten Republik mußten die Arbeiter länger auf das Koalitionsrecht warten wie in anderen alten kapitalistischen Ländern, dafür aber hat die Republik von Anfang an mit wachsender Energie den Schutz der „Freiheit der Arbeit“, das heißt die indirekte Störung und Unterbindung des Streikrechtes unternommen.
Und immer mehr zieht sie zu diesem famosen Geschäft neben den nur zu willfährigen Richtern und der, wie überall, dazu dienstwilligen Polizei das Militär herbei, anerkanntermaßen das beste Mittel, die Unternehmer in ihrer Hartnäckigkeit zu bestärken und die Arbeiter zu erbittern, also die Gegensätze zu verschärfen und Unruhen hervorzurufen, nicht zu verhüten. So ist die Arbeiterschlächterei bei Streiks ein Kennzeichen der dritten Republik geworden.
Nicht nur dort, wo Unruhen befürchtet werden, sind heute in Frankreich sofort bei einem Streike Soldaten auf dem Platze. Sie werden von vornherein entsendet, mag es auf dem Schauplatz des Ausstandes noch so friedlich hergehen.
Zur Stunde, wo ich dies schreibe, finde ich in der gewiß nicht gegen das Ministerium gehässigen Humanité (9. Dezember) folgenden Passus über den gerade ausgebrochenen Streik der Landarbeiter in Südfrankreich:
„Wir haben gestern sehr deutlich erklärt, daß wir die Entsendung von Truppen nach dem Narbonnais mißbilligen. Nichts, absolut nichts rechtfertigt diese Entsendung. Es beliebt der Verwaltungsbehörde, die Armee in den Dienst der Großgrundbesitzer zu stellen. Diese hatten sie in einem Plakat verlangt, und der Präfekt gehorcht. Das ist gut, das ist in der Ordnung. Wir wissen nun, wem die Verantwortung für die Dinge zufällt, die sich ereignen werden.“
Wissen dies die Genossen von der Humanité wirklich? Sie sprechen doch von dem Anteil an der Macht, die ds Proletariat jetzt gewonnen hat. Besteht sie darin, daß der Präfekt den „Großgrundbesitzern gehorcht“.
Woher rührt aber die Tatsache, daß gerade, seitdem die Sozialisten an der Macht „teilnahmen“, die Anwendung von Truppen bei Streiks immer häufiger geworden ist und die Arbeiterschlächtereien sich mehren? Diese Erscheinungen fallen nicht bloß zufällig zusammen, sie stehen in einem inneren Zusammenhang.
Die heutige, von Sozialisten gestützte Regierung hat sicherlich kein Interesse daran, die Arbeiter zu provozieren und mit ihnen in Kampf zu geraten. Sie braucht ja die Arbeiterstimmen und muß trachten, die Gefälligkeiten der Sozialisten durch Gegendienste zu erwidern. Aber sie kann dies nur dort tun, wo die Klassengegensätze nicht in Frage kommen.
In den Staatsbetrieben kollidieren die kapitalistischen Interessen nicht direkt mit den Arbeiterinteressen. Daher dulden manche Miniserien die gewerkschaftliche Organisation ihrer Angestellten, bewilligen ihnen auch bessere Arbeitsbedingungen, wenn’s geht, sogar den Achtstundentag, den zum Beispiel Millerand vom 16. September 1899 an für die Arbeiter in den Pariser Werkstätten der Herstellung von Post- und Telegraphenutensilien einführte – nicht etwa für den ganzen Postdienst, wie vielfach angenommen wird. Für die Arbeiter in der Ausrüstung der Telegraphen und Telephone in der Provinz zum Beispiel bestimmte er durch den Erlaß vom 15. Januar 1901 den Elfstundentag.
Aber so sehr die Regierung den Arbeitern dort entgegenzukommen sucht, wo sie es kann, ohne kapitalistische Interessen zu verletzen, noch mehr muß sie den Kapitalisten und deren Vertretern entgegenkommen, von denen sie noch viel abhängiger ist. Und was Jaurès schon von Louis Blanc sagte, das trifft heute von ihm selbst zu: sein Einfluß auf die Regierung dient nicht dazu, die Kapitalisten zu schwächen, wohl aber ihre Reizbarkeit und ihr Mißtrauen gegenüber den Arbeitern und der Regierung aufs höchste zu steigern. In Deutschland braucht die Regierung nicht bei jedem Streik, bei jeder Demonstration Militär aufmarschieren zu lassen, um die Bourgeoisie zu beruhigen. Diese fühlt sich sicher genug, sie weiß, daß sie unter allen Umständen auf die Staatsgewalt bauen kann. In Frankreich schreit heute die Bourgeoisie bei jedem Streik, bei jeder Demonstration, sie werde von der Regierung verraten, und um die besitzenden Klassen zu beruhigen und ihre Unterstützung nicht zu verlieren, muß daher das Ministerium bei dem friedlichsten Streik, der harmlosesten Demonstration gleich als Regierung der starken Faust auftreten und immer wieder von neuem durch die Tat beweisen, daß die Ordnung unter ihr ebenso sicher ist wie in irgend einem anderen Polizeistaat.
Die Anteilnahme der Sozialisten an der Regierung dient nur dazu, diese nervöser zu machen bei jeder Bewegung von Arbeitern gegen Kapitalisten, aber ganz und gar nicht dazu, die Kapitalisten entgegenkommender zu stimmen. Es ist dies denselben Ursachen zuzuschreiben, die bewirkten, daß die Aufnahme von Louis Blanc und Albert in die Regierung der Februarrevolution und die Junischlacht dicht nebeneinander liegem, warum die Republik die Regierungsform ist, in der die gesellschaftlichen Gegensätze am schärfsten zum Ausdruck kommen.
Neben dem Koalitionsrecht wird uns der Arbeiterschutz der dritten Republik besonders gerühmt. Sie braucht in Wirklichkeit auf diesen ebensowenig stolz zu sein wie auf jenes.
Allerdings, als die Proletarier die zweite Republik erobert hatten, mußte sie ihnen auch das Zugeständnis einer gesetzlichen Verkürzung der Arbeitszeit machen. Ein Dekret der provisorischen Regierung vom 2. März 1848 erklärte, der Arbeitstag sei um eine Stunde verkürzt; er habe hinfort in Paris 10 Stunden statt 11, wie er bis dahin allgemein galt, in der Provinz 11 statt 12 Stunden ausmachen. Aber kaum war die Junischlacht geschlagen und der Traum der „sozialen Republik“ ausgeträumt, so beeilte sich die bürgerliche Republik, die Konzession zurückzunehmen. Das Gesetz vom 9. September 1848 setzte für „Manufakturen und Fabriken“ einen Maximalarbeitstag von 12 Stunden fest. Ein Dekret vom 17. Mai 1851 gestattete dann noch eine Reihe von Ausnahmen für diesen famosen Normalarbeitstag – so zum Beispiel einen vierzehnstündigen Arbeitstag für chemische und Zuckerfabriken – Ausnahmen, die eine würdige Krönung dieses Gebäudes bürgerlich-republikanischer Sozialpolitik bildeten.
