Karl Kautsky


Die Agrarfrage




Zweiter Abschnitt
Sozialdemokratische Agrarpolitik


II. Der Schutz des ländlichen Proletariats


a) Industrielle und landwirthschaftliche Sozialpolitik

Bisher haben unsere Erörterungen der sozialdemokratischen Agrarpolitik vorwiegend ein negatives Resultat ergeben, das nicht sehr ermuthigend ist für jene, die nach einem sozialdemokratischen „Agrarprogramm“ suchen, das heißt, nach Forderungen, die das Proletariat erheben soll, um die bäuerliche Betriebsweise zu retten oder schmerzlos Ämter Vermeidung des kapitalistischen Durchgangsstadiums aber noch innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft in sozialistischen Betrieb überzuführen.

Aber daraus folgt doch noch nicht, daß von unserem Standpunkt aus eine positive sozialdemokratische Agrarpolitik unmöglich, daß wir zu agrarischem Nihilismus verurtheilt seien. Wenn der Standpunkt der Sozialdemokratie ein positives Wirken auf dem Gebiet der Industrie schon in der heutigen Gesellschaft möglich, ja nothwendig macht, so nmß dasselbe auch für die Landwirthschaft gelten, denn die gesammte Gesellschaft ist ja, wie schon wiederholt bemerkt, ein einheitlicher Organismus, die Politik der Sozialdemokratie auf dem Gebiet der Landwirthschaft kann ihrem Wesen nach keine andere sein, als ihre Politik auf dem Gebiet der Industrie. Anderseits aber wird das Proletariat seine bisherige Sozialpolitik, die aus den Verhältnissen der Industrie geschöpft ist, nicht ohne Weiteres auf die Landwirthschaft übertragen können. Es muß sie den Eigenthümlichkeiten derselben anpassen. Das ist die Aufgabe, die die Sozialdemokratie zunächst zu lösen hat, wenn sie Landagitation treiben will. Sie braucht nicht neue Grundsätze, neue Programme für ihre Thätigkeit auf dem flachen Lande zu suchen, sie hat vielmehr zu erforschen, welches die Konsequenzen ihrer bisherigen Gesammtgrundsätze, ihres bisherigen Gesammtprogramms sind, sobald man sie auf die Landwirthschaft anwendet, und welche Modifikationen ihre Forderungen dabei erfahren.

Eine derartige Untersuchung würde ein großes Werk für sich bilden. Sie müßte auch, bei der ungeheuren Mannigfaltigkeit der ländlichen Verhältnisse, für jedes Land, ja für jede Oertlichkeit anders ausfallen. Auch könnte sie vollkommen nicht von einem Theoretiker allein, sondern nur im Verein mit einem oder mehreren „Praktikern“, das heißt mit Leuten, welche mit der landwirthschaftlichen Praxis der verschiedenen in Betracht kommenden Betriebsarten und Landstriche wohlvertraut sind, durchgeführt werden. Zu einem Abschluß könnte sie nie gelangen, wie ja auch die sozialpolitischen Programme für die Industrie stets nur provisorische sein müssen, da die Verhältnisse sich stets ändern.

Wenn wir uns trotzdem hier noch an diese Untersuchung machen, so thun wir dies nur, um einige konkrete Beispiele zu gewinnen, die unverkennbar zeigen, daß auch von unserem Standpunkt aus eine positive Agrarpolitik für die Sozialdemokratie möglich ist. Dagegen liegt es uns fern, die erschöpfende und abschließende Feststellung einer sozialdemokratischen Agrarpolitik hier liefern zu wollen.

Die historische Aufgabe der Sozialdemokratie besteht in der Förderung der Entwicklung der Gesellschaft über das kapitalistische Stadium hinaus, das bedingt aber einmal Maßregeln im Interesse der gesammten Gesellschaft und anderseits Maßregeln im Interesse des Proletariats, jener Triebkraft, die allein im Stande ist, die Gesellschaft über das kapitalistische Stadium hinaus zu heben. Dieselben zwei Seiten weist die Sozialpolitik der Sozialdemokratie auf. Darnach wird auch ihre Agrarpolitik einzutheilen sein in Maßregeln:

  1. Zu Gunsten des ländlichen Proletariats,
     
  2. Zu Gunsten a) der Landwirthschaft,
                          b) der ländlichen Gesammtbevölkerung.

Der spezielle „Bauernschutz“ findet hier keinen Platz.

Die Maßregeln der ersteren Art lassen sich wieder eintheilen in zwei Gruppen:

  1. Solche, die Hemmnisse der freien Bethätigung und Organisation des Proletariats aus dem Wege räumen,
     
  2. Maßregeln, durch welche dort, wo die Bethätigung der einzelnen Individuen wie auch die der organisirten Massen des Proletariats versagt, die Staatsgewalt zum Schutze seiner körperlichen, intellektuellen und moralischen Fähigkeiten gegenüber den niederdrückenden Wirkungen übermächtiger ökonomischer Faktoren eintritt.
     

b) Das Koalitionsrecht, die Gesindeordnungen

Zur ersten Gruppe gehören vor Allem Maßregeln zur Aufhebung der Reste der feudalen Gebundenheiten, die immer noch in Deutschland existiren. Am bekanntesten darunter sind die Gesindeordnungen, in denen, an der feudalabsolutistische Staat zusammenbrach, die herrschenden Klassen soviel von der Leibeigenschaft retteten, als noch zu retten war. „Keine Erscheinung in unserer bürgerlichen Gesellschaft“, sagt Anton Menger, „nähert sich so sehr der Sklaverei und der Leibeigenschaft als das Gesindeverhältniß. “ (Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, Brauns Archiv für soziale Gesetzgebung, II, S. 403) Dieser feudale Charakter des Gesindeverhältnisses wird noch verstärkt dort, wo er durch Ausnahmsgesetze gegen das Gesinde, durch die Gesindeordnungen, einen gesetzlichen Stempel erhält. Es gereicht den Machern des bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich wahrlich nicht zum Ruhme, daß sie hundert Jahre nach der großen bürgerlichen Revolution diesen feudalen Rest ebenso wie manchen anderen völlig unangetastet ließen. Nur das Reichsland Elsaß-Lothringen ist in Deutschland, dank dem französischen Rechte, frei von einer Gesindeordnung. (Vergl. über diese namentlich den sehr instruktiven Artikel in Wurms Volkslexikon, 1895, 2. Bd., S. 926 ff., sowie das Buch von W. Kähler, Gesindewesen und Gesinderecht in Deutschland)

Aber neben den Ausnahmsgesetzen gegen das Gesinde giebt es auch solche gegen die gesammte ländliche Arbeiterklasse. Noch hat sie im Deutschen Reiche nicht das Koalitionsrecht erlangt; dieses gilt nur für die gewerblichen Arbeiter. Für die Masse der Landarbeiter, Gesinde, Taglöhner, Instleute, Einlieger u. s. w., ebenso wie für Schiffsknechte, ist z. B. in Preußen nach dem Gesetz vom 24. April 1854 die Verabredung von Arbeitseinstellung bei Gefängnißstrafe bis zu einem Jahre verboten, und dies Gesetz ist heute noch in Kraft. Das Koalitionsrecht ist für den modernen Proletarier neben dem allgemeinen Wahlrecht und der Freizügigkeit das wichtigste aller Grundrechte; das Proletariat kann sich nicht entwickeln ohne dieses Recht, es ist eine seiner Lebensbedingungen geworden. Wenn die Sozialdemokratie das ländliche Proletariat aufrütteln, organisiren, der Armee des kämpfenden Proletariats einverleiben will, muß sie ihm auch dieses Grundrecht erobern. Das Koalitionsrecht ist jedoch für den städtischen Arbeiter wichtiger als für den Landarbeiter, dessen Isolirtheit und ökonomische Abhängigkeit durch dasselbe nicht beseitigt werden.

In England reichen die Versuche, die Landarbeiter zu organisiren, bis in die dreißiger Jahre zurück. Und heute? „Von den dreiviertel Millionen Landarbeitern Großbritanniens sind zur Zeit nicht mehr als 40.000 organisirt.“ (S. und B. Webb, Geschichte des britischen Trade Unionismus, deutsch von Bernstein, S. 300)

Ist das Koalitionsrecht auch für den Landarbeiter eilte unentbehrliche und nicht zu unterschätzende Waffe, so wird doch für ihn praktisch viel wichtiger das Recht der Freizügigkeit. Wo seine Lage sich in den letzten Jahrzehnten verbessert hat, verdankt er es vor Allem der Freizügigkeit, die ihm die Auswanderung ans dem Lande, die Abwanderung in die Städte und sonstigen industriellen Bezirke ermöglicht. Darum gehört aber auch die Freizügigkeit zu den von den Agrariern bestgehaßten Einrichtungen des modernen Staates. Noch sind sie ohnmächtig, direkt daran zu tasten, umsomehr versuchen sie alle möglichen heimtückischen Methoden, um ihr an den Kragen zu gehen: Fesselung der Arbeiter an die Scholle durch Rentengüter, Wiederbelebung von Allmenden, entweder Gemeindeweiden oder Acker- und Gartenland, das an Taglöhner verpachtet wird, und ähnliche Einrichtungen, Erschwerung der Auswanderung durch die Behörden (besonders in Galizien ein beliebtes Mittel, der Landflucht der Zwergbauern Einhalt zu thun), Vertheuerung der Eisenbahnbeförderung, Erhebung von Einzugsgeldern in den Städten und ähnlichen reaktionären Kram.

Allen diesen Bestrebungen muß sich die Sozialdemokratie auf das Entschiedenste widersetzen. Allerdings möchten die Agrarier hier einen Zwiespalt zwischen der industriellen und der ländlichen Arbeiterschaft konstruiren, indem sie darauf hinweisen, daß die Ueberfluthung der Industriebezirke mit Arbeitskräften vom Lande die Arbeitsbedingungen der industriellen Arbeiterschaft verschlechtere und ihre Widerstandskraft gegenüber den Kapitalisten vermindere. Es liege daher im Interesse der industriellen Arbeiterschaft, daß der Zuzug vom Lande aufhöre.

Argumente dieser Art sind auch unter den Industriearbeitern selbst laut geworden. Ja, es wurde sogar bei den Diskussionen, die der Schaffung des in Breslau 1895 abgelehnten Agrarprogramms vorhergingen, darauf hingewiesen, gerade der Zuzug vom Lande mache die Erhaltung der Bauernschaft und die Verbesserung des Loses der Landarbeiter dringend nöthig, um sie dadurch auf dem flachen Lande festzuhalten. Die gewerkschaftliche Agitation in den Industriebezirken sei aussichtslos so lange immer wieder neue Schaaren bedürfnißloser, geistig tiefer stehender und ökonomisch völlig haltloser proletarischer Elemente vom Lande zuströmten und als Blacklegs die Bemühungen der organisirten Arbeiter lahm legten,

Diese Argumentation ist richtig vom Standpunkt beschränkter Augenblicksinteressen einzelner Arbeiterschichten, vom Standpunkt des zünftig bornirten Nurgewerkschaftlers, nicht aber vom Standpunkt des Gesammtproletariats als der Triebkraft der Entwicklung zu einer neuen Gesellschaftsordnung, Wäre die in Rede stehende Argumentation richtig, dann geböte es das Interesse des industriellen Proletariats, jeder Vermehrung seiner Reihen zu widerstreben, das heißt, die Vorbedingung seines Sieges selbst aufzuheben. Die Wanderung des Landvolks in die Stadt erschwert es wohl den schon organisirten Arbeitern, eine privilegirte Stellung im Gesammtproletariat zu erlangen, sie bringt aber erst die Möglichkeit mit sich, zahlreiche Schichten der arbeitenden Bevölkerung zu organisiren und dem kämpfenden Proletariat einzuverleiben, die sonst außerhalb seiner Reihen blieben, ja zum Theil sich als Werkzeuge seiner Bekämpfung gebrauchen ließen. Sicher ist es schwerer, Rekruten zum Siege zu führen, als Veteranen; aber in den Armeen der großen französischen Revolution siegten doch die Rekruten durch ihren Enthusiasmus und ihre Massenhaftigkeit über die Veteranen des monarchischen Europa, die keine Mittel hatten, die Lücken in ihren Reihen auszufüllen. So liegt auch die Gewähr des Sieges der proletarischen Armeen weniger in der Ausbildung ihrer Veteranen, als in dem raschen Anwachsen, der Zahl der Rekruten, die ihren Fahnen begeistert zuströmen.

Dann muß man sich erinnern, daß die Siegesgewißheit des Proletariats viel weniger auf der Aufsaugung des landwirthschaftlichen Kleinbetriebs durch den Großbetrieb beruht, die nur langsam, stellenweise gar nicht vor sich geht, als auf der zunehmenden Herrschaft der Industrie in der Gesellschaft, die einerseits aus der Zurückdrängung der Landwirthschaft durch die Industrie, anderseits aus der wachsenden Abhängigkeit jener von dieser entspringt.

Es wäre geradezu selbstmörderisch, wollte die Sozialdemokratie diesen Prozeß hemmen, das Wachsthum der Industrie, die Zunahme des industriellen Proletariats durch Hemmung des Zuzugs frischer Arbeitskräfte vom Lande in die Industriebezirke künstlich unterbinden. Zum Glück ist dies unmöglich.

