Karl Kautsky

Das Massaker von Kischinew
und die Judenfrage

(1903)


In: Die Neue Zeit, 1902/03, 2. Bd., S. 303–309.
Abgedruckt in Iring Fetscher (Hrsgb.): Marxisten gegen Antisemitismus, Hamburg, Hoffman und Campe, 1974, S. 77–86.
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Die Redaktion des Przeglad Socyaldemocraticzny (Organ der Sozialdemokratie Russisch-Polens und Litauens) fordert mich auf, meine Meinung über das Blutbad von Kischinew auszusprechen. Es ist nicht leicht, auf diese Frage eine Antwort zu geben, die über das Selbstverständliche hinausgeht, über den selbstverständlichen Abscheu vor den furchtbaren Brutalitäten. Es fällt schwer, ruhig und nüchtern nachzudenken über Ereignisse, deren bloße Mitteilung uns das Blut in den Adern erstarren lässt und gleichzeitig unseren grimmigsten Hass gegen die daran Schuldigen anfacht. Es fällt aber auch einem Nichtrussen schwer, die Eigenart des Judentums wie des Antisemitismus Russlands zu erfassen.

Schon der westeuropäische Antisemitismus ist eine recht komplizierte Erscheinung. Die Antisemiten selbst, soweit sie überhaupt über ihr Tun nachdenken, was bei ihnen selten genug vorkommt, stehen auf dem Boden der Rassentheorie; sie sehen in ihrem Hasse gegen das Judentum ein Naturgesetz; die jüdische Rasse ist ihrer Ansicht nach von Natur aus mit Eigenschaften begabt, die jeden Nichtjuden zwingen, sie zu hassen und zu verfolgen. Noch mystischer aber ist die Auffassung des liberalen Philosemitismus, die im Judenhass nur das Produkt eines Volkswahnsinns sieht.

Immer mehr breitet sich diesen Anschauungen gegenüber die sozialistische aus, die in der jetzigen antisemitischen Bewegung ein Stück Klassenkampf sieht, ein Produkt des Verzweiflungskampfes niedergehender Volksschichten. Das untergehende Handwerk kämpft gegen Großindustrie und Zwischenhandel; der kleine Händler gegen die großen Warenhäuser; der in Schuldknechtschaft versinkende Bauer gegen den Wucherer und Händler, namentlich den Vieh- und Kornhändler. Der Niedergang dieser Schichten treibt aber ihren Nachwuchs immer mehr dazu, statt dem väterlichen Beruf einem der Intelligenzberufe sich zuzuwenden, so dass nun die liberalen Berufe immer mehr überfüllt werden. Alle diese Schichten wenden sich gegen das Judentum, das ihnen als der Repräsentant des Geld- und Handelskapitals gilt, das aber auch der Intelligenz zahlreiche und rührige Elemente zuführt. Die Niederschlagung des Judentums erscheint diesen Schichten als der beste Weg, ihrer Bedrängnis ein Ende zu machen.

Diese Erklärung des westeuropäischen Antisemitismus unserer Zeit dürfte die richtige sein; aber sie reicht nicht aus, denn nun erhebt sich die Frage, woher es kommt, dass gerade die Juden als die auserwählten Vertreter des Geld- und Handelskapitals und der Intelligenz erscheinen. Haben wir es da wirklich mit einer Eigenart des Judentums zu tun und entspringt sie seinem Rassencharakter?

Diese Eigenart ist kein Schein, sondern Wirklichkeit, ob sie aber dem Charakter der jüdischen Rasse entspringt, könnte man erst dann entscheiden, wenn man sicher wüsste, was eine Rasse eigentlich ist. Wir brauchen aber gar nicht diesen Begriff, der keine wirkliche Antwort gibt, sondern nur neue Fragen aufrollt. Es genügt, die Geschichte des Judentums zu verfolgen, um über die Ursachen seines Charakters klar zu werden. Wir finden die Juden in Palästina, als Besitzer eines Berglandes, das von einem gegebenen Moment an nicht mehr ausreichte, seinen Bewohnern eine ebenso behagliche Existenz zu gewähren, wie sie ihre Nachbarn hatten.