Aber auch dieser klägliche Normalarbeitstag blieb auf dem Papier, da keinerlei Inspektoren vorgesehen waren, die seine Durchführung zu überwachen hatten. Die dritte Republik setzte dann endlich Inspektoren ein, durch ein Gesetz, das gleichzeitig ein wenig Kinderschutz einführte. Das erste Kinderschutzgesetz Frankreichs datierte vom Jahre 1841, es hatte die Arbeit von Kindern unter acht Jahren verboten, den Arbeitstag der Kinder von acht bis zwölf Jahren auf 8 Stunden festgesetzt. Aber es war ebenso wie die Schutzgesetze der zweiten Republik ein bloßes Schaustück geblieben. 1868 beabsichtigte das Kaiserreich, das Gesetz von 1841 zu verbessern, aber der Entwurf blieb im Senat liegen und der Krieg unterbrach die Reform. So kam es erst 1874 zu einem Fortschritt im Kinderschutz, dem Verbot der Kinderarbeit bis zum zwölften Jahre, aber mit mannigfachen Ausnahmen, die schon vom zehnten Jahre an die Arbeit gestatteten. Für das Alter vom zehnten bis zwölften Jahre wurde die Arbeitszeit auf 6, vom zwölften bis sechzehnten Jahre auf 12 Stunden festgesetzt. Die letztere Schutzbestimmung war eine naive Unverschämtheit, da auf dem Papier noch das Gesetz vom 9. September 1848 bestand, das für alle Arbeiter in Fabriken den 12stündigen Arbeitstag anordnete. Man sieht daraus, wie wirkungslos diese Bestimmung geblieben war. Erst 1883 erinnerte man sich endlich des Gesetzes von 1848 wieder und übertrug seine Durchführung den 1874 zur Überwachung des Kinderschutzes geschaffenen Inspektoren, die nun dafür zu sorgen hatten, daß einmal alle Arbeiter und dann die jugendlichen von zwölf bis sechzehn Jahren nur 12 Stunden arbeiteten. Tatsächlich blieb fast alles beim alten; die Fabrikinspektion stieß allenthalben, bei Unternehmern und Behörden, auf unüberwindliche Widerstände.
Erst 1892 erhielt die Republik das erste nennenswerte Arbeiterschutzgesetz, teils unter dem Andrängen der rasch anwachsenden Sozialdemokratie, teils unter dem Einfluß der allgemeinen internationalen Zeitströmung, die damals den Arbeiterschutz in die Mode brachte. In Deutschland war der neue Kurs, im Gegensatz zum Bismarckschen, aufgetaucht; das Proletariat ist aber heute eine solche Macht geworden, daß kein neues Regierungssystem auskommen kann, das nicht der Arbeiterklasse Konzessionen macht. Das verschaffte den erwachsenen Arbeitern Österreichs schon 1885 den elfstündigen Normalarbeitstag, brachte den deutschen 1891 die Gewerbegesetznovelle. In diese Zeit fiel auch das Aufkommen des neuen Unionismus in England, das ein Abschwenken der Arbeiter ins Lager der Sozialdemokratie erwarten ließ und die englischen Liberalen trieb, sogar mit der Idee des Achtstundentags zu kokettieren. Da durfte doch die Republik nicht allzuweit zurückbleiben und so kam, trotz des hartnäckigen Widerstandes des Senats, das Gesetz vom 2. November 1892 zustande, das die Arbeit der Männer zwar nicht berührte, aber doch die der Kinder und Frauen regelte. Die Kinderarbeit vor dem zwölften Jahre wird nun unbedingt verboten, die vor dem dreizehnten Jahre nur für solche Kinder gestattet, die ein genügendes Schulzeugnis sowie die ärztliche Bestätigung ihrer körperlichen Tauglichkeit beibringen. Bis zum sechzehnten .Jahre soll ihre Arbeitszeit 10 Stunden nicht übersteigen. Für Mädchen vom sechzehnten bis achtzehnten Jahre wurde eine wöchentliche Arbeitszeit von 60 Stunden mit einem Maximum von 11 Stunden täglich, für Frauen über achtzehn Jahren eine tägliche Arbeitszeit von 11 Stunden festgesetzt.
Das deutsche Arbeiterschutzgesetz von 1891 ist ein sehr bescheidenes Ding; es entsprach den Forderungen der Arbeiter so wenig, daß die Sozialdemokraten im Reichstag dagegen stimmten. Aber das französische Gesetz von 1892 bleibt hinter dem deutschen noch zurück. Für die arbeitenden Frauen wurde in Frankreich der elfstündige Arbeitstag festgesetzt, in Deutschland ebenfalls der elfstündige, aber an Vorabenden von Sonn- und Festtagen der zehnstündige. In Deutschland wurde unter dreizehn, in Frankreich unter zwölf Jahren die Fabrikarbeit unbedingt verboten; hier wird sie für die Kinder vor dem vierzehnten Jahre überall ausgeschlossen, wo die Schulpflicht so lange dauert; in Frankreich nur vor dem dreizehnten Jahre und nur für jene Kinder, die kein Zeugnis über die Entlassung aus der Volksschule besitzen.
Aber nicht genug damit. Auch dieses Gesetz teilte das Schicksal seiner Vorgänger, es wurde nur aufs mangelhafteste durchgeführt.
Das bezeugt uns aufs unzweideutigste kein anderer als ein französischer Handelsminister selbst, Herr Millerand. In dem Buche, das Herr Lavy zu seinem Lobe verfaßte, heißt es unter anderem:
„Der Bürger Millerand mußte sich bemühen (als er Minister geworden war), die strenge Durchführung unseres allgemeinen Gesetzes über die Arbeit der Kinder, der Mädchen und Frauen zu erreichen, jenes grundlegende Gesetz vom 2. November 1892, das in verschiedenen Punkten bis dahin auf unüberwindlichen Widerstand gestoßen war.“ (A. Lavy, L’oeuvre de Millerand, 1902, S. 27)
Millerand gab den Präfekten einige Aufträge in dieser Richtung, das aber „brachte die Unternehmer in Aufregung, die ein Regime der größten Duldsamkeit daran gewöhnt hatte, sich nach Belieben gehen zu lassen“. Sie forderten auf das energischste weitere Duldung ihrer Gesetzesverletzungen.