Es ist unmöglich, der Bedürfnißlosigkeit und Apathie der Landbevölkerung ein Ende zu machen und sie gleichzeitig auf dem Lande zurückzuhalten. Die Verhältnisse der ländlichen Arbeiterschaft werden in der heutigen Gesellschaft stets ungünstiger sein als die des industriellen Proletariats; die Entwicklung jener wird stets der Entwicklung dieses nachhumpeln, es ist also unmöglich, die Anziehungskraft der Industrie auf die landwirthschaftliche Bevölkerung aufzuheben; im Gegentheil wird diese Anziehungskraft in dem Maße steigen, in dem die Landbevölkerung mehr aufgerüttelt wird, aus ihrem Stumpfsinn erwacht und in engere Fühlung mit der industriellen Bevölkerung geräth.

Das Koalitionsrecht und die Freizügigkeit sind die beiden wichtigsten Mittel der freien Bethätigung und der Organisation für das ländliche wie für das industrielle Proletariat. Die Sozialdemokratie hat die Aufgabe, diese Waffen des Klassenkampfes zu erobern, und sie dort, wo sie erobert sind, festzuhalten und die verschiedenen Schichten der Arbeiterschaft in ihrem Gebrauch zu unterweisen und zu unterstützen.

Soviel über die erste Gruppe von Maßregeln im Interesse des Proletariats.
 

c) Kinderschutz

Die zweite umfaßt die Arbeiterschutzgesetze, die Gesetze zum Schutze aller Arbeiter oder insbesondere der arbeitenden Frauen und Kinder.

Bedarf es aber überhaupt solcher Gesetze zum Schutze der ländlichen Arbeiterschaft? Man darf sich wundern, daß diese Frage gestellt werden kann. Aber noch mehr muß man sich wundern, daß es deutsche Sozialpolitiker giebt, die sie verneinten, auf Grund der hier schon mehrfach zitirten vom Verein für Sozialpolitik veranstalteten Enquete über die Verhältnisse der Landarbeiter.

Allerdings ist diese Enquete auf eigenartige Weise zu Stande gekommen. Die Fragebogen wurden einzig und allein an die landwirthschaftlichen Unternehmer versandt. Diese galten den Sozialpolitikern als diejenige Quelle, der die lauterste Wahrheit über die Verhältnisse der Landarbeiter entspringt.

Auf die Absurdität dieses Vorgehens aufmerksam gemacht, erwiderte Herr Oberregierungsrath Thiel, einer der Leiter der Untersuchung, in seiner Einleitung zur Publikation der Resultate,

„daß, wenn irgendwo den Angaben der Arbeitgeber auch ohne Korrektur durch die Arbeiter Vertrauen zu schenken sei, dies in der Landwirthschaft zu erhoffen war; denn hier liegen die Verhältnisse noch einfacher: weder haben langjähriger Lohnkampf, Strikes und Verleitung zum Klassenkampf, sowie tiefgehende Interessengegensätze und Kämpfe das patriarchalische Verhältniß zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vergiftet ... Subjektive Urtheile sind natürlich auch mit untergelaufen und mögen häufig genug vom Standpunkt des Arbeitgebers gefärbt sein, allein dann sind sie auch als solche leicht erkenntlich und werden Niemand verführen.“ (Verhältnisse, I, S. XII)

Mit anderen Worten, die Untersuchenden nahmen das, was zu untersuchen war und was sie bewiesen sehen wollten, bereits als erwiesen an, und es erschien ihnen als selbstverständlich, daß Niemand geeigneter sei, denn Unternehmer, Fragen zu beantworten, wie folgende:

„Kommt Ueberarbeit durch zu lange Arbeitszeit, namentlich bei Frauen und Kindern vor? Führt die Frauenarbeit zur Vernachlässigung des Hausstandes? Einfluß der Feldarbeit auf die geistige Entwicklung des Kindes? Erscheint die bestehende Gesindeordnung reformbedürftig?“ u. s. w.

Sollte aber doch einer der befragten Landwirthe seine Beantwortung dieser Fragen „subjektiv färben“, so sei das„leicht erkenntlich“!

Eine sonderbarere Behauptung ist von Männern, die wissenschaftlich ernsthaft genommen werden sollen, kaum ausgestellt worden.

Es fällt uns natürlich nicht ein zu bezweifeln, daß es unter den besagten Landwirthen sehr ehrliche und kenntnißreiche Leute giebt, von denen man vieles lernen kann; wir verdanken der in Rede stehenden Enquete reiche Belehrung. Aber sie war absolut ungeeignet, über die Reformbedürftigkeit der ländlichen Arbeiterverhältnisse Aufschluß zu geben, ja sie war schlimmer als ungeeignet, geradezu irreführend. Kein vernünftiger Mensch wird sich über die Nothwendigkeit einer Reform bei jenen Leuten aufzuklären suchen, die alle Ursache haben, die Reform zu vereiteln.

Indessen hatten die Sozialpolitiker noch andere Gründe, außer ihrem felsenfesten Vertrauen in das patriarchalische Wohlwollen der Junker für ihre Arbeiter, nur die Ersteren zu befragen. Erstens Mangel an Mitteln und Hilfskräften – ein klägliches Zeugniß für das wissenschaftliche Interesse unserer regierenden und begüterten Klassen. Die Herren hätten sich an die Sozialdemokratie wenden sollen; die Proletarier hätten ihnen wohl die Mittel und die Hilfskräfte beigestellt, um neben den Landwirthen auch die Landarbeiter zu befragen. Und die Sozialdemokratie hätte auch geholfen, das zweite Hinderniß zu überwinden, das nach Herrn Thiel der Befragung von Landarbeitern entgegenstand, deren geistige Rückständigkeit. Diese Rückständigkeit ist ja sicher vorhanden, dank jenem Patriotismus, der für Kiautschau mehr übrig hat als für die preußische Volksschule, aber unsere Gesinnungsgenossen hätten wenigstens hie und da doch Landarbeiter aufzeigen können, die im Stande gewesen wären, den Herren Sozialpolitikern reinen Wein einzusehenken.

Aber freilich, man kann doch von deutschen Sozialpolitikern nicht erwarten, daß sie mit Arbeiterorganisationen in Verbindung treten, wenn es gilt, Arbeiterverhältnisse zu studiren. Diejenigen, die es gethan, wie E.H. Sax in Thüringen, H. Herkner im Elsaß, haben allerdings reichen wissenschaftlichen Gewinn daraus gezogen, aber sie mußten es im Verborgenen thun. und das waren junge Männer ohne Amt und Würde. Dagegen wird kein Einsichtiger von den Herren geheimen Räthen, die in Deutschland die akademische Sozialpolitik leiten, verlangen dürfen, daß sie Arbeiterverhältnisse anderswo studiren, als in den besten Kreisen.

Aber wenn sie sich schon nicht so weit erniedrigen wollten, über Arbeiterverhältnisse Arbeiter zu befragen, so gab es doch noch andere Leute, die sie befragen konnten, ohne ihrem Standesbewußtsein etwas zu vergeben, und die doch nicht direkt in einem Interessengegensatz zu den Arbeitern standen. Man sollte meinen, daß z. B. die Frage, ob die Kinderarbeit zur Vernachlässigung des Schulbesuchs führt, die Lehrer kompetenter beantworten könnten, als die Ausbeuter der Kinder; daß darüber, ob Kost und Wohnungen ausreichend, die Arbeit zu anstrengend, Landärzte eher Auskunft geben könnten, als Landwirthe; und neben Lehrern und Aerzten dürfte es auch noch Geistliche auf dem Lande geben, die es ernst mit ihrem Berufe meine und von denen man wenigstens hie und da eher unbefangene Antworten hätte erwarten dürfen, als von den Unternehmern selbst.

Das Vorgehen des Vereins für Sozialpolitik erhält nur dann einen Sinn, wenn es sich ihm von vornherein nicht um die Arbeiter, sondern die Unternehmer handelte, wenn die Enquete nicht die Nothlage der Arbeiter, sondern die der Unternehmer dokumentiren und Material zu einer Hilfsaktion für diese liefern sollte.

Unter den Bearbeitern der Resultate hat dies Herr Dr. K. Kärger ans besten verstanden, und so kam er zu dem Schlusse:

„Die ländliche Arbeiterfrage gipfelt meiner Auffassung nach in der Frage: Wie ist dem ländlichen Arbeiter, insbesondere des preußischen Ostens die Neigung einzuflößen, in der Heimath bei den dortigen Grundbesitzern Dienste zu nehmen?

„Durch diese Fragestellung will ich zunächst ausdrücken, daß eine ländliche Arbeiterfrage im Wesentlichen nur vom Standpunkt des Arbeitgebers, nicht von dem des Arbeiters selbst, vorhanden ist. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist die materielle Lage der ländlichen Arbeiter, welcher Kategorie sie auch angehören mögen, in ganz Deutschland ... eine gute und zeigt seit zwei bis drei Jahrzehnten die deutliche Tendenz, sich stetig zu verbessern. Die ländliche Arbeiterfrage kann also nicht in der Frage bestehen, durch welche Mittel die wirthschaftliche Lage der Arbeiter gehoben werden soll.“ (Verhältnisse, I, S. 217)

Und so ist denn auch die einzige gesetzliche Reformmaßregel, die Kärger da vorschlägt, die scharfe Bestrafung des Kontraktbruchs. Das sind die Resultate deutscher wissenschaftlicher Enqueten über Arbeiterverhältnisse.

Indessen, wenn man sehen will, findet man selbst in dieser unvollkommenen Enquete, so rosig sie färbt, so rasch sie über Verhältnisse hinweghuscht, die rosig zu färben unmöglich, genügende Thatsachen, die die Nothwendigkeit einschneidender Arbeiterschutzmaßregeln für die ländliche Arbeiterschaft schon vom rein hygienischen Standpunkte aus zeigen. Noch mehr natürlich vom Standpunkt des Sozialismus aus, dem es sich nicht blos darum handelt, einer Degenerirung der Arbeiterbevölkerung vorzubeugen, sondern darum, sie intellektuell und moralisch zu heben, um sie zu befähigen, die Leitung des ökonomischen Getriebes selbst in die Hand zu nehmen. Eine Sozialpolitik, die von der Ueberzeugung ausgeht, daß die Landarbeiter zu tief ständen, um Fragen über ihre eigene Lage beantworten zu können, und die zu dem Resultat kommt, die Lage dieser Klasse sei eine gute und Maßregeln zu ihrer Hebung überflüssig – eine solche Sozialpolitik ist vom sozialistischen Standpunkt aus von vornherein gerichtet.

Unter den Arbeiterschutzgesetzen sind die wichtigsten jene, die den Schutz der heranwachsenden Generation bezwecken. Die ganze sozialistische Bewegung ist ja mehr eine Bewegung für unsere Kinder, als für uns selbst.

Die produktive Beschäftigung von Kindern ist nichts dem Kapitalismus Eigenthümliches. Sie ist so alt wie die Menschheit, ja in gewissem Sinne noch älter, denn auch das Thier fängt lange bevor es erwachsen ist, an, sich sein Futter zu suchen. Aber die kapitalistische Produktionsweise hat, wie die Arbeit überhaupt, so auch die Kinderarbeit insbesondere ganz eigenartig und nicht vortheilhaft gestaltet. An Stelle der Arbeit in der Familie setzte sie die Lohnarbeit im Dienste des Unternehmers; aus dem Helfer der arbeitenden Eltern wurde deren Konkurrent; aus der bunten Abwechslung der verschiedensten Bethätigungen, die Geist und Körper entwickelte, ein physisch und geistig abstumpfendes Einerlei; aus dem halben Spiele eine erschöpfende Abrackerung. Diese letzteren Charakterzüge sind der gesammten Lohnarbeit der kapitalistischen Gesellschaft eigen, aber sie äußern besonders krasse Wirkungen auf dem Gebiete der Arbeit der Kinder, die weit widerstandsloser, als die Erwachsenen, gleichzeitig weit empfindlicher als diese gegen jede körperliche oder geistige Schädigung sind und deren Folgen ihr Lebenlang an sich tragen.

Zuerst äußerten sich die verheerenden Wirkungen der kapitalistischen Ausbeutung von Kindern in der Großindustrie. Bald traten sie auch im Handwerk zu Tage und ebenso in der Landwirthschaft. Wie in der Industrie ist es auch hier der Großbetrieb, der mit seiner Theilung der Arbeit eine Reihe einfacher, leichter Handgriffe schafft, die von Kindern anscheinend mühelos verrichtet werden können, und die er diesen billige, widerstandslosen Arbeitskräften ausschließlich zuweist.

Aber wie in der Industrie, so bleibt auch in der Landwirthschaft die Lohnarbeit der Kinder nicht auf den Großbetrieb beschränkt; sie wird vielmehr gerade ein Mittel, den Kleinbetrieb zu erhalten, ihn mit billigen Arbeitskräften zu versehen. Und je mehr die Landflucht sich entwickelt, je rarer erwachsene Arbeitskräfte auf dem Lande werden, um so mehr steigt das Bedürfniß, die kindlichen Arbeitskräfte zur Lohnarbeit heranzuziehen.

Nun soll die Lohnarbeit der Kinder in der Landwirthschaft nicht von schädlichen Wirkungen begleitet sein; wenigstens versichern so die vom Verein für Sozialpolitik befragten Unternehmer. Andere Leute sind anderer Meinung. Es ist richtig, daß die Landarbeit sich in freier Luft vollzieht und daß die Arbeit der Kinder oft eine leichte: Steine sammeln, Hopfen zupfen und dergleichen. Aber das System der Lohnarbeit drängt stets nach möglichster Auspressung der Arbeitskraft, nach größter Intensität und längster Dauer der Arbeit, zugleich aber auch nach möglichster Monotonie derselben, denn jeder Uebergang von einer Arbeit zu einer anderen ist mit einem Zeitverlust verbunden, oft auch mit einer Erschwerung der Aufsicht. Die leichteste und, in gewissen Grenzen gehalten, gesündeste Arbeit wird aber schädlich, sobald sie ununterbrochen über ein gewisses Maß hinaus fortgesetzt wird.