Ein solches Volk greift entweder zum Raub oder zur Auswanderung. Die Schotten z. B. wählten anfänglich den ersten, dann den zweiten Ausweg. Nach mannigfachen Kämpfen gegen ihre Nachbarn betraten auch die Juden den letzteren. Aber ein Bergland mit seinen abgeschlossenen Tälern erzeugt eine Bevölkerung, die sich einem fremden Milieu nicht leicht anpasst, die in der Fremde an den ererbten Sitten und Gebräuchen hängt, die sich dort aber auch nicht wohl fühlt, sondern wieder nach Hause strebt. Ihre Auswanderer gehen in die Fremde nicht, um dort zu bleiben, sondern um möglichst rasch möglichst viel Reichtum zusammenzuraffen und dann damit in die Heimat zurückzukehren. Nicht als sesshafte Ackerbauer oder Städtegründer gehen sie ins Ausland, sondern als abenteuernde Söldner, wie im Altertum die Arkadier, im Mittelalter die Schweizer, heute in der Türkei die Albanesen – oder als Händler, wie die Juden, später die Schotten, heute die Armenier. Wir sehen, das gleiche Milieu entwickelt unter Völkern der verschiedensten Rassen die gleiche Eigenart.

Aber zu dieser Eigenart, welche die Juden mit anderen Gebirgsvölkern teilten, gesellte sich im Laufe der historischen Entwicklung ein Schicksal, das kein anderer Volksstamm mit ihnen gemein hatte: die Austilgung auf ihrem Mutterboden. In seinem Stammland wurde das Judentum ausgerottet, es lebte nur noch in seinen zahlreichen Kolonien Ausgewanderter in der Fremde fort. Damit hörten die Juden auf, eine Nation zu sein, denn eine solche ohne ein Territorium ist undenkbar. Sie wurden ein Volksstamm, einzig in seiner Art, nämlich der einzige (wenn man absieht von kleinen Völkerstämmen ohne historische Bedeutung wie die Zigeuner), der nur als Fremder unter Fremden lebte, mit starkem Heimatsgefühl, aber ohne Heimat; überall als Fremder schutzlos, oft nur geduldet, oft geächtet, ohne eine Zufluchtsstätte mit eigenem Rechte, in der er Sicherheit und Ruhe hätte finden können. Endlich aber wurden sie auch der einzige Volksstamm, der keinerlei Landleute in seinen Reihen zählte, der seit bald zwei Jahrtausenden fast ausschließlich in Städten lebt – und dort, wo er sich vereinzelt auf das Land hinausgewagt hat, von städtischen Erwerbszweigen lebt. Handel mit Geld und Waren und intellektuelle Berufe, das heißt jene Tätigkeiten, welche früher die aus ihrem Lande ausgewanderten Juden betrieben, das wurden nun die einzigen Erwerbszweige der gesamten Judenschaft. Im Laufe des Mittelalters, das die ständische Trennung der Klassen und Berufe liebte, wurden die tatsächlichen Beschränkungen der Juden auf bestimmte Berufe und Lokalitäten zu juristischen Beschränkungen. Abgeschlossen von der Masse der Bevölkerung, erhielt das Judentum seine Eigenart noch mehr, als seinem Wesen ohnehin entsprach; ja diese Abgeschlossenheit verschärfte und vertiefte sie und fügte ihr eine Reihe neuer Züge hinzu. Die Vermischung mit frischem Bauernblut vom Lande, die die andere städtische Bevölkerung immer wieder physisch auffrischte, aber auch immer wieder mit neuen Elementen geistiger Schwerfälligkeit und Rückständigkeit erfüllte, blieb den Juden versagt. Die Entwicklung ihrer körperlichen Kraft wurde dadurch gehemmt, aber umsomehr die ihrer Intelligenz und ihrer Rührigkeit gefördert. Kein Wunder, dass sie auch heute noch, wo in Westeuropa alle juristischen Schranken zwischen ihnen und der übrigen Bevölkerung gefallen sind, besonders zahlreich und erfolgreich unter den Kapitalisten und in der Intelligenz zu finden sind.

Aber ebensowenig ist es zu verwundern, wenn geistig beschränkte Volksschichten – und dazu gehört auch ein gut Teil der Intelligenz, der studiert, nur der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe –, die vom Kapital oder der Überfüllung im eigenen Berufe bedrängt werden, im Juden nicht bloß eine Personifikation der sie bedrängenden Ursache, sondern diese selbst in voller Ausschließlichkeit sehen.