„Der Bürger Millerand setzte dieser Pression eine unerschütterliche Festigkeit entgegen und antwortete nur damit, daß er die kompetenten Behörden anwies, mit größerer Wachsamkeit als je die Beachtung der geltenden Gesetze zu sichern. ‚Ich glaubte‘, erklärte er vor der Kammer am 23. November 1899, ‚das Gesetz von 1892 sei ein wirkliches Gesetz und daher wie ein solches durchzuführen.‘“
Aber die „unerschütterliche Festigkeit“ wurde bald durch den Widerstand der Kapitalisten etwas erschüttert, denn der Bericht fährt fort:
„Trotz alledem hätten weder die energischsten Einschärfungen noch die strengsten Anordnungen die unmittelbare Abschaffung der eingewurzelten Mißbräuche ermöglicht, die durch die frühere Duldung erklärt wurden besonders bildete die Verlängerung der Arbeitszeit der Kinder unter sechzehn Jahren auf 11 Stunden – eine flagrante Verletzung des Artikels 8 des Gesetzes von 1892 – das Ergebnis des modus vivendi, das die Behörden seit Jahren durch ihre ausdrückliche Zustimmung (acquiescement exprès) anerkannt hatten.“ (S. 35, 36)
Der große Feldzug zur Durchführung des Arbeiterschutzgesetzes endete mit der Anerkennung seiner Undurchführbarkeit:
„Ich erkenne an“, erklärte Millerand in der Kammer am 23. November 1899, „in Übereinstimmung mit einer großen Zahl, um nicht zu sagen der Gesamtheit der Industriellen, daß ein Gesetz ein schlechtes Gesetz ist, welches innerhalb derselben Fabrik verschiedene Arten von Arbeitern schafft, von denen die einen 10 Stunden arbeiten, andere n, andere 12, denn es ist unmöglich, seine Ausführung zu überwachen.“
In Wirklichkeit bestehen dieselben Unterschiede der Maximalarbeitszeiten für die verschiedenen Kategorien in Deutschland – Kinder unter vierzehn Jahren 6 Stunden, von vierzehn bis sechzehn Jahren 10 Stunden, Arbeiterinnen über sechzehn Jahre 11 Stunden, Männer unbeschränkt. Trotzdem wird niemand in Deutschland behaupten, das Arbeiterschutzgesetz sei undurchführbar.
Aber es ist richtig, daß es leichter durchführbar wird, wenn alle Arbeiter zu gleicher Zeit anfangen und zu gleicher aufhören müssen. Das besagt aber keineswegs, daß für alle Arbeiter die gleiche Stundenzahl in der Woche gestattet sein muß. In England dürfen zum Beispiel in Nichttextilfabriken jugendliche Arbeiter und Frauen 60 Stunden in der Woche arbeiten, Kinder dagegen jeden zweiten Tag 10 Stunden oder jeden Tag 6½ Stunden.
Es gibt kein Arbeiterschutzgesetz der Welt, das für die Kinder ebensoviel Arbeitsstunden in der Woche festsetzt wie für Erwachsene. In Frankreich aber wurde das Unbegreifliche Ereignis unter dem sozialistischen Minister. Um das Arbeiterschutzgesetz von 1892 durchführbar zu machen, wußte er sich keinen anderen Rat, als die tägliche wie die wöchentliche Stundenzahl für alle Arbeiter gleich hoch anzusetzen – für die Kinder wie für die erwachsenen Männer. Die Lobredner des neuen Gesetzes haben stets nur die letztere Bestimmung hervorgehoben. Sie haben übersehen, daß es für die Kinder vorübergehend noch hinter die ohnehin schon unzureichenden Bestimmungen des Gesetzes, von 1892 zurückging.
Rühmend erklärt Lavy:
„Der sozialistische Minister stellte die Kammer und den Senat vor die unausweichliche Alternative: entweder vom 1. Januar 1900 an das Gesetz von 1892 mit unerschütterlicher Strenge durchzuführen, um jeden Preis – oder ein neues Gesetz anzunehmen, dessen Durchführung weniger mühsam wäre und das, neben anderen wesentlichen Reformen, für die Kinder, für die Frauen, ja auch für die Männer den zehnstündigen Arbeitstag festsetzte. Das Parlament sah sich gezwungen, mochte es wollen oder nicht, die letztere Alternative zu wählen“ (S. 39).
Es zog also das neue Gesetz der Durchführung des alten vor. Und es hatte alle Ursache dazu. Denn acht Jahre nachdem das Gesetz von 1892 den Arbeitstag der Kinder auf 10 Stunden reduziert hatte, setzte es ihn, wenigstens vorübergehend, auf 11 fest. Welch ein Fortschritt
Aber denjenigen, die ihm das entgegenhielten, erwiderte Millerand in der Kammer:
„Ist es denn wahr, daß die Kinder nur zehn Stunden arbeiten? Das ist nicht richtig und das Gesetz, das Ihnen die Kommission vorschlägt, setzt nur fest, was tatsächlich der Fall ist, den elfstündigen Arbeitstag von Kindern und Frauen.“
Mit anderen Worten: Bis 1900 entbehrte die Republik tatsächlich jedes Arbeiterschutzes. Das geht aus dem Millerandschen Gesetz deutlich hervor. Beweist es aber auch, daß von nun an ein wirklichere nennenswerter Arbeiterschutz in Frankreich herrscht?
In den Betrieben, in denen Frauen und Kinder arbeiten, und nur in diesen, nicht in allen, wurde durch das Gesetz vom 30. März 1900 für alle Arbeiter, auch die erwachsenen Männer, die gleiche Arbeitszeit festgesetzt; zunächst auf 11 Stunden, die nach zwei Jahren auf 10½, nach weiteren zwei auf 10 Stunden herabgesetzt werden sollte.
Das ist der vielgerühmte Zehnstundentag, den die französischen Arbeiter Millerand verdanken sollen. Daß er nicht das große Lob verdient, welches ihm gespendet wurde, ist klar. Mit Unrecht sieht man in ihm einen Zehnstundentag für alle Männer. Und mit Unrecht übersieht man, daß die wichtigste, am meisten zu schützende Kategorie, die Kinder, nach diesem Gesetz immer noch schlechter daran ist als zum Beispiel die arbeitenden Kinder in Deutschland, die gerade auch nicht übermäßig geschützt sind. Noch immer können in Frankreich Kinder vom zwölften Jahre an beschäftigt werden, und zwar 10 Stunden lang, während sie in Deutschland in allen Staaten, welche die Schulpflicht bis zum vierzehnten Jahre ausdehnen, bis zu diesem Alter von aller Fabrikarbeit ausgeschlossen sind.
Selbst bürgerliche Sozialreformer sind keineswegs sehr begeistert von dem neuen Gesetz. In einem Referat vor der französischen Sektion der internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz zitierte Herr Martin Saint-Leon eine Reihe von Ärzten, die die Bestimmungen des Millerandschen Gesetzes über die Kinderarbeit monströs, ja verbrecherisch nannten, und wies ferner nach, daß „fast überall das Gesetz viel wirksamer als bei uns das Kind und die jungen Leute in den Fabriken schützt“. (La Protection légale des travailleurs, discussions dans le section nationale française, Paris 1904, Felix Alcan, S. 99)
Aber nicht einmal dies Gesetz wird durchgeführt. Unternehmer und Richter wetteifern miteinander, es zu umgehen und seine Umgehung zu erleichtern.