Nachtarbeit, wie in der Industrie, ist in der Landwirthschaft vorläufig nicht zu befürchten, aber Verkürzungen der Nachtruhe der Kinder sind gerade in der Landwirthschaft sehr häufig, deren Arbeiten namentlich im Somer (die Viehwartung auch im Winter) ungemein zeitig beginnen und spät enden. Konrad Agahd berichtet z. B. von Kindern, die (im Kreise Lissa, Posen) „von Morgens 4 Uhr bis zur Schulzeit Feldarbeiten verrichteten; dann zur Schule gingen und dann weiter bis zur Dunkelheit arbeiteten.“ (Die Erwerbthätigkeit schulpflichtiger Kinder im Deutschen Reiche, Brann’s Archiv, XII. Bd., S. 413.)

Dr. E. Lauer, Landwirthschaftslehrer in Brugg, sagt darüber:

„Die landwirthschaftliche Arbeit kann für die Kinder namentlich dadurch gefährlich werden, daß sie ihnen die nöthige Nachtruhe kürzt. Die Arbeitgeber und auch viele Eltern bedenken oft nicht, wie nothwendig ein Kind den Schlaf bedarf. Kinder von 10 bis 15 Jahren am Morgen schon um 4 bis 5 Uhr zu wecken und am Abend erst um 9 Uhr und noch später ins Bett gehen zu lassen, ist eine Unbarmherzigkeit, welche die Entwicklung der Kinder schwer benachtheiligen kann. Hier muß der Arbeiterschutz für Kinder einsetzen und verbieten, daß Kinder unter 15 Jahren schon vor Morgens 7 Uhr und nach Abends 7 Uhr noch zur Arbeit verwendet werden. Nachmittags ist eine mindestens zweistündige Pause zu gewähren. Soll eine solche Vorschrift ihren Zweck erfüllen, so muß sie aber auch auf die Schule und die Hausindustrie ausgedehnt werden. Auch der Schulunterricht soll innerhalb dieser Zeit abgehalten werden.“ (Die Beschlüsse des internationalen Kongresses für Arbeiterschutz in Bezug auf die Landwirthschaft, Schweizer. Blätter für Wirthschafts- und Sozialpolitik, VI. Jahrgang, S. 269)

Ebenso wie durch übermäßige Dauer, Intensität und Monotonie der Arbeit kann der kindliche Organismus schon dadurch geschädigt werden, daß er in zu jugendlichem Alter überhaupt zu regelmäßiger Arbeit angehalten wird. Kein einsichtiger Landwirth wird ein Füllen vor seinen Lastwagen spannen. Dagegen ist es nichts Seltenes, daß Kinder schon mit dem sechsten Jahre zur Lohnarbeit in der Landwirthschaft eingespannt werden. Agahd erzählt von einer posenschen Schule, in der aus einer Klasse mit 55 Schülern nur 2 keine landwirthschaftlichen Arbeiten verrichteten. „20 sind bei Fremden beschäftigt, und haben das elterliche Haus verlassen mit 6 (!) Jahren 2, mit 7 Jahren 1, mit 8 Jahren 2, mit 9 Jahren 3, die anderen mit 10 Jahren und darüber.“ (A. a. O., S. 414) Solchen sechsjährigen Kindern wird eine tägliche Arbeitszeit von zwölf und mehr Stunden zugemuthet, ungerechnet den Weg zu und von der Arbeitsstelle nach Hause, der auf dem Lande oft ein erheblicher. Wie scheußliche Zustände sich bei der Ausbeutung von Kindern auf dein Lande entwickeln können, zeigt folgende Verfügung der Anhaltinischen Regierung, die zum Schutze der Kinder erlassen worden, und doch ist das, was sie gestattet, noch skandalös genug:

„Nur mindestens Achtjährige dürfen zu ganzen Tagesleistungen herangezogen werden, noch jüngere sollen nur die Hälfte oder zwei Drittel der Zeit beschäftigt werden dürfen ... Die Arbeitszeit ist von 6 Uhr Morgens bis 6 Uhr Abends mit einer zweistündigen Mittagspause festgesetzt. Ist nach dieser Leistung noch ein Fußmarsch nöthig, so soll das Ende der Arbeitszeit so gelegt werden, daß die Heimkehr bis spätestens acht Uhr Abends erfolgt sein kann. Beim Transport mittelst Wagen ist Ueberfüllung und ein Herausfallen der Kinder zu verhüten. Vor dem Frühunterricht hat keine Beschäftigung zu erfolgen. An heißen Tagen ist seitens der Arbeitgeber für genügendes Getränk zu sorgen.“ (Zitirt bei Agahd, a. a. O., S. 423.)

Es sind wohl die Zustände auf den Rübenplantagen unserer Zuckerfabriken, welche die anhaltische Regierung zu ihrem Einschreiten bewogen. Ueber diese Zustände schreibt Schippel:

„Zu manchen Arbeiten werden überhaupt nur Kinder verwendet, z. B. für das ‚Rübenzupfen‘ das Herausziehen der überflüssigen kleinen Rüben. Man denke sich Kinder von 6–14 Jahren täglich 12–18 (!) Stunden auf dem Boden hockend, vornüber gebeugt, so daß ihnen das Blut zum Kopfe schießt. Ein Erwachsener hält diese Stellung keine zehn Minuten aus; was Wunder, wenn die Kinder nach Schluß der wochenlangen Arbeit geistig anormal zurückkommen, ganz abgesehen von den Krankheiten, die sie sich durch die Feuchtigkeit des Bodens holen, der sie unmittelbar ausgesetzt sind. Und zu dieser Arbeit geben die Schulen noch Ferien, die sogenannten ‚Rübenferien‘! ‚Diese‘ – schreibt man der Preußischen Schulzeitung über den Merseburger Bezirk – ‚sind für die Schule eine wahre Plage. Wenn die Kinder tage- und wochenlang, je nach der Größe der Ortsrübenfelder, in fast sansculottenhafter Kleidung – wobei Zucht und Schamhaftigkeit in dem massenhaften Zusammensein beider Geschlechter in die Brüche gehen – mit dem Gesicht der Erde nahe auf dem Acker herumgekrochen sind und dann wieder in die Schule kommen, so sind sie so abgemattet, so dumpf- und stumpfsinnig und geistesschwach, daß alle geistige Anregung und Aufrüttelung durch den Unterricht anfangs vergeblich ist. Das Gesicht ist aufgedunsen, der Blick stier, die Haut von der Sonnenhitze aufgeplatzt, die Hände sind von dem langen Krabbeln in der Erde aufgeborsten und der Schmutz hat sich in Wunden und Poren so fest eingefressen, daß ein wiederholtes Waschen mit der schärfsten Seife die Hände noch nicht gleich weiß macht. In Folge des fortwährenden thierischen Kriechens auf allen Vieren ist die Rückenwirbelsäule zu einer geraden und straffen Haltung beim Sitzen und Stehen schwer zu bewegen.‘ Reichen die Kinder im Orte nicht aus, so stellen die Gutsbesitzer Agenten an, welche auf den Kinderfang in die benachbarten Orte gehen und denen sie außer dem Tagelohn 5–10 Pfennig für jedes eingefangene Kind zahlen. Dieser Fang wird mit allen Mitteln der Lockung und des Betrugs betrieben. Den Kindern wird Limonade, Kuchen und Bier versprochen; dann werden sie, auf Wagen geladen, mit einer Musikbande voran, in das betreffende Dorf entführt. Der tägliche Verdienst eines Kindes beträgt 50 bis 80 Pfennig, dafür haben die Kinder eine unmenschlich lange Arbeitszeit; das Tagewerk dauert von 5 Uhr früh bis Abends gegen 9 Uhr. Sogar an Feiertagen wird gearbeitet! Wenn die Kinder aus fremden Ortschaften herbeigezogen und angelockt sind, so wird es 11 Uhr Nachts, ehe sie wieder nach Hause kommen – in welchem Zustand, kann man sich leicht ausmalen. “ (M. Schippel, Die deutsche Zuckerindustrie und ihre Subventionirten, S. 22, 23)

Wie sagt Kärger: „Eine ländliche Arbeiterfrage ist nur vom Standpunkt des Arbeitgebers vorhanden.“ Vielleicht hätten die Mittel und Hilfskräfte des Vereins für Sozialpolitik wenigstens soweit gereicht, einen Fragebogen an die anhaltische Regierung zu schicken. Bei der durften die Herren Geheimräthe sich doch Raths erholen!

Doch wir thun der Enquete Unrecht. Hin und wieder finden wir ein kräftig Wörtlein gegen die Kinderarbeit. So theilt z. B. Weber mit, „in einem Bericht über den Kreis Johannesbnrg wird konstatirt, daß die Arbeitszeit der Hütejungen ‚eine sehr lange‘ sei und ‚sehr zu ihrer Demoralisation beitrage.‘“ (Verhältnisse, III, S. 85) Ein Generalbericht aus Labian-Wehlau bezeichnet „das Hütekinderwesen als einen offen daliegenden, aber bei den Bauern schwer zu vermeidenden Mißbrauch, der zur Verrohung der Kinder führt“. (A. a. O., S. 128) Das stimmt ganz mit den Ausführungen Agahds:

„Die größten Schädigungen bringt das Hütewesen mit sich. Zahlenmäßig dargelegt worden ist das besonders von der pommerschen Lehrerschaft, wo 58 Referenten des Themas ‚Landwirthschaftliche Kinderarbeit‘ feststellten, daß von 3.275 Kindern 2.310 sittlichen Gefahren ausgesetzt waren, während man in 312 Fällen zweifelhafter Meinung war und für weitere 653 sie in Abrede stellte; daneben wurden für 1.382 Kinder gesundheitliche Gefahren befürchtet.“ (A. a. O., S. 414.)

Auch v. d. Goltz spricht von dem „sittlich und wirthschaftlich verderblichen Hütekinderwesen “. (Die ländliche Arbeiterklasse, S. 264)

Unsere Dichter haben uns den Hirtenknaben in poetischem Lichte gezeigt, und ehedem hat auch das Hirtenleben sicher seine Anregungen und seine Reize gehabt, als es galt, größere Mengen Vieh in Waldungen und unwirthliche Gegenden zu treiben, sie zusammenzuhalten und zu schützen gegen Gefahren aller Art. Das entwickelte Krast, Gelenkigkeit, Muth, Ausdauer, Scharfsinn. Heute hat der Hütejunge die Aufgabe, den ganzen Tag bei ein paar Stück Vieh auf einem Grasfleck zu kauern und zu sorgen, daß sie dessen Grenzen nicht überschreiten. Seine Intelligenz hat blos die Funktionen eines Zaunes zu erfüllen. Daß diese erzwungene Unthätigkeit und Bewegungslosigkeit alle möglichen schlechten und dummen Gedanken und Instinkte wachruft, ist begreiflich. Das Hütekinderwesen muß aus pädagogischen, wenn nicht aus hygienischen Rücksichten bekämpft werden.

Wie kommen aber die sozialpolitischen Landwirthe dazu, gegen das Hütekinderwesen Front zu machen? Woher diese Philanthropie? Sehr einfach :„Die Hütejungen werden überwiegend von Bauern beschäftigt, da der Großgrundbesitzer eigene Hirten hat.“ (Weber, a. a. O., S. 127.) Den Großgrundbesitzer jammert nicht das Loos der Kinder, sondern die Verschwendung dieser billige Arbeitskraft durch den Kleinbetrieb angesichts des Leutemangels:

„Wie viel nützlicher könnte die Kraft dieser Kinder verwerthet werden, wem sie bei Feldarbeiten beschäftigt würden; es käme dies nicht nur den Kindern und deren Eltern, sondern ebenso den landwirthschaftlichen Arbeitgebern zu Gute?“ (Goltz, a. a. O., S. 265.)

Das ist eine Kinderfreundlichkeit, die auf derselben Höhe steht mit der eines Berichterstatters aus Westfalen, der die dortigen Grubenbesitzer denunzirt, weil sie die Vorschriften über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter verletzen, und am liebsten diese gänzlich aus der Industrie ausschließen möchte:

„Würde in der Industrie mit aller Strenge darauf gesehen, jugendliche Arbeiter nicht vor 16 Jahren, und was noch günstiger wäre, nicht vor 18 Jahren anzunehmen, so wären die Letzteren gezwungen, bei den Landwirthen oder Handwerkern in Dienst zu treten, was sowohl der Landwirthschaft wie auch der Industrie selbst von großem Nutzen sein würde.“ (Verhältnisse, I, S. 140)

Gänzlich verhärtet in der Frage des Kinderschutzes sind also die von unseren Sozialpolitikern befragten Landwirthe doch nicht. Sobald der einseitige Kinderschutz Zutreiberdienste für die andere Seite leistet, ist er willkommen.