Aber für Russland scheint mir diese Erklärung des Antisemitismus nicht auszureichen. So gibt es dort zum Beispiel keine Überproduktion an Intelligenz, sondern eine Unterproduktion. Dem dürfte es auch zuzuschreiben sein, dass in Russland die studierende Frau nicht, wie in Deutschland, von den Herren der Intelligenz als Konkurrentin angefeindet, sondern als Helferin freudig begrüßt wird. In Westeuropa sind dieselben Kreise der Intelligenz, die dem Judentum am feindseligsten gegenüberstehen, auch die borniertesten Gegner des Frauenstudiums. Dann aber umfasst in Russland das Judentum nicht bloß, wie in Westeuropa, vorwiegend Kapitalisten und Intellektuelle, sondern vielmehr alle städtischen Klassen, auch Handwerker und Proletariat, darunter die Ärmsten der Armen. Was konnte die Volkswut gegen diese entfesseln? Es ist wohl notwendig, um den russischen Antisemitismus zu erklären, nicht bloß die Eigentümlichkeiten des Judentums, sondern auch die eigenartige Lage des russischen Volkes ins Auge zu fassen.

Menschen, die in primitiven traditionellen Verhältnissen, von der übrigen Welt abgeschlossen leben, sehen in sich selbst das Maß alles Menschlichen. Ihr Milieu, ihr Denken, ja selbst ihr Verständigungsmittel, ihre Sprache erscheint ihnen als natürlich, alles davon Abweichende als widernatürlich, abscheulich. Derartige Menschen stehen daher leicht dem Fremden auch dort misstrauisch, ja feindselig gegenüber, wo kein Interessengegensatz vorhanden. Man hält die Fremden auch bar alles menschlichen Empfindens und schreckt nicht vor Grausamkeiten ihnen gegenüber zurück, die man entsetzlich fände, würden sie an Genossen der eigenen Rasse verübt.

Am wenigsten gilt das vom Fremden, mit dem man zufällig zusammentrifft, und der ebenso rasch verschwindet wie er auftaucht. Als abnormes Kuriosum mag er sogar mehr Neugierde als Abneigung erwecken. Wo dagegen der Fremde nur insofern fremd ist, dass er in Sitte, Glauben, Sprache, Körpergestalt von der Masse der Bevölkerung abweicht, wo er aber nicht ein vorüberziehender Ausländer ist, sondern ein Nachbar, der einem immer wieder begegnet, mit dem man im engsten ökonomischen Verkehr lebt, einem Verkehr, der in einer auf ökonomischen Gegensätzen beruhenden Gesellschaft in der Regel ein feindseliger ist, wo Misstrauen und Abneigung durch den erzwungenen täglichen Verkehr mit seinen mannigfaltigen Reibungen immer wieder von neuem angestachelt werden, da nimmt die Feindseligkeit gegen den Fremden leicht die bösartigsten Formen an. Das gilt in Osteuropa von den Juden, aber anderswo können wir das Gleiche beobachten, wo verschiedene Volksstämme denselben Boden bewohnen. So ist zum Beispiel ein gut Teil der nationalen Gegensätze in Österreich und der Türkei der instinktiven Abneigung des primitiven Menschen gegen den andersgearteten Nachbar zuzuschreiben. Ebenso die Abneigung gegen den Neger in den Vereinigten Staaten, welche in den südlichen Teilen der Union oft Formen annimmt, die sich mit den Judenverfolgungen in Russland sehr wohl messen können.

Wodurch kann diese Feindseligkeit überwunden werden? Am radikalsten dadurch, dass die den fremdartigen Charakter tragenden Bevölkerungsteile aufhören, Fremde zu sein, dass sie sich mit der Masse der Bevölkerung vermischen. Das ist schließlich die einzig mögliche Lösung der Judenfrage, und alles, was das Aufhören der jüdischen Abschließung fördern kann, ist zu unterstützen.

Aber die Eigenart des Judentums ist ein Produkt Jahrtausendelanger Entwicklung, es lässt sich nicht mit einem Male der Masse der übrigen Bevölkerung assimilieren. Solange dies aber nicht geschehen, gibt es nur ein Mittel, der Abneigung gegen die jüdische Eigenart entgegenzuwirken: die Aufklärung der Volksmasse. Diese Aufklärung ist jedoch nicht in dem Sinne zu verstehen, dass man die Volksmasse mit Ergüssen moralischer Entrüstung über den Antisemitismus überschüttet, worin dieser als Schmach des Jahrhunderts gebrandmarkt wird und dergleichen. Das Empfindungsleben der Menschen bleibt von Sprüchlein und Ermahnungen völlig unberührt. Soweit es sich überhaupt veränderlich zeigt, nicht von angeborenen Eigenschaften in stets gleichen Bahnen erhalten wird, ist es der Inhalt seines Lebens, der es beherrscht. Wer das Empfindungsleben der Menschen ändern will, muss ihrem Leben einen neuen Inhalt geben. Auch die Abneigung gegen das Judentum kann dort, wo sie im Volksempfinden tief eingewurzelt ist, nur dann durch Aufklärung überwunden werden, wenn diese dem Volksleben einen neuen Inhalt gibt. Wenn den primitiven Menschen von dem fremdartigen Nachbarn keine tiefgehenden Klassengegensätze trennen, dann schwindet seine Unduldsamkeit gegen diesen leicht, sobald sein Horizont sich erweitert, sobald in seiner eigenen Brust Bedürfnisse und Anschauungen auftauchen, die ihm fremd waren, sobald er aufhört, das Überkommene als das Natürliche zu betrachten, sobald er anfängt, es als ein Hindernis seines Aufsteigens von sich zu weisen. Mit einem Worte, sobald aus dem primitiven, gedankenlos in den überkommenen Formen fühlenden Menschen ein denkender Revolutionär wird. Das revolutionäre Denken macht tolerant gegenüber dem Fremden, der kein Feind ist, und nur eine Aufklärung, die imstande ist, ein revolutionäres Denken in der Volksmasse zu entzünden, ist imstande, in dieser den Antisemitismus zu überwinden, soweit er bloß der instinktiven Abneigung, der primitiven Beschränktheit gegen den fremdartigen Nachbar entspricht.