Immer lauter werden die Klagen darüber in Arbeiterkreisen, zahlreiche Artikel der Parteipresse geben davon Kunde. Eben erscheint im Socialiste (4. Dezember 1904) aus der Feder von A. Groussier eine gute Zusammenstellung der Gerichtsurteile, die das Gesetz durchlöchern, dank der Liederlichkeit seiner Redaktion, auf die der Advokat Uhry schon im Mouvement Socialiste vom März 1902 hinwies.
Wir haben erwähnt, daß durch das Gesetz Millerand-Colliard die Männer nur in jenen Betrieben geschützt werden, in denen sie mit Frauen und Kindern zusammenarbeiten. Nun hat der Kassationshof durch die Urteile vom 30. November 1901 und 20. Februar 1902 entschieden, daß jede Räumlichkeit, in der Männer allein, ohne Frauen oder Kinder, arbeiten, nicht unter das Gesetz fällt. Es genügt, bei gemischten Betrieben, die Männer durch eine Scheidewand von den anderen Arbeitern zu trennen, um sie dem Bereich des Gesetzes zu entziehen.
Ein Urteil vom 2. Januar 1902 setzte dann fest, daß die Bestimmungen des Gesetzes über die Ruhepausen der Kinder nur dort Geltung hätten, wo der Arbeitstag das gesetzlich gestattete Maximum voll erreiche. Sobald er etwas dahinter zurückbleibe, hätten diese Bestimmungen ihre Gültigkeit verloren.
Wie aber kontrollieren, welches die in der Fabrik wirklich innegehaltene Arbeitszeit ist? Es gibt nur einen Weg, der eine wirksame Kontrolle ermöglicht: der Fabrikant muß Anfang und Ende der Arbeitszeit von vornherein anzeigen, und werden Arbeiter vor oder nach der angegebenen Zeit bei der Arbeit angetroffen, so gilt dies als Beweis der Überschreitung der Arbeitszeit. Anders bestimmt der Kassationshof durch eine Reihe von Urteilen vom vorigen Jahre. Zu welchem Zeitpunkt Arbeiter in der Fabrik getroffen werden, ist ihm gleichgültig. Er verlangt den Nachweis, daß sie auch wirklich länger als zehn Stunden arbeiten. Groussier wird wohl recht haben, wenn er annimmt, bei der Stimmung der Richter werde dieser Beweis nur dann als erbracht gelten, wenn der Inspektor zehn Stunden lang neben dem Arbeiter gestanden und ihm bei seiner Arbeit zugesehen hat.
Diesen im Socialiste angeführten Urteilen reiht sich würdig ein im Mouvement Socialiste vom 15.November 1903 angeführtes an, das den Fabrikinspektoren das Recht nimmt, eine Fabrik bei Nacht zu betreten, wenn sie nur Tagesarbeit eingerichtet hat, „da diese Etablissements bei Nacht unter den Schutz des Hausrechtes gestellt sind“. Damit ist es ihnen auch so gut wie unmöglich gemacht, sich zu überzeugen, ob widerrechtlich bei Nacht gearbeitet wird.
Sollte es den Inspektoren aber trotz alledem gelingen, einmal eine Gesetzesübertretung in einer Weise zu konstatieren, daß das Gericht den Unternehmer verurteilen muß, dann wird er zu einer lächerlichen Strafe verurteilt, wie die Klagen in den Inspektorenberichten beweisen.
Wenn wir immerhin annehmen dürfen, daß das Gesetz nicht so vollständig toter Buchstabe bleibt wie das von 1892, so rechnen wir dabei auf die Gewerkschaften, die heute in Frankreich ebenso wie in Deutschland weit stärker sind als vor zwölf Jahren, und die ihr möglichstes tun, seine Durchführung zu fördern und das verbrecherische Einvernehmen von Unternehmern, Richtern und Polizei zur Lahmlegung der ohnehin so dürftigen gesetzlichen Bestimmungen zu durchkreuzen. Zahlreich sind die Streiks, die zur Durchsetzung des Gesetzes ausgefochten wurden – aber auch da begegnen die Arbeiter der Regierung.
„Wenn die Arbeiter nichts verlangen als die Anwendung des Gesetzes“, rief Latapie auf dem letzten Gewerkschaftskongreß zu Bourges, „dann schickt die Regierung Soldaten gegen sie, um die Verletzer des Gesetzes zu schützen.“
Das amerikanische Arbeitsamt hat im Juli 1904 eine vergleichende Übersicht der Arbeitszeiten von dreizehn verschiedenen Gewerben für Belgien, Frankreich, Deutschland, Großbritannien und die Vereinigten Staaten für den Zeitraum von 1890 bis 1903 veröffentlicht, gewonnen aus den Lohnlisten typischer Betriebe. Sie zeigt für Frankreich (Belgien ausgenommen) die längste Arbeitszeit und die geringsten Verkürzungen in diesem Zeitraum. Einige Proben aus der Übersicht mögen das zeigen. Die durchschnittliche Arbeitszeit betrug pro Woche Stunden:
|
Frankreich |
Deutschland |
England |
Ver. Staaten |
---|---|---|---|---|
Grobschmiede |
||||
1890 |
60,84 |
62,00 |
54,00 |
59,41 |
1900 |
60,84 |
60,00 |
53,67 |
58,87 |
1903 |
60,19 |
59,90 |
53,67 |
56,65 |
Maurer (bricklayers) |
||||
1890 |
63,00 |
59,75 |
52,67 |
53,22 |
1900 |
63,00 |
56,50 |
51,83 |
49,82 |
1903 |
63,00 |
56,50 |
51,83 |
47,83 |
Zimmerleute |
||||
1890 |
60,00 |
59,41 |
52,67 |
55,94 |
1900 |
60,00 |
55,47 |
50,17 |
51,86 |
1903 |
60,00 |
55,30 |
50,17 |
49,41 |
Taglöhner |
||||
1890 |
(bloß Paris) |
59,98 |
54,17 |
59,02 |
1900 |
60,00 |
56,70 |
52,50 |
58,27 |
1903 |
60,00 |
56,36 |
52,50 |
56,13 |
Steinmetze (stone masons) |
||||
1890 |
66,00 |
59,75 |
51,00 |
54,54 |
1900 |
66,00 |
56,50 |
50,17 |
51,89 |
1908 |
66,00 |
56,50 |
50,17 |
49,54 |
Die anderen angegebenen Gewerbe zeigen dieselbe Erscheinung. Sie illustrieren die Rückständigkeit Frankreichs in Beziehung auf die Arbeitszeit und zeigen die Kläglichkeit dessen, was die dritte Republik bisher für das arbeitende Proletariat geleistet hat.
Wir haben gesehen, daß auf allen Gebieten, wo die Interessen der industriellen Bourgeoisie und die des Proletariats sich feindlich begegnen, die dritte Republik für dieses nicht mehr getan hat als die erste beste Monarchie, daß sie im Gegenteil noch mehr als die letztere die dem Proletariat feindlichen Tendenzen hervortreten ließ.