Besonders bedauernswerth gestaltet sich die Lage der lohnarbeitenden Kinder dort, wo sie Ortsfremde sind, gar Niemand haben, der ihnen als Schutz und Rückhalt dienen könnte, wo sie ihren Ausbeutern völlig wehrlos preisgegeben sind. Und das ist nicht selten der Fall. Wanderarbeit von Kindern ohne Begleitung Erwachsener kommt namentlich in Süddeutschland, Baden, Württemberg, häufig vor. In Tirol besteht ein eigener Verein – der „Hütekinderverein“ –, der sich mit dem Kinderhandel befaßt. In Vorarlberg bilden die „Schwabenkinder“ eine eigene Kategorie von Schulkindern; es sind jene, die vom zehnten Lebensjahr an die „Begünstigung“ genießen, vom 15. März bis Mitte November vom Schulbesuch befreit zu werden, um sich in den benachbarten Staaten als Landarbeiter zu verdingen. Ravensburg ist der Hauptmarkt, auf dem man im Frühjahr Hunderte von Kindern aus Tirol und Vorarlberg auftreibt, und sie an den Meistbietenden für den Sommer zu verkaufen. Die Verfrachtung der zarten Menschenwaare wird von den Dorfgeistlichen besorgt.

Welche Behandlung diesen völlig freundlosen, armen Kindern zu Theil wird, kann man sich denken. Die der Bauernschaft dienenden Bernischen Blätter für Landwirthschaft erklären in einem Artikel (1. September 1896) über Die landwirthschaftliche Arbeiterfrage, der Arbeitermangel auf dem Lande werde zum größten Theile verschuldet durch die schlechte Behandlung des Gesindes, namentlich der „Güterknaben“.

Auf gleicher Höhe der Humanität, wie der zeitweise Verkauf der Kinder ins Ausland, steht die Auslieferung der der Armenpflege anheimgefallenen Kinder an die Bauern, ein System, über dessen Gestaltung in der Schweiz ein sachkundiger Mitarbeiter der Neuen Zeit (XVII, 1, S. 197 ff.) unter dem Pseudonym Rustiens berichtet hat, das aber auch in Deutschland nicht unbekannt ist. Wie sich die Kinderschinderei unter dem Einfluß des bäuerlichen Milieus selbst in Erziehungsanstalten entwickelt, zeigt uns der eben erwähnte Artikel von Rustiens (S. 204) an einem drastischen Beispiel:

„Auf wie temperamentvolle Weise Mädchen in bernerischen Erziehungsanstalten für die höhere Landwirthschaft trainirt werden, hat sich bei Anlaß des Kriminalfalls Jordi (Straf- und Sexualmißbrauch von Pflegebefohlenen, Januar 1898) als beiläufiges Ergebniß der Untersuchung herausgestellt. Die Mädchen der Erziehungs- und Rettungsanstalt Kehrsatz bei Bern mußten nämlich im Sommer schon um 4 oder 4½ Uhr aufstehen, um Grünfutter zu laden. Sie mußten ferner die Viehställe ausmisten, Dünger laden, Jauche pumpen, an Abhängen statt des schweren Pfluges den Boden wenden (umgraben), im Thalgrund die Moosgräben räumen, rigolen &c. &c. Alles Arbeiten, welche so junge Kräfte übersteigen, zum großen Theile für Frauenarbeit selbst nach den landläufigen Ansichten des Kantons Bern nicht geeignet, in den Augen aller anständig denkenden Menschen aber eine Brutalität sind, so viel man auch über den ‚Segen der Arbeit‘ sprechen mag, welcher mit Bibel- und Gebetsprüchen kombinirt den ‚Keim des Bösen‘ ausrotten soll.“

Noch schlimmer, als mit den in noch einigermaßen patriarchalische Verhältnisse als Mitglieder des Gesindes verkauften Kindern steht es mit jenen, die als Sklaven eines Gangmeisters, eines Agenten, ihre Heimath verlassen, um unter seine Fuchtel zu frohnden. Wir kommen auf das Gangsystem und die Wanderarbeit überhaupt noch in einem anderen Zusammenhang zurück. Hier sei nur bemerkt, daß selbst Herr Kärger sich genöthigt sieht, zu erklären:

„Das ganz jugendliche Alter muß vor den Gefahren, welche die Sachsengängerei nicht nur für die Sittlichkeit, sondern bei der äußerst anstrengenden Arbeit in den Rübenwirthschaften auch für die Gesundheit des noch schwächlichen Körpers zur Folge hat, unbedingt geschützt werden.“ (Die Sachsengängerei, S. 207)

Angesichts aller dieser Thatsachen ist es nicht verwunderlich, daß nicht blos Theoretiker, sondern auch mit den landwirthschaftlichen Verhältnissen wohlvertraute „Praktiker“ energisch für den gesetzlichen Kinderschutz in der Landwirthschaft eintreten. So erklärte z. B. Dr. N. Meyer auf dem Züricher Arbeiterschutzkongreß:

„Der Herr Referent scheint zu glauben, Landarbeit sei den Kindern ganz gesund. Ich glaube, der Herr hat Norddeutschland, Böhmen und Ungarn, hat niemals die großen Zuckerrübenfelder, die weiten Kartoffeläcker dort gesehen. Er hat nie gesehen, wie die Kinder im Herbst in Nässe und Kälte von früh bis spät auf der Erde herumkriechen, um Runkelrüben zu beschneiden oder Kartoffeln auszugraben. Und es giebt viel mehr solcher Kinder, als die paar Fabrikkinder, um die Sie sich allein bekümmern.“

In der That zählte man im Deutschen Reiche 1882 460.474 erwerbsthätige Kinder unter 15 Jahren; davon waren 143.262 in Industrie, Bergbau und Bauwesen, und 291.289, also mehr als doppelt so viel in der Landwirthschaft beschäftigt. 1895 wurden zum ersten Male die erwerbsthätigen Kinder unter 14 Jahren und die unter 12 Jahren besonders gezählt. Es waren im Ganzen 214.954 Kinder unter 14 Jahren erwerbsthätig, darunter 135.125 in der Landwirthschaft. Von den 32.398 erwerbsthätigen Kindern unter 12 Jahren entfielen auf die Landwirthschaft nicht weniger an 30.604. Alle diese Zahlen sind nur als Minimalzahlen aufzufassen. Die Zahl der thatsächlich erwerbsthätigen Kinder wird auf weit mehr veranschlagt, eine Million und darüber. v. d. Goltz schätzt allein die Zahl der Hütekinder in Ostelbien auf 50.000 bis „weit über 100.000“. (Die ländliche Arbeiterklasse, S. 265) Immerhin sind die Zahlen der Berufsstatistik bezeichnend für das Verhältniß zwischen industrieller und landwirthschaftlicher Kinderarbeit.

Die Ausbeutung der Kinder in der Landwirthschaft ist also weitverbreitet, der Schutz der Kinder dringend geboten.

Die Frage der Kinderarbeit ist jedoch keine ganz einfache, wie Bernstein schon unmittelbar nach dem Züricher Kongreß in einem höchst beachtenswerthen Artikel über Den Sozialismus und die gewerbliche Arbeit der Jugend (Neue Zeit, XVI, 1, S. 87 ff.) hervorgehoben.

Die produktive körperliche Arbeit der Kinder enthält eilte Reihe wichtiger erziehlicher Momente. Gerade im Entwicklungsalter wird nichts schädlicher, als einseitige geistige Arbeit. Ausgiebige körperliche Bethätigung ist unerläßlich. Und wer in diesem Alter nicht lernt, körperlich zu arbeiten, der wird sich später nur schwer dazu bequemen, nie jene Vertrautheit mit der Arbeit und jene Gewandtheit erlangen, die demjenigen eigen, der sie von Kindheit an getrieben. Aber in der produktiven Arbeit liegt auch ein starkes ethisches Moment; es ist nicht gleichgiltig, ob die Kinder als Parasiten der Gesellschaft aufwachsen oder als nützliche Mitglieder derselben. Der Bourgeoissohn, der in den Jahren, in denen der Charakter sich bildet, ganz von der Arbeit Anderer lebt, entpuppt sich, wenn er dann plötzlich gezwungen wird, auf eigenen Füßen zu stehen, nur zu leicht als charakterloser Schwächling, als Kriecher und Schürzenstipendiat, der nach wie vor durch die Gunst Anderer, nicht durch eigene Kraft seinen Weg bahnen will. Im Proletarier dagegen erweckt die frühzeitige Nothwendigkeit, produktiv zu arbeiten, für sich, mitunter sogar noch für Andere zu sorgen, ein Gefühl der Verantwortlichkeit, aber auch der eigenen Kraft.

Die großen Utopisten des Sozialismus, die gleichzeitig auch große Pädagogen waren, wollten denn auch die Jugend frühzeitig zur Arbeit herangezogen haben. John Bellers wie Fourier lassen die Kinder schon zwischen dem vierten und fünften Jahre nützliche Arbeiten verrichten. Robert Owen vom achten Jahre an.

Sie begegnen sich in diesem Bestreben mit den industriellen Kapitalisten. Aber was in den Gesellschaftsplänen der sozialistischen Utopisten eines der wirksamsten Mittel der Erhebung und Veredlung der Menschheit, wird in der kapitalistischen Wirklichkeit eines der wirksamsten Mittel zur scheußlichsten Degradirung des arbeitenden Proletariats. Den Beweis dafür brauchen wir nicht anzutreten, er ist seit dem Wirken Owens selbst unzählige Male geliefert worden.

So steht die kapitalistische Gesellschaft vor dem Dilemma, entweder die Jugend dem Kapital preiszugeben und so die Arbeiter der Zukunft, damit aber auch die Zukunft der Arbeiterklasse dem Ruin entgegenzuführen oder für die Jugend produktive Arbeit auszuschließen, damit aber die Bildung ihres Charakters wie ihrer Arbeitstüchtigkeit aufs Ernstlichste zu gefährden.

Innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise ist die völlige Lösung dieses Widerspruchs, damit aber auch eine völlig befriedigende Erziehung der Masse der Bevölkerung unmöglich.

Die kapitalistische Gesellschaft, soweit ihre einsichtigsten und unbefangensten Vertreter über das kurzsichtige Fabrikanteninteresse obsiegen, begnügt sich mit einem Kompromiß; sie streicht die produktive Arbeit vollständig aus dem Erziehungsplane der Jugend bis zu einem gewissen Alter (zwölftes bis vierzehntes Jahr), um von da an die Erziehung des heranwachsenden Proletariers für abgeschlossen zu erklären und ihn ausschließlich der produktiven Arbeit, das heißt heute der kapitalistischen Ausbeutung, zu überlassen.

Die Sozialdemokratie hat bei ihrem praktischen Eingreifen auf diesem Gebiete sich bisher fast vollständig auf den Boden dieses Kompromisses gestellt. Sie unterschied sich von der arbeiterfreundlichen Bourgeoisie im Wesentlichen nur dadurch, daß sie rein mechanisch die Altersgrenze für das völlige Verbot der Kinderarbeit möglichst hoch hinaufzuschieben trachtete. Aber je weiter man dabei geht, je mehr man sich dem Ziele nähert, die produktive Arbeit für die Jugend erst im Alter der Reife beginnen zu lassen, desto weiter entfernt man sich von jeder Möglichkeit, der produktiven Arbeit auf die Bildung des Charakters und der Arbeitstüchtigkeit des heranwachsenden Geschlechts einen Einfluß zu gestatten; man entgeht der Scylla, um in die Charybdis zu gerathen.

Es dürfte kaum im Interesse der Arbeiterklasse liegen, die Altersgrenze, bis zu der die Kinderarbeit absolut verboten ist, über das heute schon vielfach erreichte Niveau des vierzehnten Lebensjahres hinaus zu erstrecken.

Je niedriger man aber diese Altersgrenze festsetzt, um so strenger werden die Bestimmungen zum Schutze der arbeitenden Kinder sein müssen – und den Begriff „Kinder“ nehmen wir hier im weitesten Umfang, bis zum achtzehnten Lebensjahr. In einer Zeit, in der die Intensität der Arbeit auf der einen Seite, auf der anderen das Bedürfniß der Arbeiter, sich als Menschen außerhalb der Arbeit zu bethätigen, namentlich sich zu bilden, so stark gestiegen ist, daß allenthalben der Ruf nach achtstündiger Arbeitszeit für die Erwachsenen ertönt, erscheint uns die gleiche Arbeitszeit für die jugendlichen Arbeiter zu lang. Wir hätten es vorgezogen, wenn der Züricher Kongreß, statt die Altersgrenze, bis zu der jegliche Erwerbsarbeit verboten ist, zum fünfzehnten Jahre hinauszuschieben, für die jugendlichen Arbeiter die vierstündige Arbeitszeit gefordert hätte. Das System, das heute in den englischen Textilfabriken für die Kinder bis zum vierzehnten Jahre gilt, die nur eine halbe Schicht, 4½ Stunden im Tage, beschäftigt werden dürfen, sollte für die jugendlichen Arbeiter bis zum achtzehnten Jahre in Wirkung gesetzt werden.

Je niedriger die Altersgrenze, von der an die Beschäftigung der Kinder gestattet wird, desto strenger muß aber auch die Gesetzgebung verfahren in der Ausscheidung jener Betriebszweige und Arbeitsarten, in denen die Anwendung von Kindern und jugendlichen Arbeitern unbedingt auszuschließen ist, desto strenger auch in der Ausarbeitung der hygienischen Vorschriften für die Arbeit, und desto mehr muß sie die Gewerbeinspektion vervollkommnen, desto zahlreicher und unabhängiger müssen die Inspektoren sein, desto wichtiger wird es, daß neben dem Techniker auch der praktische Arbeiter, der Arzt und der Pädagog in der Inspektion zum Worte kommen.