Neben der Auflösung des Judentums ist das revolutionäre Denken der Volksmasse das beste Gegengift gegen den Antisemitismus. Seit langem ist jede Klasse in Europa dem Judentum unbefangen, ja sympathisch gegenübergetreten, die revolutionär empfand, die über das Überkommene hinausstrebte. Dementsprechend haben aber auch die tiefsten und kühnsten Denker des Judentums stets das revolutionäre Denken ihrer Zeit zu dem ihren gemacht, was sie aber wieder nicht konnten, ohne sich über das traditionelle Judentum zu erheben und sich auf den Boden der allgemeinen europäischen Kulturentwicklung zu stellen.

Dieser enge Zusammenhang zwischen dem revolutionären Empfinden und den Bedürfnissen des jüdischen Emanzipationsstrebens ist aber, wie so mancher anderen Regierung, auch der russischen nicht entgangen. Sie hasst und verfolgt daher das Judentum ebenso sehr wie die revolutionären Strömungen, und sie tut alles, was in ihren Kräften steht, um den Judenhass in der Bevölkerung zu schüren und zu stärken. Sie erhält ihn nicht bloß dadurch lebendig, dass sie von der Volksmasse jede Aufklärung fernhält, die ihr Leben mit einem neuen Inhalt füllen könnte. Sie hindert auch jede Annäherung zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung, verhindert ihre Vermischung und bringt den Volksmassen durch ihre Praxis die Überzeugung bei, der Jude stehe außerhalb der menschlichen Gemeinschaft, sei rechtlos und vogelfrei.

Leidet die Volksmasse, verzweifelt sie, macht sie ihrer Verzweiflung in wilden Ausbrüchen Luft, dann werden diese Ausbrüche von den Dienern des Zaren auf das Judentum abgelenkt. Die Juden werden als Blitzableiter benützt für die Gewitter, die sich über dem Haupte der Autokratie zusammenballen. Das Misshandeln, Plündern und Erschlagen der Juden ist die einzige Volksbewegung, die im russischen Reiche gestattet wird. Als vor einem Jahre der Graf Schuwaloff, der Stadtvorsteher von Odessa, erfuhr, dass eine Demonstration für den ersten Mai geplant werde, ließ er jüdische Arbeiter vor sich kommen und drohte, er werde die Demonstration mit Volksunruhen gegen die Juden beantworten.

In diesen Jahren brachen die Judengemetzel in Kischinew rechtzeitig genug aus, um die Maifeier zu stören. In Kiew haben auch unsere Genossen in einem Manifest ausdrücklich erklärt, dass sie bei der augenblicklichen Volksstimmung von einer Demonstration am 1. Mai absehen und bei etwaigen Erhebungen gegen die Juden die Arbeiter auffordern, diese zu schützen. Auch in Kischinew versuchten Arbeiter die Juden zu verteidigen. Sie wurden mit bewaffneter Macht auseinandergetrieben, von derselben bewaffneten Macht, die dem Morden und Plündern ruhig zusah. Und Polizisten waren es, die die Plündernden anführten.

Die Juden in Russland haben heute nur einen wahren Freund: die revolutionäre Bewegung. Sie allein arbeitet dem Antisemitismus wirksam entgegen, indem sie die Volksmassen über ihre wahren Interessen aufklärt und ihnen zeigt, dass sie sie ihrer Beschränktheit entreißt, sie mit neuen Anschauungen und neuen Bedürfnissen erfüllt, Anschauungen und Bedürfnissen, die allen aufstrebenden Kulturmenschen gemeinsam sind, mögen es Juden oder Nichtjuden sein; endlich dadurch, dass sie in gemeinsamem Klassenkampf jüdische und nichtjüdische Arbeiter zu vereintem Wirken zusammenführt.