Um so mehr muß man sich wundern, daß die Industrie, also das industrielle Kapital, in der Republik keineswegs den Aufschwung fortsetzte, den sie unter dem Kaiserreich genommen. Die Ursachen davon sind mannigfaltige, zum Teil aber liegen sie in der Wirtschaftspolitik der Republik. Die industriellen Kapitalisten selbst sind nicht immer die besten Berater für ihre Interessen. In der Gier nach Profit sind sie nur zu geneigt, für Augenblicksvorteile die Grundlagen dauernder Prosperität zu untergraben, das Huhn zu schlachten, das die goldenen Eier legt. Niedrige Löhne und lange Arbeitszeiten liefern bekanntlich meist das teuerste Produkt. Neben dem Kampfe gegen Gewerkschaften und Arbeiterschutzgesetze führte das industrielle Kapital Frankreichs aber noch den Kampf für hohe Schutzzölle, also ebenfalls für Verteuerung der Produktionsbedingungen. Der Übergang zum Freihandel war die klügste wirtschaftspolitische Tat des Kaiserreichs gewesen. Mit seinem Falle begann das Regime des Schutzzolls.
Zu der Kurzsichtigkeit der industriellen Kapitalisten kam aber noch der Umstand hinzu, daß sie nicht für sich allein den Staat regierten, sondern ihre Herrschaft teilen mußten mit Bureaukratie und Militarismus, sowie einem starken Grundbesitz, namentlich aber mit der hohen Finanz, die seit mehr als hundert Jahren jene Macht bildet, welche trotz aller Veränderungen der Staatsformen und Dynastien stets der oberste Herrscher Frankreichs bleibt. Im Bunde mit der hohen Finanz, als Mittel, ihr die demokratischen Kräfte des Laudes dienstbar zu machen, um gemeinsam mit ihr den Staat zu plündern, stehen die Geschäftspolitiker, ein zwar kleiner, aber um so mächtigerer Teil der Bourgeoisie, der in jedem parlamentarischen Staate eine Rolle spielt, und zwar um so mehr, je stärker einerseits das Parlament und je reicher das Gebiet, über dessen Ausbeutung es verfügt, und je schwächer andererseits die Volksmasse gegenüber dem Parlamentariern, das heißt je weniger demokratisch organisiert und diszipliniert die Parteien, je mehr die Parlamentarier nur mit einer unorganisierten Masse von Wählern zu tun haben, mit denen sie noch stets leicht fertig geworden sind.
Diese Geschäftspolitiker werden in einer Republik Repräsentanten einer verselbständigten Staatsmacht, wie sie der Landesfürst in der Monarchie ist; gleich dem Zäsar des Zäsarismus, so werden auch sie nur zu leicht reine Beutepolitiker, mit noch niedrigeren und kleinlicheren Gesichtspunkten als ein zäsaristischer Kaiser.
Engels hat das sehr gut dargestellt in seiner Vorrede zum Bürgerkrieg in Frankreich:
„Worin bestand die charakteristische Eigenschaft des bisherigen Staates? Die Gesellschaft hatte zur Besorgung ihrer gemeinsamen Interessen, ursprünglich durch einfache Arbeitsteilung, sich eigene Organe geschaffen. Aber diese Organe, deren Spitze die Staatsgewalt, hatten sich mit der Zeit im Dienste ihrer eigenen Sonderinteressen aus Dienern der Gesellschaft zu Herren über dieselbe verwandelt. Wie dies zum Beispiel nicht bloß in der erblichen Monarchie, sondern ebensogut in der demokratischen Republik zu sehen ist. Nirgends bilden die ‚Politiker‘ eine abgesondertere und mächtigere Abteilung der Nation als gerade in Nordamerika. Hier wird jede der beiden großen Parteien, denen die Herrschaft abwechselnd zufällt, selbst wieder regiert von Leuten, die aus der Politik ein Geschäft machen, die aus Sitze in den gesetzgebenden Versammlungen des Bundes wie der Einzelstaaten spekulieren oder die von der Agitation für ihre Partei leben und nach deren Sieg durch Stellen belohnt werden. Es ist bekannt, wie die Amerikaner seit dreißig Jahren versuchen, dies unerträglich gewordene Joch abzuschütteln, und wie sie trotz alledem immer tiefer in diesen Sumpf der Korruption hineinsinken. Gerade in Amerika können wir am besten sehen, wie diese Verselbständigung der Staatsmacht gegenüber der Gesellschaft, zu deren bloßem Werkzeug sie ursprünglich bestimmt war, vor sich geht. Hier existiert keine Dynastie, kein Adel, kein stehendes Heer, außer den paar Mann zur Bewachung der Indianer, keine Bureaukratie mit fester Anstellung oder Pensionsberechtigung. Und dennoch haben wir hier zwei große Banden von politischen Spekulanten, die abwechselnd die Staatsmacht in Besitz nehmen und mit den korruptesten Mitteln und zu den korruptesten Zwecken ausbeuten – und die Nation ist ohnmächtig gegen diese, angeblich in ihrem Dienste stehenden, in Wirklichkeit aber sie beherrschenden und plündernden zwei großen Kartelle von Politikern.“ (S. 12, 13)
Die Monarchisten und Absolutisten haben jedoch keine Ursache, über diese republikanische und parlamentarische Korruption die Nase zu rümpfen, denn was wissen sie ihr entgegenzusetzen? Nichts als die Alleinherrschaft der Bureaukratie, deren Korruption nicht geringer ist als die Parlamentarische und sich von ihr nur dadurch unterscheidet, daß sie nicht einem Kampfe zweier Banden um die Beute entspringt, sondern dem gesicherten Monopol einer einzigen Bande. Die segensreichen Folgen dieses Systems treten eben jetzt in Rußland deutlich genug hervor. Russisch-bureaukratische oder amerikanisch-republikanische Korruption, das sind die Extreme, zwischen denen sich das Leben und Weben aller großer kapitalistischen Staaten bewegt und bewegen muß. Nur der Sozialismus kann dem ein Ende machen durch eine Organisation, wie sie die Pariser Kommune begann, durch weiteste Ausdehnung der Selbstverwaltung, durch Volkswahl aller Beamten, durch Unterwerfung aller Delegierten zu Vertretungskörpern unter die Kontrolle und Disziplin des organisierten Volkes. Heute schon ist das beste Mittel, der parlamentarischen Korruption entgegenzuwirken, die Bildung einer großen, stramm disziplinierten proletarischen Partei; dagegen wird die parlamentarische Korruption nicht dadurch bekämpft, daß sozialistische Abgeordnete einem der „Kartelle von Politikern“ beitreten, die die Nation „beherrschen und Plündern“, wie Engels sich ausdrückt. Das kann nur bewirken, daß die Sozialisten an Kraft verlieren, die bürgerliche Korruption zu bekämpfen, und für diese mitverantwortlich gemacht werden. Und die heutige französische Republik erfreut sich, dank ihrer Staatsverfassung, des Vorzugs, die parlamentarische Korruption zu vereinigen mit bureaukratischer.