Daß dies nicht alles blos für die Fabrik zu gelten hat, sondern ebensosehr für Handwerk und Hausindustrie, wo die Kinderarbeit weit grauenhaftere Zustände geschaffen hat, als in jener, ist selbstverständlich.
 

d) Die Schule

Aber das Bestreben, die Kinderarbeit so rationell zu gestalten, als in der heutigen Gesellschaft möglich, darf, wenn es sein Ziel erreichen will, sich nicht auf die Arbeitsstätte beschränken, es muß naturnothwendig auch die Schule in sein Bereich ziehen, Unterricht und Arbeit in Beziehung zu einander bringen, beide einander anpassen. Hier tritt deutlich die Kluft zwischen der Sozialdemokratie und dem reaktionären, kleinbürgerlichen christlichen „Sozialismus“ zu Tage. Jede der beiden Parteien will die kapitalistische Ausbeutung eindämmen; aber diese, um die Entwicklung der Gesellschaft aufzuhalten, jene, um sie zu beschleunigen; diese, um die Proletarier, wenn schon nicht zu kleinbürgerlichen Existenzbedingungen, so doch zu den Denkweisen des kleinbürgerlichen Mittelalters zurückzuführen; jene, um ihre Existenzbedingungen und ihre Denkweise auf eine höhere Stufe zu heben, die sie befähigen, über die kapitalistische Gesellschaft hinaus vorwärts zu schreiten. Dazu bedarf die Sozialdemokratie ebensosehr der modernen Schule, als die Christlichsozialen ihr feindlich gegenüberstehen müssen.

Wir gehören keineswegs zu jenen, die den Einfluß der Schule überschätzen. Nichts irriger, als die Ansicht jener, die meinen, demjenigen gehöre die Jugend, also die Zukunft, dem die Schule gehört. Was uns bildet, ist nicht die Schule allein, sondern das gesammte Leben, von dem die Schule nur ein kleiner Theil. Wo die Lehren der Schule mit den Lehren des Lebens in Konflikt kommen, trägt letzteres den Sieg davon. Mag die Schule noch so fromm und byzantinisch sein, wo das Leben Materialismus und Demokratie lehrt, wird sie weder Mucker noch Kriecher erziehen. Wo die Lehren der Schule in Konflikt mit denen des Lebens kommen, ist ihre einzige Wirkung die, daß sie die Kinder schädigt, indem sie ihre Zeit vergeudet und alle ihre erzieherischen Einwirkungen auf das Kind in ihr Gegentheil verkehrt; aber den Herrschenden, deren Gewalt sie sichern soll, nützt sie da blutwenig.

Ebenso wenig ist die Schule im Stande, und wäre sie die beste, zur geistigen und sittlichen Hebung der Menschheit viel beizutragen, wenn nicht das gesammte Milieu sie dabei unterstützt. Die Reform der Gesellschaft kann nicht von der Schule ausgehen.

Wohl aber bedarf jede Gesellschaftsform, jede Klasse einer besonderen Art des Unterrichts und der Erziehung, ohne die sie nicht gedeihen, ihre Aufgaben nicht völlig lösen kann, und insofern ist die Gestaltung des Schulwesens keine gleichgiltige Sache.

Wir haben durchaus keine Ursache, zu glauben, daß den modernen Durchschnittsmenschen seine Schulkenntnisse intellektuell und moralisch über den Naturmenschen erheben. Es dünkt uns eher, daß die Sänger und das Publikum der homerischen Gedichte und der Edda nicht nur durch ihr ästhetisches Empfinden, sondern auch durch moralische Kraft, Intelligenz, Verständniß der Natur und des Menschen die Sänger und das Publikum der modernen Volkspoesie weit überragten. Sie bedurften der Schule nicht, um Geist und Sinne zu schärfen und zu veredeln, um Wissen zu erlangen. Das öffentliche Leben der Gemeinde, das seit Jahrtausenden in demselben Geleise sich bewegte, lehrte sie alles, was sie brauchten; die mündliche Mittheilung und die persönliche Beobachtung waren völlig genügend, um jedem Durchschnittsmenschen alle Anregung, alles Wissen der Gesellschaft zugänglich zu machen.

Heute, im Zeitalter des Weltverkehrs, im Zeitalter der ständigen Revolutionen – nicht blos politischer, sondern vor Allem technischer und kommerzieller – vollzieht sich das gesellschaftliche Leben in Dimensionen und Sprüngen, denen jeder hilflos gegenübersteht, der blos auf mündliche Mittheilung und persönliche Beobachtung angewiesen ist. Lesen, Schreiben, Rechnen, die Elemente der Naturwissenschaft, der Geographie und Statistik, der politischen Geschichte, sind unbedingt nothwendig für jeden, der sich im gesellschaftlichen Getriebe zurechtfinden soll. Dieses Schulwissen bietet, namentlich in der Form, in der es heute gelehrt wird, für sich allein weit weniger Anregung und sichere Einsicht, als das Wissen, welches durch mündliche Tradition und persönliche Beobachtung ehedem auf offenem Markte verbreitet wurde; das Schulwissen ist nur ein dürftiges Surrogat für die lebendige Anschauung, und die gewöhnliche Volkslektüre, billige Sensationszeitungen und Schundromane, wirkt auch eher verdummend, als erhebend, indeß die Beobachtung der Natur, mit der man kämpfte, die Erzählung des Gastfreundes, der aus der Ferne kam, stets den Geist anregte, das Wissen vermehrte. Aber immerhin, wenn auch die Ersetzung der lebendigen Anschauung durch das Schulwissen an sich noch nicht die moralische und intellektuelle Ueberlegenheit des Kulturmenschen gegenüber dem Naturmenschen bedeutet, so ist für jenen dieses Wissen doch eine unentbehrliche Vorbedingung geworden, soll er seine Aufgaben erfüllen. Das Leben der Kulturmenschheit ist ein so ungeheuer ausgedehntes geworden, räumlich und zeitlich, daß es für kein Individuum, und sei es das begabteste, arbeitskräftigste, möglich ist, es ganz durch persönliche Anschauung zu begreifen. So wichtig diese ist, sie wird stets nur ein Stückchen des Lebens umfassen, den Rest kann man blos durch die Mittel des Schulwissens kennen und erkennen lernen.

Für einzelne Individuen wie für ganze Nationen ist es heute unmöglich, im Konkurrenzkampf sich zu behaupten und den Anforderungen der modernen Kultur gerecht zu werden, ohne ein gewisses Maß der Schulbildung. Das, was die jetzige Volksschule bietet, reicht um so weniger aus, je mehr die moderne Gesellschaft sich entwickelt; die Verbesserung und Erweiterung der Volk~schule, die Anfügung eines allgemeinen Fortbildungsunterrichts für einige Jahre über das 14. Lebensjahr hinaus sind unerläßlich.

Bei Bemessung der gestatteten Ausdehnung der Kinderarbeit ist neben dem hygienischen auch das pädagogische Moment zu berücksichtigen. Die Kinderarbeit muß auch über das 14. Jahr hinaus in Schranken bleiben, die einen regelmäßigen, ausgiebigen und fruchtbringenden Schulbesuch ermöglichen.

Aber die Schule dient nicht blos dem Unterricht, sondern auch der Erziehung.

So lange das gesellschaftliche Leben ein öffentliches war, bot dieses alle erziehlichen Momente, die für die Zwecke der Gesellschaft nothwendig waren. Die Gesellschaft der Gleichen, der Gleichaltrigen, bei Spiel und leichter Arbeit, das Vorbild der Erwachsenen, die Mithilfe bei ihrem Thun, die Lehren der Greise genügten, die sozialen Tugenden zu entfalten. Heute ist, namentlich für die Kindheit und besonders in den Städten, an Stelle des öffentlichen Lebens das Familienleben getreten. Es ist nicht mehr die Gesellschaft, es sind angeblich die Eltern, die die Kinder erziehen. Aber den Eltern fehlen dabei alle die pädagogischen Faktoren, die das Leben in der Gesellschaft, das Leben unter Gleichen bietet; das Kind lernt von den Eltern im besten Falle Gehorsam, nicht aber Kameradschaft, Gemeinsinn, Selbständigkeit. Und wie viele Eltern haben die Fähigkeit und auch die Möglichkeit, ihre Kinder zu erziehen? Die Berufsarbeit nimmt sie ausschließlich gefangen. Aber die Familie in der Stadt raubt dein nicht nur die Gesellschaft der Gleichen, sondern auch die nützliche Beschäftigung, namentlich für die Knaben. Ist die heutige Familie von der Gesellschaft getrennt, so auch von der Arbeit. Wenn die Kinder nicht mit an die Erwerbsarbeit gehen, verlieren sie alle die erziehlichen Einflüsse des Vorbildes der Arbeit und der Mithilfe dabei.

Hier tritt die Schule ein; sie vereinigt wieder die isolirten Kinder und bietet ihnen dadurch das mächtige Mittel der Erziehung durch Gleiche. Und gleichzeitig auch eine planmäßige, durchdachte Beschäftigung durch Uebergeordnete. Soll aber diese Beschäftigung ihre volle pädagogische Wirkung äußern, dann muß sie eine allseitige sein, dann muß sie die Kinder nicht blos mit todtem Schulwissen, sondern auch mit lebendiger Menschlichkeit erfüllen, dann muß der Lehrer den Kandern nicht blos im Unterricht näher treten, sondern auch beim Spiel und bei der Arbeit, das heißt, bei einer Thätigkeit, die im Unterschied von Spiel und Unterricht sofortige, sichtbare Resultate zeitigt, einer Thätigkeit, die einen auch für das Kind sofort erkennbaren Zweck in sich trägt und durch die Freude am Geschaffenen Freude am Schaffen und Selbstbewußtsein erweckt. Muß für die reifere Jugend die Schule der produktiven Arbeit beigeordnet werden, so sollte die produktive Arbeit der Schule auch in den ersten Jahren des Schulbesuchs nicht fehlen, nicht blos aus ökonomischen, sonder auch aus pädagogischen Rücksichten.

Für jenes Lebensalter, für das die Lohnarbeit vollständig ausgeschlossen ist, wird die Verbindung des Unterrichts mit produktiver Arbeit, die Verbindung der Schule mit Lehrwerkstätten und Lehrgärten, in denen die einfachsten Manipulationen verschiedener Handwerke und der Pflanzenproduktion gelehrt und geübt werden, unerläßlich, so unerläßlicher, je höher diese Altersgrenze hinaufgesetzt wird.

Man sieht, die Frage der Kinderarbeit birgt zahlreiche Problem; mit dem einfachen mechanischen Hinausschieben der Altersgrenze für die Lohnarbeit zu einer möglichst großen Höhe ist sehr wenig gethan.

Die Frage der Kinderarbeit nimmt aber wieder besondere Formen an, wenn man sich von der Industrie zur Landwirthschaft wendet. Für die Gewöhnung an die Arbeit und die Erlangung der nöthigen Fertigkeiten ist in der Landwirthschaft die frühzeitige Mithilfe der Kinder bei der Arbeit noch unerläßlicher, als in der Industrie; bei der letzteren reduziren Arbeitstheilung und Maschine die Arbeit des Einzelnen in der Regel auf einige wenige Handgriffe, die weder außerordentliche Körperkraft noch Geschicklichkeit erfordern, deren Erlernung freilich völlig Ungeübten immer noch schwer genug fällt. In der Landwirthschaft giebt es eine Mannigfaltigkeit von Verrichtungen, welche Sorgsamkeit, Geschick und oft auch Körperkraft und Abhärtung gegen klimatische Einflüsse erfordern, die früh geübt sein wollen. Der heutige städtische Arbeiter ist für die Landwirthschaft unbrauchbar.

Dagegen besteht auf dem Lande nicht das Dilemma, das in der Stadt besteht, daß das Verbot der Lohnarbeit für die Kinder heute fast allgemein auch das Verbot jeglicher produktiven Arbeit für sie bedeutet, daß das Verbot, sie kapitalistisch auszubeuten, auch das Verbot in sich schließt, ihre Arbeitsfähigkeit zu entwickeln und den erziehlichen Einfluß einer für die Gesellschaft nützlichen Thätigkeit auf sie einwirken zu lassen.

Auf dem Lande ist jede Haushaltung heute mit einem landwirthschaftlichen Betrieb verbunden. Auch der Lohnarbeiter dort treibt Landwirthschaft für sich, wenn er eine eigene Familie hat. Die Kinder sind da keineswegs auf die Lohnarbeit bei Fremden angewiesen, um sich wirksam zu bethätigen. Das Verbot der Lohnarbeit der Kinder bedeutet unter diesen Umständen wirklich nur das Verbot, sie kapitalistisch auszubeuten. Hat man in der Industrie das Verbot der Lohnarbeit der Kinder bis zum 14. Jahre ausgesprochen, so darf man es eher noch in der Landwirthschaft aussprechen. Die Wanderarbeit der Kinder ist aber jedenfalls noch bis zu einem höheren Lebensalter zu verbieten. Ist sie doch, namentlich in der Form des Gangsystems, die scheußlichste, demoralisirendste Form der Lohnarbeit.

Mit diesem Verbot ist aber auch auf dem Lande die Frage der Kinderarbeit nicht gelöst. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß auf dem Lande die Arbeit im elterlichen Betrieb dem Kinde genügende Gelegenheit zur Bethätigung giebt. Diese Gelegenheit wird aber oft zur Abrackerung und Ueberbürdung der Kinder durch die Eltern selbst ausgenützt. Die möglichste Steigerung der Arbeit der eigenen Kinder ist, wie in der Hausindustrie, so in der Landwirthschaft, eine der Methoden, durch die der Kleinbetrieb noch seine Existenz fristet. Wie wichtig sie für den Bauern geworden ist, zeigt das auf dem Lande so mächtige Streben nach Verkürzung der Schulzeit.