Die zionistische Bewegung dagegen kann nur das antisemitische Empfinden der Volksmassen verstärken, indem sie die Abschließung des Judentums von der übrigen Bevölkerung vermehrt und es noch mehr als bisher zu einem fremden Volksstamm stempelt, der seinen eigenen Anschauungen nach auf dem russischen Boden nichts zu suchen hat. Wider Willen besorgt sie dadurch die Geschäfte des Zarentums, von dem sie denn auch bisher geduldet wurde. Von den Hoffnungen freilich, die sie auf den Zaren setzten, dürften die meisten Zionisten jetzt kuriert sein. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die russische Autokratie der Hauptschuldige an den Mordtaten von Kischinew ist; sie ist indirekt daran schuldig, durch die Unwissenheit, durch die Abschließung von der übrigen Welt und von allen neuen Ideen, in der sie die Volksmassen künstlich erhält; direkt durch ihre Werkzeuge, die als Anstachler dieser Massen tätig waren. Aber es gibt noch andere Schuldige an diesen Gräueln. Der Zarismus wäre längst zusammengebrochen unter der Last seiner Sünden, hätte er nicht immer erneute moralische und finanzielle Hilfe gefunden in Westeuropa. Die Regierungen der vornehmsten Kulturländer Europas haben das System unterstützt, das solche Schandtaten zeitigt – die französische Republik hat sich mit ihm alliiert; „Genosse“ Millerand hat ihm die Hand geküsst; nicht minder hat sich die große Presse Europas dem Zarentum willfährig erwiesen, und mit Hilfe der Regierungen und der Presse hat die große Finanz Europas dafür gesorgt, dass der Zar bei jeder Anleihe so viel Geld erhielt, als er brauchte, um sein bankrottes Regime weiterzufristen.

Diese Presse und diese Finanz, über deren Verjudung der Antisemitismus so lebhaft zetert, wussten ganz wohl, wen sie unterstützten. Der Zarismus hat aus seinem Judenhass nie ein Hehl gemacht, er hat ihn oft genug in gesetzlichen und ungesetzlichen Judenverfolgungen betätigt. Wenn sie trotzdem immer wieder dem Zarentum mit neuen Milliarden unter die Arme griffen, so haben sie damit deutlich bewiesen, dass das Kapital und seine Helfershelfer auf alle Humanität pfeifen, wo ein Profit winkt; sie haben aber auch gezeigt, wie wenig die Rassengemeinschaft bedeutet, wie wenig die Juden Russlands von dem jüdischen Kapital des Westens zu erwarten haben. Sie mögen sich nicht irreführen lassen durch das Wehgeschrei, das jetzt die kapitalistische Presse anstimmt; das europäische Kapital wird fortfahren, den Zarismus zu stützen, wie es das rumänische Regiment stützt. An der Infamie von Kischinew ist mitschuldig die Skrupellosigkeit des internationalen jüdischen und christlichen Kapitals und seiner Werkzeuge. Die jüdische Solidarität, die Solidarität der Juden aller Klassen, ist eine leere Redensart geworden, sobald es sich um mehr handelt, als um ein paar Bettelpfennige; sobald es gilt, gemeinsam einem mächtigen Gegner entgegenzutreten. Wahrheit und Wirklichkeit aber ist die Solidarität der Proletarier aller Zungen, aller Rassen. Im Klassenkampf des sozialistischen Proletariats verschwindet der so tiefgewurzelte Gegensatz zwischen dem Neger und dem Weißen in Amerika, verschwindet in Europa der zwischen dem Juden und dem „Arier“. Nur in dieser Solidarität findet der jüdische Proletarier die Kraft, sich seiner Dränger zu erwehren. Je stärker aber die sozialistische Bewegung, desto sicherer ist auch das gesamte Judentum davor, dass die irregeleitete Wut verzweifelnder Volksmassen sich auf das Ghetto ergießt, statt gegen den Zarismus sich zu wenden, den Hort aller Barbarei.

Möge die Solidarität zwischen jüdischen und nichtjüdischen Proletariern in Russland noch enger werden, als sie bisher gewesen: wäre das die Frucht des Blutbads von Kischinew, dann sind seine armen Opfer wenigstens nicht umsonst gefallen.


Zuletzt aktualisiert am 7.1.2012