Wie die Anteilnahme an einem bürgerlichen „Block“ die Sozialisten zur Tolerierung bürgerlich-parlamentarischer Korruption zwingt, dafür nur ein Beispiel. Auf dem Kongreß zu Tonrs 1902 (Jaurèsisten) wurde folgende Resolution eingebracht:
„Da es seit einiger Zeit allgemein bekannt ist, daß manche Mitglieder der sozialistischen Partei Dekorationen verschiedener Art nachgesucht haben;
„daß derartige Ansuchen unvereinbar sind mit allen Prinzipien der Partei und ihre Unabhängigkeit und Würde kompromittieren müssen, wird es
„1. jedem Mitglied der Partei verboten, irgendwelche Dekoration zu verlangen, zu akzeptieren oder zu tragen,
„2. den Erwählten der Partei verboten, irgend ein Verlangen dieser Art zu unterstützen oder zu fördern.“
Als erster erhielt das Wort einer der Unterzeichner des Antrags, der Bürger Parsons. Er verlangte, den letzten Passus der von ihm unterzeichneten Resolution zu streichen:
„Dieser Teil des Antrags enthält eine Verwechslung, denn es ist klar, daß der Bürger Mallot (der Antragsteller) bei der Redigierung des Antrags nur an Forderungen dachte, die von Parteigenossen für sich erhoben würden. Aber man könnte den Antrag so auffassen, als sollte ein sozialistischer Deputierter nicht das Recht haben, Bewerbungen um eine Auszeichnung zu unterstützen, die aus dem Kreise seiner Wähler kämen. Nun, dann würden wir unsere Abgeordneten gegenüber den anderen benachteiligen, und wir würden ihnen die Mittel verweigern, die unter dem kapitalistischen und parlamentarischen Regime notwendig sind, um zu den öffentlichen Gewalten zu gelangen.“
Und später sagte derselbe Delegierte im Laufe der Debatte:
„Sie werden niemals verhindern, daß aus dem Kreise der Wähler eines Soziallisten, die das sozialistische Ideal noch nicht kennen, Forderungen an ihn gestellt werden, die er selbst mißbiligt, deren Unterstützung er aber übernimmt aus einer gewissen Mißachtung des Fordernden und weil er der Ansicht ist, es schade nichts, einen Bourgeois zu korrumpieren.
„Es ist sicher notwendig, die Partei frei von jeder Korruption zu erhalten, aber da wir einmal eine parlamentarische Partei sind und uns das Ziel gesetzt haben, in die öffentlichen Gewalten einzudringen, dürfen wir nicht von unseren Abgeordneten Dinge verlangen, die im Widerspruch stehen zu den Anforderungen, welche die parlamentarische Taktik ihnen auferlegt.“
So wörtlich nach dem offiziellen Protokoll.
Nach ihm sprach Kosziusko für die Resolution:
„Es ist schon schlimm genug, daß wir konstatieren müssen, unsere Abgeordneten und Stadträte seien gewissermaßen zu Stellenvermittlern geworden, so daß wir nicht noch notwendig haben, sie zur Vermittlung von Dekorationen zu benutzen.“
Es kommt nun ein Abgeordneter zum Worte, Krauß:
„Ich bin selbst Unterzeichner des Antrags und ich gestehe, Sie würden mir einen sehr großen Dienst erweisen, wenn Sie mich von der heute fast absoluten Verpflichtung befreiten, das zu tun, was die Kollegen uns vorwerfen. Aber in einem Punkte hat Parsons recht: diejenigen, die am meisten von uns verlangen, was sie uns vorwerfen, sind unsere eigenen sozialistischen Genossen. Ich wil offen reden. Ehe ich herkam, vor einigen Tagen, kam in den Wandelgängen ein Mitglied unserer Organisation zu mir und sagte: ‚Es ist für einen Freund, also ohne Belang; unterschreibe mir eine Empfehlung fair die Verleihung von Palmen (einer akademischen Auszeichnung).‘ Gestern war sie im Journal officiel zu lesen. Also überlegen Sie diese Frage. Ich verlange nur eins, daß Sie meine Türe von allen den Bewerbern um rote, blaue oder sonstige Dekorationen befreien, die uns erdrücken. ... Wie oft schon habe ich derartige Forderungen unterzeichnet, weil ich nicht wage, es einem Genossen zu verweigern, und man unterschreibt auch für einen einflußreichen Wähler, der nichts mit dem Sozialismus zu tun hat; man verschafft ihm die Palmen oder eine sonstige Auszeichnung ... In den Protokollen unserer Kongresse stehen Resolutionen, ausgehend von höchst puritanischen Genossen, und dieselben, die uns gebrandmarkt haben, haben hinterdrein unsere Protektion verlangt und gesagt: ‚Das macht nichts, das ist nur für einen Bourgeois‘, oder: ‚Geh doch zu Millerand oder Baudin und tu dein möglichstes, daß der Genosse befördert wird.‘“
Nach Krauß führte Camus aus, er verurteile den Ordensschacher, aber die Abgeordneten seien nach dem Organisationsstatut nur ihrem Wahlkreis verantwortlich und man habe daher nicht das Recht, ihnen Vorschriften zu machen.
Endlich meldete sich der Vorsitzende, der Abgeordnete Gerault-Richard, zum Wort und führte in die Diskussion, die bisher hauptsächlich der Ämterjagd für die Genossen und dem Ordensschacher zur Korrumpierung einflußreicher Bourgeoiswähler gegolten hatte, ein eigenartiges proletarisches Moment ein:
„Es gibt verschiedene Kategorien von Auszeichnungen: da haben wir zum Beispiel die Medaillen für die alten Arbeiter ... [2] Es ist vielleicht grausam, wenn Sie, die Sie ein derartiges kindisches Vergnügen nicht brauchen, es denen entziehen wollen, die kein anderes haben. Sie können nicht erwarten, die Menschheit von heute auf morgen umzuändern; auch wenn wir einen derartigen Beschluß fassen würden, gelänge es uns nicht, bei den Menschen das Bedürfnis, sich vor den anderen auszuzeichnen, auszurotten.
„Wenn Sie einen alten armen Teufel der unschuldigen Freude berauben, die ihm das Tragen eines kleinen roten Händchens bereitet, werden Sie damit einen großen Puritanismus beweisen, aber auf Kosten braver Leute, deren Vergnügen niemand schadet und Sie nichts kostet. Wenn von den Dekorationen die Rede ist, muß man an das treffende Wort der Madame de Girardin denken: Es kostet so wenig und macht so großes Vergnügen.“
Auf dieses famose Plaidoyer zugunsten des Ordensschachers wurde freilich eingewendet, daß die „alten Arbeiter“, die man dekorierte, oft Streber und Streikbrecher seien. Als Millerand in Bordeaux war, habe er einen Arbeiter dekoriert, der bei der letzten Gewerbegerichtswahl (Conseil des prud’hommes) der Kandidat der Unternehmer gewesen war.