Diesem Streben darf auf keinen Fall nachgegeben werden. Gerade auf dem Lande ist eine Verbesserung und Erweiterung des Schulwesens besonders nothwendig. Schon im Interesse der Landwirthschaft selbst. Die moderne Produktionsweise hat in der Industrie die Arbeit des Handarbeiters aufs Aeußerste vereinfacht. Nicht so in der Landwirthschaft, die immer komplizirter wird, deren Geräthe immer empfindlicher werden, deren Methoden immer mehr Intelligenz und Einsicht erfordern. Gerade die Landwirthschaft braucht also immer mehr intelligente Arbeitskräfte und gerade ihr fließen sie am wenigsten zu. Wir haben schon im ersten Abschnitt bemerkt, wie das Land geistig verödet; seine begabtesten Arbeiter fliehen in die Stadt; und während diese mit ihren Zeitungen, Vereinen, Versammlungen, Museen &c. unzählige Anregungen und Behelfe der Fortbildung über die Schule hinaus bietet, ist auf dem Lande kaum etwas vorhanden, was dem Verkümmern des dürftigen Schulwissens beim erwachsenen Landmann entgegenwirken würde. Um so wichtiger wird auf dem Lande ein ausgiebiger Schulunterricht, nicht nur bis zum 14. Jahre, sondern darüber hinaus, ein Unterricht, der in sich selbst die Triebfeder zu weiterer Fortbildung trägt.

Der Landmann verlangt nach vermehrter Kinderarbeit. Er verlangt um so mehr darnach, je rarer die Lohnarbeiter auf dem Lande werden. Er braucht aber eine höhere Bildung. Letztere ließe sich ohne Verlängerung der Schulzeit, ja sogar bei einer Verkürzung derselben wenigstens bis zu einem gewissen Grade, dadurch erreichen, daß an Stelle des in ethischer, pädagogischer wie wissenschaftlicher Beziehung völlig nutzlosen, ja schädlichen Religionsunterrichts ein Unterricht in den Elementen jener Disziplinen gesetzt würde, die ein rationeller Betrieb der Landwirthschaft voraussetzt (Chemie, Mechanik, Botanik, Zoologie, Geographie) und deren Kenntniß dem Landwirth eine eventuelle Fortbildung ermöglichen würde.

Aber gerade jene Parteien, welche die Rettung der Landwirthschaft in Erbpacht genommen haben, sind dieselben, die, wo die Gelegenheit günstig, auf Verringerung der Zeit der Schulpflicht, allenthalben aber auf eine Verdrängung des ohnehin so dürftigen Realunterrichts durch vermehrten Religionsunterricht hinstreben, der doch in der Volksschule jetzt schon dominirt. Wenn es Parteien giebt, die das Gedeihen der Landwirthschaft ihren kulturwidrigen Augenblicksinteressen aufopfern, so sind diese „staatserhaltenden“, „christlichen“ Parteien.

Am schlimmsten treiben es in dieser Beziehung die ultramontanen Oesterreichs. Aber auch in Deutschland und auch an protestantischen Pfäfflein kann man ähnliche Beobachtungen machen. Da hat z. B. ein Thüringer Landpfarrer ein Buch über die Bäuerliche Glaubens- und Sittenlehre geschrieben, in dem er sich über die Wirkungen der Neuschule auf die Bauern höchst n günstig äußert:

„Unmittelbar ins Irrenhaus führt jetzt die Leserei: wohl seltener einen Bauer, er wird schon in der Schule an dieselbe gewöhnt. Dafür aber scheint mir von dieser Seite her eine allzu wenig beachtete sehr große Gefahr zu drohen, nämlich daß wenigstens mit durch das viele Lesen als Bildungsmittel, wie durch die jetzige Schulbildung überhaupt, dem Landmann schon in der Kindheit und Jugend die Uebung in der Handarbeit und, was noch wichtiger, die Lust und Freude an, die Zufriedenheit mit seinem Stande benommen wird ... Auf der Hand liegt doch auch für den unbefangenen Beobachter, wie Knaben und Mädchen, die, abgesehen von Kleinkinder- und Fortbildungsschule, vom sechsten bis zum vierzehnten Jahre zu den ‚Büchern‘, an und von den ländlichen Arbeiten abgehalten werden, mit ‚allerlei‘ Wissen vollgepfropft und zu halben Gelehrten (!) dressirt worden sind, nachher an der Beschäftigung mit Acker, Vieh und sonstiger Landwirthschaft keinen Geschmack finden und, wie mir das namentlich bei eifrigen und tüchtigen Schülerinnen entgegengetreten ist, sehr ungern die Schule verlassen und mit heimlichem Widerwillen sich in das Schicksal fügen, nun Vater und Mutter helfen zu sollen. Sehr begreiflich doch auch, daß durch die ‚Bildung‘ in der Schule nicht nur die rechte, d. h. frühzeitige Einübung in die landwirthschaftlichen Arbeiten behindert, sondern auch, zumal bei geistig regen Kindern, ein Sehnen nach dem in den ‚schönen Geschichten‘ der Jugend- und Volksschriften geschilderten schweiß- und schwielenlosen, reicheren und genußvolleren Leben, dem sogenannten ‚Vielbesserhaben‘ der anderen Stände geweckt und genährt wird! Schließlich wird den Bildungsfanatikern noch das Licht aufgehen, vielleicht in schauerlicher Weise aufgehen darüber, daß dieIntelligenzim Volke auch ihre sehr dunkle Schattenseite hat. Denn heutigestags geht es mit Dampf, auch im Ziehen von Folgerungen, und wenn der unbefriedigte Landwirth aus Unbefriedigtheit mit seinem Zustande zum ‚Freisinn‘ oder ‚Fortschritt‘ neigt und hält, so liegt folgerichtig dem ärmeren Landmann die Sozialdemokratie weit näher. ‚Das liegt jetzt in der Luft‘, sagte ein alter erfahrener Gemeindevorsteher; er fügte hinzu: ‚sonst dachten die Leute nicht nach über solche Sachen, sondern nahmen alles und ließen sich’s gefallen, wie es war; jetzt vergleichen sie ihre Verhältnisse mit denen anderer Leute und fragen sich: Warum sollen es denn die besser haben als wir?‘“

Zynischer kann man es wohl nicht aussprechen: weil höhere Bildung die Leute zu Sozialdemokraten macht, ist dem Volke die Unwissenheit zu erhalten. Was thut’s, wenn die unwissenden Bauern noch weit weniger im Stande sind, rationell zu wirthschaften, als die wissenden! Nicht wohlhabende, sondern unterthänige Bauern brauchen wir, und darum her mit Gesangbuch und Katechismus und weg mit dem Bischen naturwissenschaftlicher und sozialer Bildung, das durch die Dorfschule in die Köpfe der Dorfkinder einsickert.

Kein Wunder, daß unser Bauernfreund es mit Befriedigung verzeichnet, daß die Schulfreundlichkeit der Bauern im Abnehmen begriffen ist. (Zur bäuerlichen Glaubens- und Sittenlehre. Von einem thüringischen Landpfarrer. S. 24, 26. Vergl. auch die Ausführungen über den „Bildungsschwindel“, S. 97)

Aehnlich äußerte sich in der Enquete des Vereins für Sozialpolitik über die Verhältnisse der Landarbeiter ein Berichterstatter aus dem Regierungsbezirk Wiesbaden. Es habe zwar im Folge der verbesserten Schule die Bildung der Landarbeiter zugenommen, aber auch ihre Rohheit – andere Berichterstatter behaupten das Gegentheil. Diese Rohheit soll die Frucht des vielen Zeitungslesens sein.

Aus derselben vorwiegend kleinbäuerlichen Gegend wird aber auch gemeldet, daß der Besuch der ländlichen Fortbildungsschulen, die in den siebziger Jahren noch stark frequentirt wurden, ein viel schwächerer geworden ist. (Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland, II, S. 54, 61, 63)

Dabei ist auf dem Gebiete des ländlichen Fortbildungsschulwesens so gut wie alles zu thun, wie folgende Uebersicht über die Verhältnisse in Preußen zeigt:

 

  

Zahl der ländl.
Fortbildungs-
schulen im Winter
1896/97

  

Unter-
haltungs-
kosten
Mk.

  

Zahl
der Schüler

  

Zahl der jungen
Burschen auf
dem Lande von
14–18 Jahren

Ostpreußen

  64.000

Westpreußen

    8

  1.265

       91

  47.000

Brandenburg

    1

       50

       26

  65.000

Pommern

    3

     150

       25

  45.000

Posen

  21

  1.441

     213

  57.000

Schlesien

  33

  5.297

     910

131.000

Sachsen

  41

  4.932

     735

  65.000

Schleswig

  50

  5.027

     394

  36.000

Hannover

133

14.753

  1.982

  70.000

Westfalen

    8

  1.430

     188

  77.000

Hessen-Nassau

320

27.812

  4.518

  48.000

Rheinprovinz

206

26.132

  3.791

121.000

Hohenzollern

  51

  3.519

     504

    2.600

Summa

875

91.808

13.317

828.600

Der Gesammtaufwand für diese Schulen belief sich auf 91.808 Mark, wovon ganze 33.174 Mark durch den Staat aufgebracht wurden! Ungefähr so viel, wie ein paar Schüsse ans einer großen Kanone kosten.

Und dabei wirft man Unsummen hinaus für die „Rettung der Landwirthschaft“. Freilich, zur Hebung der Grundrente tragen Fortbildungsschulen nichts bei.

Der Bauer ist den Fortbildungsschulen gegenüber in einem argen Dilemma: je unwissender er bleibt, desto irrationeller sein Betrieb, desto weniger ist er in der Lage, auch nur das bischen technischen Fortschritts zweckmäßig anzuwenden, das ihm in seinen kleinen Betrieb einzuführen möglich. Je höher aber seine Bildung, desto härter empfindet er den Existenzkampf, der ihn zur Ueberarbeit und zur Herabschraubung seiner Lebenshaltung nöthigt, desto eher wendet er seinem Beruf den Rücken.

Das ist sehr unangenehm für jene, die die jetzige bäuerliche Betriebe als die festeste Stütze der heutigen Gesellschaft erhalten wollen, nicht für die Vertreter des gesellschaftlichen Fortschritts. Ist die bäuerliche Wirthschaft unvereinbar mit den Ansprüchen einer höheren Kultur, wie sie ein ausgiebiger und zweckmäßiger Schulunterricht erzeugt, so spricht das gegen erstere, nicht gegen letzteren. Die Verbesserung des Schulunterrichts muß dort, wo der bäuerliche Betrieb noch verbesserungsfähig, seine rationellere Gestaltung zur Folge haben; wo die Verhältnisse das nicht gestatten, da muß die höhere Schulbildung dahin führen, daß die Bevölkerung sich von der bäuerlichen Wirthschaft mehr und mehr abwendet: in dem einen wie in dem anderen Falle erweist sie sich als ein Faktor des ökonomischen Fortschritts.

Der Schulunterricht hat aber noch eine andere gute Seite. Er setzt da ein, wo die Kinderschutzgesetze versagen, er ist in der Landwirthschaft wie in der Hausindustrie bisher schon ein treffliches Mittel gewesen, der übermäßigen Abrackerung der Kinder in der eigenen Familie entgegenzuwirken, was um so höher zu schätzen ist, je mehr die Gesetzgebung sich scheut, in das innere Leben der Familie einzugreifen. Aber auch für die Eindämmung der Lohnarbeit der Kinder auf dem Lande wird der Schulzwang selbst dann nicht zu entbehren sein, wenn die Kinderarbeit vollständig verboten werden sollte. Bei den großen Entfernungen und der Zerstreuung der Arbeiter über große Flächen wird die Kontrolle von Arbeiterschutzgesetzen in der Landwirthschaft viel schwieriger sein, als in der Großindustrie. Eine rücksichtslose Durchführung des Schulzwangs würde aber die Lohnarbeit der Kinder zumeist auf Dimensionen reduziren, in denen sie sich nicht mehr lohnte.

Es ist bezeichnend, daß das unseres Wissens einzige Arbeiterschutzgesetz für die Landwirthschaft, der englische Agricultural Children Act von 1874 die Kinderarbeit nur indirekt durch den Schulzwang unterdrückt hat. Nach diesem Gesetz dürfen Kinder unter acht Jahren überhaupt nicht im Ackerbau beschäftigt werden. Vom achte bis zum zehnten Jahre darf man sie nur beschäftigen, wenn sie nachweisen, daß sie 250 Mal im Jahre die Schule besucht haben; vom zehnten bis zwölften Jahre werden nur 150 Schulbesuche im Jahre verlangt. Alle Gangs sind verboten. So dürftig diese Bestimmungen, die auch noch einige Durchlöcherungen erfahren haben, so bewirkten sie doch ein Zusammenschrumpfen der Arbeit von Kindern unter zwölf Jahren auf ein Minimum.

Die Schule, sowohl die Elementarschule, wie die Fortbildungsschule, hat auf dem Lande eine noch größere Mission, als in der Stadt. Die Bestrebungen zum Schutze der arbeitenden Kinder haben vor Allem ihrem Ausbau sich zuzuwenden.

Verbot der Lohnarbeit von Kindern bis zum vierzehnten Jahre; Verbot der Arbeit von 7 Uhr Abends bis 7 Uhr Morgens für alle Kinder und jugendlichen Personen ohne Ausnahme; Verbot der Wanderarbeit jugendlicher Personen; Verbot der Ausnahmen vom Schulzwang, die durch Erwerbszwecke motivirt werden; ausreichende obligatorische Fortbildungsschulen für jugendliche Personen, das sind die Forderungen, die in Bezug auf die ländliche Kinderarbeit aus der sozialdemokratischen Sozialpolitik sich ergeben.
 

e) Frauenarbeit

Kürzer können wir uns fassen über die Frage der Frauenarbeit. Deren Entwicklung in der Landwirthschaft läuft keineswegs parallel mit der in der Industrie. Wir haben hier ein deutliches Beispiel davon vor uns, wie wechselnd die Arbeitstheilung unter den Geschlechtern ist, wie die Grenzen zwischen den Gebieten der Frauenarbeit und denen der Männerarbeit sich ununterbrochen verschieben, wie wenig s~ also am Platze ist, diese Grenzen als natürliche, das heißt im Verhältniß zu den gesellschaftlichen Einrichtungen „ewige“ zu betrachten.

In den Anfängen des Feldbaues fällt dieser ausschließlich der Frau zu, indeß die Jagd und dann auch die Viehzucht vom Manne betrieben werden. Je größere Bedeutung der Feldbau für die Gesellschaft erhielt, desto angesehener ward die Frau in der Familie und der Gesellschaft, deren Haupternährerin sie wurde. (Vergl. darüber die interessante Abhandlung von Cunow, Die ökonomischen Grundlagen der Mutterherrschaft, Neue Zeit, XV, S. 106 ff.) Aber als der Feldbau anfing, die Jagd und auch die Viehzucht in den Hintergrund zu drängen, mußte auch der Mann sich damit abgeben. Je mehr der Ackerbau sich entwickelte, desto seßhafter wurde aber auch die Bevölkerung, aus dem engen Zelte wurde das feste geräumige Halls mit ansehnlichem Haushalt. Die Arbeit der Frau für diesen wuchs und nahm sie bald völlig in Anspruch, die ehedem rein weibliche Kunst des Feldbaues, deren Erfindung nicht umsonst Griechen und Römer weiblichen Gottheiten zuschrieben, wurde zu dem Geschäfte der Männer.

Lippert fragt sich, wieso es komme, daß im jüdischen Mythus der Ackerbau von Anfang an von Männern, Adam, Kain, Noah, geübt werde, und meint, das rühre daher, daß die Juden das Stadium der Erfindung des Ackerbaues nicht durchmachten, sondern ihn gleich auf einer hohen Stufe kennen lernten, als sie im Stadium des beduinenhaften Nomadenthums Kanaan eroberten. (Vergl. Lippert, Kulturgeschichte der Menschheit, I, S. 447)

Dagegen wurde die Viehwirthschaft umsomehr das Geschäft der Frauen, je mehr die reißenden Thiere verschwanden, vor denen das Vieh zu schützen war, und je mehr das Vieh außer der Zeit des Weideganges in Ställen gehalten wurde, die Theile des Hauses bildeten.

Die kapitalistische Produktionsweise treibt die Frau wieder auf das Feld, theils durch Schaffung eines massenhaften ländlichen Proletariats, dessen Löhne so tief sind, daß der Erwerb des Mannes nicht ausreicht, die Familie zu erhalten, deshalb Weib und Kind zur Erhöhung des Lohnes mit herangezogen werden, natürlich mit dem Resultat, den Lohn des Mannes noch mehr zu senken; theils durch Verschlechterung der Lage der Bauern, die zur Fristung ihrer Existenz immer mehr gezwungen werden, aus allen ihren Arbeitskräften, aus Weib und Kind, herauszuschinden, was sich schinden läßt.

Wo es dem Bauern gut geht, beschränkt sich die Frau auf den Haushalt, der sie auch genügend beschäftigt. Dasselbe gilt auch von der Frau des ländlichen Tagelöhners. In Amerika nimmt sie nicht einmal an den Erntearbeiten Theil, trotz des Mangels an Lohnarbeitern.

„Nichts ist bezeichnender für die Anschauungen und Ansprüche der amerikanischen Farmerbevölkerung, als die Stellung ihrer Frauen. Die weiblichen Mitglieder der Familie des Farmers kümmern sich ausschließlich um den engeren Haushalt und überlassen alle groben Arbeiten den Männern ... Ueberaus selten sieht man in Amerika Frauen auf dem Felde arbeiten und kann dann jedesmal sicher sein, daß diese zur Familie eines eingewanderten Farmers gehören.“ (Sering, Die landwirthschaftliche Konkurrenz Nordamerikas, S. 180)

Statistisch ist diese Thatsache schwer zu erfassen, da ja die Berufsstatistik nur die Thatsache der Beschäftigung in einem bestimmten Beruf, nicht aber ihre Art feststellt. Immerhin ist es bezeichnend, daß unter den Landarbeitern in Deutschland 1895 auf 3.239.646 Männer 2.380.148 Frauen kamen, in den Vereinigten Staaten dagegen wurden 1890 als „farm laborers“ 2.556.957 Männer und 447.104 Frauen, als „laborers“ schlechthin (die auch vielfach Landarbeiter), 1.858.558 Männer und 54.815 Frauen verzeichnet.

Aber diese Tendenz ist nicht auf Amerika beschränkt. In England hat sich die Lage der Landarbeiter, dank der Abwanderung und Auswanderung, in den letzten Jahrzehnten im Großen und Ganzen gehoben, theils durch Erhöhung der Löhne, theils durch das Sinken der Lebensmittelpreise. Hand in Hand damit geht die Abnahme der Lohnarbeit der Frauen in der Landwirthschaft: „Das allgemeine Zurückziehen der Frauen von der Feldarbeit ist ein Beweis der Verbesserung der Lage der Arbeiter“, sagt der schon öfter zitirte jüngste Bericht der britischen Enquete über die Nothlage der Landwirthschaft. (S. 37)

Man zählte in Großbritannien (ohne Irland) Landarbeiter:

 

               

Männliche

  

Weibliche

1871

1.060.836

100.902

1891

   873.480

  46.205

Abnahme

   187.356

  64.697

Die Zahl der Männer verminderte sich um 18 Prozent, die der Frauen um 54 Prozent.

In Deutschland ist die Hebung der Lage der Landarbeiter weniger offenkundig; aber auch hier nimmt die Feldarbeit taglöhnender Frauen ab. So berichtet Weber aus Westpreußen: „Stellenweise ist die Frauenarbeit ganz verschwunden; die Frauen der freien Taglöhner suchen sie thunlichst zu meiden.“ Aus Ostpreußen: „Die Frauen der freien Taglöhner arbeiten fast durchweg nur sehr selten mit ... Die Frauenarbeit scheint überwiegend im Rückgang zu sein.“ Aus Pommern: „Der Rückgang der Frauenarbeit im Verhältniß zu 1849 ist offensichtlich“ u. s. w. (Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, S. 49, 185, 202, 377)

Die Entwicklung geht hier also keineswegs in derselben Richtung vor sich, wie in der Industrie, und das ist leicht erklärlich, Angesichts der großen Bedeutung, die auf dem Lande noch der private Haushalt hat, der hier die Hausfrau ganz anders in Anspruch nimmt, wie in der Stadt. Nur die bitterste Noth, die einerseits den Haushalt aufs Aeußerste reduzirt und anderseits zu maßloser Ueberarbeit zwingt, kann auf dem Lande die Frau des Taglöhners oder Kleinbauern zur Lohnarbeit auf dem Felde bringen. Es ist bezeichnend, daß englische Pächter als einen der Gründe der Abnahme der Frauenarbeit die Vermehrung der Sorge für die Kinder, denen die Lohnarbeit verboten wurde, bezeichneten. Das Unterrichtsgesetz „hat nicht nur die Kinderarbeit den Pächtern entzogen, sondern auch die Frauenarbeit; die Frauen bleiben jetzt zu Hause, beaufsichtigen die Kinder“ u. s. w. (Kablukow, Ländliche Arbeiterfrage, S. 102)

Da die Lohnarbeit der verheiratheten Frauen auf dem Lande eine Erscheinung ist, die in dem Maße verschwindet, in dem die Hebung der Landarbeiterklasse fortschreitet, bietet sie dort, wo die allgemeine Sozialpolitik stark genug, eine solche Hebung herbeizuführen, wenig Anlaß zu einer besonderen Schutzgesetzgebung.

Auch die Lohnarbeit der Mädchen bietet unseres Wissens in ihrer überwiegenden Form, der der Gesindearbeit, keine Veranlassung zu besonderen Schutzvorschriften, die nicht das gesammte Gesinde oder die gesammte Landarbeiterschaft überhaupt betreffen.

Wohl aber ist dies der Fall mit der Wanderarbeit der Mädchen.
 

f) Wanderarbeit

Ihre klassische Form fand die Wanderarbeit in dem jetzt verbotenen Gangsystem Englands. In seinem Kapital beschrieb es Marx folgendermaßen:

„Der Gang besteht aus zehn bis vierzig oder fünfzig Personen, nämlich Weibern, jungen Personen beiderlei Geschlechts (dreizehntes bis achtzehntes Jahr), obgleich Jungen meist mit dem dreizehnten Jahre ausscheiden, endlich Kindern beiderlei Geschlechts (sechstes bis dreizehntes Jahr). An der Spitze steht der Gangmeister, immer ein gewöhnlicher Landarbeiter, meist ein sogenanter schlechter Kerl, Liederjahn, unstet, versoffen, aber mit einem gewissen Unternehmungsgeist und savoir faire ... Der Gang zieht von einem Gute zum anderen und beschäftigt so seine Bande sechs bis acht Monate im Jahre. Die ‚Schattenseiten‘ des Systems sind die Ueberarbeit der Kinder und jungen Personen, die ungeheuren Märsche ... endlich die Demoralisation des Ganges ... Die Schwängerung dreizehn- und vierzehnjähriger Mädchen durch ihre männlichen Altersgenossen ist häufig. Die offenen Dörfer, welche das Kontingent des Ganges stellen, werden Sodoms und Gomorrhas und liefern doppelt so viel uneheliche Geburten als der Rest des Königreichs.“ (Marx, Das Kapital, 2. Auflage, I, S. 726–728)

Nicht viel besser sind manche Arten der deutschen Wanderarbeit. Hören wir nur einen unverdächtigen Zeugen, den warmen Lobredner der Sachsengängerei – so warm, als diese Institution es nur irgend verträgt –, den Dr. Kärger.

Die Sachsengänger sind Arbeiter aus armen, ökonomisch rückständigen Gegenden, die in die Gegenden des Zuckerrübenbaues, namentlich Sachsen ziehen, um dort Hack- und Erntearbeiten zu verrichten, für die die Rübenbauer gleich willige und billige Arbeitskräfte nicht in der Nähe finden. Angeworben werden diese Arbeitskräfte von Agenten, die mit dem Gangmeister eine auffallende Aehnlichkeit zu haben scheinen. Die Anwerbung findet im Wirthshaus statt, unter Anwendung aller möglichen Gaunerkniffe. Der Werbeagent zeigt ihnen, wenn er es mit recht dummen Leuten zu thun hat, recht ostentativ den Stempel des Vertrags, um dadurch den Anschein zu erwecken, als habe die Obrigkeit denselben gebilligt, engagirt sich womöglich vorher einen beider Sprachen (deutsch und polnisch) mächtigen Vertrauensmann, der in der Mitte der Arbeiter sich bewegend, von deren Standpunkt aus ihnen die Annahme des Vertrags plausibel zu machen und als Leithammel den Vertrag zuerst zu unterzeichnen hat.

„Leider kommt es in solchen Dörfern mit polnisch redender Bevölkerung manchmal vor, daß die Agenten den Leuten bessere Bedingungen angeben, als thatsächlich der Kontrakt enthält.“ (Die Sachsengängerei, S. 31)

Derselbe Agent, der die Arbeitsleute auf diese feine Weise anwirbt, bleibt ihr Aufseher bei der Arbeit und hat als solcher genügend Gelegenheit, sein Gaunergenie weiter zu bethätigen. Er beutet die Leute, die er im Kontrakt betrogen, noch durch ein verstecktes Trucksystem aus:

„So ist es denn in der That vorgekommen, daß der Aufseher Arbeiter, die beispielsweise nicht bei ‚seinen‘, d. h. den von ihm gegen das Zugeständniß von Vergünstigungen protegirten Kaufleuten kaufen wollen, bei Vertheilung der Arbeiten benachtheiligt hat, indem er ihnen, so oft es anging, nur unangenehme und schlecht lohnende Arbeiten zuwies ... Eine größere Gefahr noch erwächst den Sachsengängern dann, wenn der Aufseher auch die Vertheilung des Lohnes unter sich hat.“

Er unterschlägt ganz einfach einen Theil desselben, und zwar so allgemein, „daß auf manchen Gütern, wo es abgeschafft werden sollte, die Aufseher frecher Weise verlangten, es solle ihnen ein kleiner Prozentsatz des Gesammtlohns ihrer Leute von nun an rechtmäßiger Weise zufallen“. Vielfach hat man daher diese Art der Lohnzahlung abgeschafft.

Die Arbeiter, die unter der Aufsicht dieser Gentlemen stehen, sind vornehmlich Mädchen, „deren Anzahl regelmäßig die der Männer um ein Mehrfaches übertrifft“ (S. 43), und zwar meistens Mädchen im zartesten Alter. Auf vier sächsischen Gütern zählte Kärger 337 weibliche und 150 männliche Arbeiter. Von den Ersteren waren 48,3 Prozent ihn Alter von unter 20, 33,9 Prozent von 20–25 Jahren, zusammen also 82,2 Prozent unter 25 Jahre, 93,4 Prozent unter 30 Jahre alt. Leider hat Herr Kärger unterlassen, anzugeben, wie viele unter 16 Jahre alt waren; vielleicht hätte er es auch nicht erfahren, wenn er darnach gefragt hätte. Alle Geschäftsgeheimnisse werden die Zuckerfabrikanten selbst Herrn Kärger nicht verrathen haben.