Charakteristisch wie diese Debatte war ihr Ausgang. Man konnte den Antrag nicht gut zurückweisen und wollte ihn nicht annehmen, da der Ordens- und Stellenschacher einmal eine Notwendigkeit der parlamentarischen Taktik für eine Partei ist, die an der bürgerlichen Regierungsgewalt teilnehmen will, wie Parsons so schön bemerkte. Man half sich aus der Verlegenheit durch billigen Radikalismus. Die Resolution wurde einer Kommission überwiesen und durch eine andere ersetzt, welche die Abgeordneten aufforderte, ein Gesetz einzubringen, das alle Arten von Dekorationen aufhebt. Von diesem Gesetz ist aber bisher keine Rede gewesen. Hoffentlich gelingt es der sich eben vorbereitenden Einigung, die Partei auf eine Basis zu stellen, die den sozialistischen Abgeordneten alle jene Mittel unzugänglich macht, welche für alle jene unentbehrlich sind, die „unter dem kapitalistischen Regime“ und mit seiner Hilfe „zu den öffentlichen Gewalten gelangen wollen“.
Diese „documents humains“ genügen wohl, zu zeigen, daß der Eintritt der Sozialisten in den Block der Regierungsparteien an den alten „parlamentarischen Notwendigkeiten“ nichts geändert, sondern vielmehr die Sozialisten ihnen unterworfen hat.
In der Republik finden wir auch heute noch die beiden „Kartelle von Politikern“, die sich um die Beute raufen. Sie werden jetzt „Blocks“ genannt. Indes kann auch das korrupteste Kartell von Beutepolitikern nicht nach Willkür regieren. Seine Politik ist unter gegebenen Umständen gegeben. Diese Herren machen bürgerliche Politik, da sie zur Bourgeoisie gehören; sie machen die Politik der hohen Finanz, welche in der einen oder anderen Form so viele von ihnen bezahlt; sie müssen aber auch eine Politik machen, die ihre Wähler nicht allzusehr vor den Kopf stößt, sie müssen also auf demagogische Konzessionen. bedacht sein – endlich aber muß jedes Kartell besondere Grundsätze verfechten, die es plausibel erscheinen lassen, daß es das Konkurrenzkartell vom Futtertrog fernhält, der nicht groß genug ist, beide gleichzeitig zu befriedigen.
Die Politik, die dabei herauskommt, muß nicht immer eine verderbliche sein, kann mitunter mit den wirklichen Bedürfnissen der sozialen Entwicklung zusammenfallen. Sehr häufig aber kommt sie in Konflikt mit ihnen. In Frankreich ist das bisherige Resultat der verschiedenen seine Parlamentarier bestimmenden Einflüsse eine Wirtschaftspolitik, die, ganz abgesehen von den proletarischen Interessen, nicht einmal den Fortschritt der Industrie sichert. Wenn die Nationalversammlung der großen Revolution sich von umfassenden Theorien und hohen Gesichtspunkten leiten ließ, daher eine einheitliche und kühne Politik verfolgte und damit Frankreich aus dem Ruin an die Spitze der Nationen Europas erhob, so ist der Parlamentarismus der dritten Republik ein Ausfluß haltlosester und kurzsichtigster Augenblickspolitik, der Frankreich ökonomisch immer tiefer herabsinken läßt.
Allerdings ist dies nicht der französischen Wirtschaftspolitik allein zuzuschreiben, sondern auch durch Verhältnisse bedingt, die von ihr unabhängig sind. Das Jahr 1871 brachte den Zusammenschluß Deutschlands und damit das Aufkommen eines neuen, furchtbaren Konkurrenten. Derselbe Krieg, der Deutschland um zwei Provinzen vergrößerte und 5 Milliarden in den Reichsschatz brachte, machte Frankreich um dieselben Provinzen und Milliarden ärmer, nachdem er es grauenhaft verwüstet. Daran ist die Republik unschuldig. Das war das Erbe des zweiten Kaiserreichs. Statt aber nun durch eine kluge und zurückhaltende Politik dafür zu sorgen, daß die Belastung des Landes durch die Kriegsfolgen baldigst verschwinde, vermehrte noch die dritte Republik diese Lasten durch ihre Großmacht- und Weltpolitik, durch Vereinigung des Militarismus und Marinismus. Daraus erstand jene ungemein drückende Steuerlast, die zwar zunächst die unteren Klassen traf, schließlich aber das ganze wirtschaftliche Leben einschnürte, wozu der ungeheure bureaukratische Apparat ebenfalls nicht wenig beitrug. Der Hemmung der Großindustrie entsprach ein Stillstand der Bevölkerungszunahme, was wieder auf die Industrie zurückwirkte, da damit ein Aufhören der Erweiterung des inneren Marktes verbunden war, was um so bedenklicher wurde, je mehr die auswärtige Konkurrenz den äußeren Markt einschränkte.
Die industrielle Stagnation ließ aber auch das Übergewicht der landwirtschaftlichen Bevölkerung bestehen; in Frankreich lebten 1896 noch 61 Prozent der Bevölkerung auf dem Lande, in Deutschland 1895 nur 51 Prozent. Dieses Übergewicht der bäuerlichen Stimmen trieb dann die bürgerlichen Politiker zu stärkerer Beachtung der ländlichen Interessen auf Kosten der städtischen, namentlich in der Steuer- und Zollpolitik, was wiederum die Industrie beeinträchtigen mußte.
„Der französische Agrarpolitiker Coste“, berichtet Goldstein, „der der Landwirtschaft äußerst wohlwollend gegenübersteht, hat darüber im Jahre 1891 folgende Berechnungen aufgestellt. In 17 fast rein landwirtschaftlichen Departements Frankreichs, in denen mehr als zwei Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt waren, trafen jährlich auf den Kopf der Bevölkerung zirka 34 Franken an Staatssteuern. Diese Belastung stieg mit der Zunahme der industriellen Bevölkerung von Stufe zu Stufe und betrug in den 8 Departements, in welchen mehr als zwei Drittel der Bevölkerung in der Industrie beschäftigt waren, zirka 97 Franken pro Kopf, also etwa das Dreifache. In Paris betrug die Belastung sogar etwa das Achtfache. Die gesamte Steuerlast der Landwirtschaft treibenden Bevölkerung berechnete Coste auf zirka 910 Millionen Franken, die Steuerlast der industriellen und städtischen auf zirka 2.650 Millionen, das heißt das Dreifache. Seit 1891 sind die indirekten Steuern in Frankreich noch stärker in Anspruch genommen worden. Nebenbei hat man auch die Fleisch- und Getreidezölle wieder erhöht, so daß die Steuerlast der industriellen Bevölkerung eine weitere Steigerung erfahren hat.“ (Bevölkerungsprobleme und Berufsgliederung in Frankreich, 1900, S. 187, 188).
Wir entnehmeu diesem Buche noch folgende Zahlen, die bezeichnend sind für die Gestaltung der ökonomischen Verhältnisse Frankreichs vor und nach 1870. Es betrug im Spezialhandel:
Im Jahres- |
Import |
Export |
Zusammen |
Durchschnittliche jährliche |
---|---|---|---|---|
in Millionen Franken |
||||
1847 bis 1856 |
1.077 |
1.224 |
2.301 |
|
1857 bis 1861 |
1.883 |
2.044 |
3.927 |
+14 Prozent |
1862 bis 1866 |
2.518 |
2.816 |
5.334 |
+ 7 Prozent |
1867 bis 1869 [3] |
3.161 |
2.897 |
6.058 |
+ 5 Prozent |
1872 bis 1876 |
3.632 |
3.740 |
7.372 |
+ 4 Prozent |
1877 bis 1881 |
4.467 |
3.339 |
7.806 |
+ 1 Prozent |
1882 bis 1886 |
4.453 |
3.355 |
7.808 |
+ 0 Prozent |
1887 bis 1891 |
4.331 |
3.504 |
7.835 |
+ 0 Prozent |
1892 bis 1896 |
3.881 |
3.310 |
7.191 |
− 1 Prozent |
(Goldstein, a. a. O., S. 185) |
Seit 1896 haben sich die Ziffern wieder etwas gehoben, sie betrugen im Jahresdurchschnitt von 1897 bis 1901 für den Import 4.403, für den Export 3.877, zusammen 8.280 Millionen Franken. Die Prosperität dieses Zeitraums machte sich auch in Frankreich bemerkbar. Immerhin vermochte sie die Ziffer des durchschnittlichen jährlichen Gesamthandels nur um 445 Millionen Franken über die von 1887 bis 1891 hinaufzuschrauben.
Vergleichen wir Jahrzehnt mit Jahrzehnt, dann finden wir durchschnittlich einen jährlichen Außenhandel 1882 bis 1891 von 7.876 Millionen und 1892 bis 1901 von 7.735, also immer noch eine Abnahme von 141 Millionen. Die Zunahme von 1897 bis 1901 war geringer als die Abnahme von 1892 bis 1896. Die Stagnation der ökonomischen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten tritt in diesen Ziffern deutlich zutage. Daß sie weniger dem Kriege als der seitdem eingeschlagenen Politik zuzuschreiben, sieht man daraus, daß sie sich erst gegen Ende der siebziger Jahre merkbar macht. Der industriellen Stagnation entspricht auch die Abnahme des Fleischkonsums in den Städten. Nach der landwirtschaftlichen Enquete von 1892 betrug er in den Städten mit mehr als 10000 Einwohnern:
Jahr |
|
Pro Kopf der Bevölkerung |
---|---|---|
1854 |
47,7 Kilogramm |
|
1862 |
53,9 Kilogramm |
|
1867 |
57,9 Kilogramm |
|
1872 |
55,5 Kilogramm |
|
1877 |
62,3 Kilogramm |
|
1882 |
64,6 Kilogramm |
|
1887 |
60,7 Kilogramm |
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1892 |
57,0 Kilogramm |
Spätere Zahlen zeigen in Paris eine weitere Abnahme des Fleischkonsums:
Im Jahres- |
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Fleischkonsum |
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1876 bis 1880 |
76 Kilogramm |
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1881 bis 1885 |
76 Kilogramm |
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1886 bis 1890 |
76 Kilogramm |
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1891 bis 1895 |
73 Kilogramm |
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1896 bis 1897 |
70 Kilogramm |
Gleichzeitig trat auch eine Verminderung des Weizenkonsums ein. Er betrug in Frankreich pro Kopf der Bevölkerung:
Im Jahres- |
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1862 bis 1871 |
ca. |
220 Liter |
1872 bis 1881 |
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250 Liter |
1882 bis 1885 |
285 Liter |
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1886 bis 1890 |
270 Liter |
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1891 bis 1894 |
270 Liter |
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1895 bis 1897 |
245 Liter |
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(Goldstein, a. a. O., S. 80, 81, 86) |
Diese Zahlen sprechen wohl deutlich genug.
Daß Frankreich mit noch nicht 40 Millionen und kaum zunehmender Bevölkerung dem Deutschen Reiche mit bald 60 Millionen Einwohnern und rasch anwachsender Volkszahl durch sein stehendes Heer ebenbürtig bleiben, indes es gleichzeitig ein Kolonialgebiet beherrschen und noch vergrößern will, das heute bereits mehr als zehnmal so groß ist wie das Mutterland, muß schon für sich allein verderblich wirken. Wenn aber die hohe Finanz, Bureaukratie, Offizierskorps und Geschäftspolitiker, welche diese Politik machen und aus ihr Nutzen ziehen, in der Weise für sie eine feste Basis in der Nation sich schaffen wollen, daß sie den Bauern Sondervorteile auf Kosten des industriellen Proletariats und schließlich der Industrie selbst zuschanzen und diese dadurch bedrängen und lähmen, dann heißt direkt das Land ruinieren. Die Politik der dritten Republik muß, wenn sie weiter fortgeht wie bisher, Frankreich trotz seiner reichen Hilfsquellen ebenso zum Verbluten bringen, wie eine ähnliche Politik im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert das absolutistische Spanien verbluten ließ.
Wir in Deutschland haben allerdings keinen Grund, deshalb auf Frankreich hochmütig herabzusehen. Denn das Deutsche Reich treibt, wenn auch aus anderen Gründen, ungefähr die gleiche Politik; aber weil es etwas später damit anfing, sie weniger energisch betrieb, dabei das Land größer ist, die Bevölkerung rascher wächst, hat es noch nicht die gleichen Früchte geerntet wie die dritte Republik. Indes genügen noch einige Kolonialkriege, Marinevorlagen und Handelsverträge, um auch die robuste Natur der deutschen Industrie unterzukriegen. Und das kann um so leichter passieren, als der überlegene industrielle Konkurrent, der nach 1871 für Frankreich in Deutschland erstand, jetzt für Deutschland in den Vereinigten Staaten anwächst.
1. Auf manche Reform noch länger. Das Arbeitsbuch, das für Deutschland 1868 aufgehoben wurde (auf Antrag Bebels), blieb in der Republik bis 1890 in Kraft.
2. Arbeiter, die mehr als dreißig Jahre ununterbrochen in demselben Unternehmen beschäftigt waren, können durch eine Medaille „ausgezeichnet“ werden, die der Handelsminister verleiht. Es ist ein höchst billiges Mittel, die Arbeiter zu „befriedigen“. Im Budget fair 1904 sind 39.000 Franken dafür ausgesetzt gegen 16 Millionen für die Ehrenlegion, den Orden der Besitzenden.
3. Die Zahlen für 1870 und 1871 sind wegen des Krieges weggelassen.
4. Mit Weglassung der Ziffern für 1878 und 1889, wo die Weltausstellungen außergewöhnliche Verhältnisse schufen.
Zuletzt aktualisiert am 13.7.2011