Von den 150 Männern waren 32 Prozent unter 20, 19,3 Prozent 20–25 Jahre, 73,3 Prozent unter 30 Jahre alt.

Die jungen, sorglosen, weltfremden Mädchen ziehen in Banden, zusammen mit den jungen Burschen in die Welt, unter der Führung des uns schon als strenger Moralist bekannten Werbeagenten. Es liegt nahe, daß die Zustände, die sich da entwickeln, mit denen des englischen Gangsystems eine verhängnißvolle Aehnlichkeit aufweisen.

Und sie auf den Gütern unseres christlich-patriotischen Grundbesitzers an|gelangt, so haben sie keineswegs alle Gefahren hinter sich. Die Arbeit ist eine schwere, die Arbeitszeit eine unmenschlich lange. „Dieselbe fängt – soweit ich solche Kontrakte gesehen habe – im Westen ausnahmslos um 5 Uhr Morgens an und endet nach einer halbstündigen Frühstücks-, einer einstündigen Mittags- und einer halbstündigen Vesperpause, um 7 Uhr Abends. Doch wird überall die Ansetzung von Ueberstunden ausbedungen“ (S. 41), also die jungen Mädchen werden noch über 14 Stunden hinaus abgerackert. und wie Frauen arbeiten, darauf hat schon Marx hingewiesen:

„Die Pächter haben entdeckt, daß Frauenzimmer nur unter männlicher Diktatur ordentlich arbeiten, daß aber Frauenzimmer und Kinder, wenn einmal im Zuge, mit wahrem ungestüm, was schon Fourier wußte, ihre Lebenskraft verausgaben, während der erwachsene männliche Arbeiter so heimtückisch ist, damit, so viel er kann, hauszuhalten.“ (Das Kapital, I, 2. Auflage, S. 727)

Die Methoden der industriellen Antreiber, aus ihren Arbeitern möglichst viel Arbeit herauszuschinden, sind auch dem „patriarchalischen“ Regime wohlbekannt. Speziell bei jenen Arbeitszweigen, die den Wanderarbeitern zugewiesen werden, spielt die Mordarbeit der Akkordarbeit eine große Rolle. Aber die Ostelbier haben noch besondere geniale Methoden erfunden, um ihre Arbeiter zur Ueberarbeit anzutreiben. Davon giebt uns eine Andeutung Weber in seinem schon mehrfach zitirten Buche (S. 126, vergl. auch S. 286):

„Wiederholt wird konstatirt, daß die Arbeiter leichter durch die Gewährung von ‚Erfrischungen‘ (Schnaps), als durch Geld zur Ueberarbeit zu veranlassen seien, und aus dem Kreise Heiligenbeil wird als wesentliche Schattenseite der Ueberstundenarbeit hervorgehoben, daß die Arbeiter noch immer, wenn auch jetzt weniger an früher, durch den ‚verfluchten Schnaps‘ dazu bewogen werden müßten.“

Das heißt, unser christlich-germanischer Adel macht seine Arbeiter systematisch mit Schnaps besoffen, um sie zur Arbeit anzufeuern, ähnlich wie man im 17. und 18. Jahrhundert die Söldner vor einer Schlacht mit Schnaps berauschte, um sie zum todesmuthigen Dreinhauen zu begeistern. Man sieht, der preußische Schnaps hat nicht blos als Waare, sondern auch an Genußmittel seine profitliche Seite für den Junker.

Die Wanderarbeiter werden noch weniger geschont, als die einheimischen, ständigen Arbeiter. Mögen sie hinterdrein krank werden! Man hat sie nicht den Winter hindurch zu erhalten und nicht ihre Krankenkosten zu bezahlen.

Am schlimmsten aber sind die Behausungen, die den Wanderarbeitern zugewiesen werden. Es lohnt sich doch nicht, für diese feste Wohnungen zu bauen, die dann sieben bis acht Monate im Jahre leer stehen müssen. Je primitiver ihre Unterkunftsorte, desto besser. Herr Kärger ist zwar des Lobes voll über die Wohnkasernen, die man auf einzelnen Gütern für die Sachsengänger erbaut hat, als deren außerordentlichster Vorzug muß aber die dort keineswegs selbstverständliche Einrichtung gelten, daß die Geschlechter getrennt schlafen. Das wurde durch Polizeiordnung erzwungen.

In Ostelbien ist man nicht einmal so weit:

„Als Wohnungen werden (in Westpreußen) theils Baracken, theils Ställe und leere Scheunen zur Verfügnug gestellt, in welchen die Arbeiter zu zehn und mehr zusammenliegen. Ob die Trennung der Geschlechter – es sind die Hälfte, zwei Drittel, oft noch mehr Mädchen darunter – überall durchgeführt ist, ist nicht ersichtlich; auf den fortgeschritteneren Gütern wird es wohl ebenso der Fall sein wie anderwärts.“ (Weber, a. a. O., S. 240, vergl. auch S. 275)

Wie weit man diese Erwartung theilen darf, erhellt daraus, daß Weber wellige Seiten zuvor selbst darüber klagt, daß nicht einmal in den Wohnungen der ständigen Instarbeiter Gelegenheiten zur Trennung der Geschlechter vorhanden. „Die Familie muß die Wohn- und Schlafstube mit fremden Scharwerkern theilen.“ (S. 183)

Nicht im „Zukunftsstaat“, nein im Gegenwartsstaat, dort, wo die christlich-germanische Zucht und Ehrbarkeit noch völlig unangetastet ist vom sozialdemokratischen Gift, dort, wo unsere Edelsten und Besten am ungehemmtesten schalten und walten, dort finden wir die Karnickelwirthschaft, von du Vertheidigern der Familie und Ehe selbst produzirt, indem sie zur Minderung der Produktionskosten von Schnaps und Zucker ihr menschliches Arbeitsvieh ohne Unterschied des Alters und Geschlechts in ihren Viehställen zusammenpferchen.

Daß diese skandalösen Zustände nach Abhilfe durch die Gesetzgebung schreien, wird heute auch von bürgerlichen Sozialpolitikern anerkannt.

Vor Allem mußte man das Verbot der Wanderarbeit für minderjährige Mädchen verlangen. Herr Dr. Kärger freilich will davon nichts wissen und er hat seine guten Gründe:

„Der Vorschlag, minderjährigen Mädchen die Abwanderung ganz zu verbieten, entspringt der Hoffnung, dadurch die Gefahren der Entsittlichung in etwas zu vermindern. Aber einmal glaube ich, daß der Prozentsatz der ihre Tugend preisgebenden Mädchen durch jene Maßregel kaum vermindert würde, da der Versuchung zur Unsittlichkeit das bis zu einundzwanzig Jahren von den Eltern behütete und dann erst ins Leben hineingelassene Mädchen, wenn sie ihr nicht schon in der Heimath zum Opfer gefallen ist, kaum weniger siegreich widerstehen wird, als das jüngere Mädchen.“ (S. 206)

Der Satz ist nicht ganz einwandfrei gefaßt, aber wir schließen aus ihm, daß Dr. Kärger die Mittheilung von Marx, unter dem Gangsystem seien vierzehnjährige Mädchen von vierzehnjährigen Burschen schwanger geworden sehr kaltblütig aufnehmen würde. Ob das früher oder später passirt, das ist doch ganz egal.

Das Verbot der Wanderarbeit bekämpft er vor Allem im Interesse der Väter der Wanderarbeiterinnen. Was sollen diese armen Teufel mit ihren unmündigen Töchtern anfangen, wenn sie sie nicht in die Kontraktsklaverei verschachern dürfen?

„Was soll beispielsweise ein kleiner Besitzer der Landsberger Gegend, dem – um ein recht krasses Beispiel nehmen – das Schicksal sechs Jahre hintereinander jedes Jahr eine Tochter geschenkt, mit diesem Kindersegen anfangen, wenn die letzte 16 Jahre alt geworden ist?“

Daß dies Beispiel kraß ist, wollen wir nicht bestreiten. Sollte es auch für beweiskräftig angesehen werden, dann ist nicht minder beweiskräftig ein anderes Beispiel, das ebenso willkürlich gewählt, aber sicher nicht krasser ist. Wenn der kleine Besitzer seine sechs Töchter auf die Sachsengängerei schickt und jede mit einem unehelichen Kind heimkommt, was wird er wohl dann „mit diesem Kindersegen anfangen“?

Aber Dr. Kärger hat noch einen anderen triftigen Grund: Die Ausbeutung der Mädchen vom 16. bis 21. Jahr ist gerade die profitabelste für die rübenproduzirenden Landwirthe und Zuckerfabrikanten, das Verbot ihrer Anwendung „ist daher auch vom Standpunkte des Interesses der Rübenkultur zu verwerfen.“ Ein wahrer Kulturkampf, den unser edler Doktor für das Anrecht der Rübenkultur auf Prostituirung minderjähriger Mädchen kämpft, Indeß haben wir sozialdemokratischen Vandalen keinen Sinn für die Kultur der Rüben durch Unkultur der Menschen und fordern trotz alledem das Verbot der Wanderarbeit für minderjährige Mädchen.

Damit ist es freilich nicht gethan. Wenn ein 21jähriges Mädchen auch weniger leicht zu korrumpiren ist als ein 15–16jähriges, weil es erfahrener und sein Charakter gefestigter, so sind doch die Verhältnisse, unter denen die heutigen Wanderarbeiter leben, schlimm genug, um auch reifere Mädchen zu korrumpiren. Trotzdem ginge es zu weit, wollte man die gesammte Wanderarbeit verbieten. Das hieße einem großen Theil der arbeitenden Bevölkerung die Freizügigkeit nehmen und sie eines Mittels berauben, höhere Löhne zu suchen, als sie zu Hause erlangen können. Aber die Kontraktsklaverei und das Gangsystem sind keine nothwendigen Erscheinungsformen der Wanderarbeit. Sie sollten beseitigt werden. Am wirksamsten geschähe dies durch die Entwicklung der öffentlichen Arbeitsvermittlung, die den Menschenhandel der Agenten verdrängte.

Daß strenge Vorschriften, die menschenwürdige Behausungen erzwingen, gefordert werden müssen, bedarf nach dem Gesagten keines Beweises. Auch eine Verkürzung der unmenschlich langen Arbeitszeit ist unerläßlich.

Allerdings nicht blos für die Wanderarbeiter.
 

g) Der Normalarbeitstag. Die Sonntagsruhe

Hier sind wir bei der Frage des Normalarbeitstages angelangt, der Hauptfrage des Arbeiterschutzes.

Die Gegner der proletarischen Bewegung erklären gern, der Normalarbeitstag, dessen Zweckmäßigkeit, ja Nothwendigkeit in der Industrie sie nicht mehr bestreiten können, wenn sie auch meist gegen seine Verkürzung sich wehren, der Normalarbeitstag sei unverträglich mit den Lebensbedingungen der Landwirthschaft, der die Einförmigkeit der Industrie fehle, die abhängiger von äußeren Verhältnissen, von Wind und Wetter, Regen und Sonnenschein, sei, also beweglicher sein müsse und nicht in die Schranken eines Normalarbeitstages gepreßt werden dürfe.

Thatsächlich bedarf aber die Landwirthschaft weit geringerer Beweglichkeit als die Industrie. Der Arbeitsplan eines Gutes steht für das ganze Jahr fest, während der eines industriellen Unternehmens von Konjunktur zu Konjunktur wechselt. Niemand hat denn auch mehr gejammert, als die industriellen Unternehmer, daß der Normalarbeitstag es ihnen unmöglich mache, die Konjunkturen auszunützen, großen Bestellungen, die rasch effektuirt werden mußten, gerecht zu werden. Weit mehr noch als die Landwirthe verlangten sie nach der Beweglichkeit des Arbeitstages, um den wechselnden Bedürfnissen des Marktes zu genügen, der noch weit launenhafter ist, als Wind und Wetter. Und siehe, es ist doch gegangen, als es gehen mußte. Technisches Können und Organisationstalent haben alle Hindernisse überwunden. Der Normalarbeitstag hat dort, wo er in Wirksamkeit getreten ist, nicht die Industrie, sondern nur den Schlendrian in der Industrie getödtet.

Der Normalarbeitstag in der Landwirthschaft ist auch keineswegs ohne Beispiel. Ein gesetzlich festgesetzter Normalarbeitstag für sie ist uns allerdings nicht bekannt. Versuche, einen solchen durchzuführen, wurden freilich schon hier und da unternommen, theils unter dem Drucke empörter Landarbeiter, theils aus idealeren Beweggründen gerade von Ideologen des Agrarierthums, die mit den landwirthschaftlichen Verhältnissen wohl vertraut waren. In seiner Einleitung zu einer Abhandlung von H. Schumacher-Zarchlin, Zur Geschichte des Normalarbeitstages (in der Zeitschrift für Sozial- und Wirthschaftsgeschichte, VI, 1) bemerkte Dr. R. Meyer:

„Gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit der Männer ist zuerst 1848 in Mecklenburg durchgeführt worden. (Die Empörung der Hoftagelöhner führte dort zur Einsetzung einer Schiedskommission für strittige Verhältnisse der Hoftagelöhner (15. Mai 1848) durch landesherrliche Verordnung, welche Kommission auch die Arbeitszeit auf den großen Gütern regelte.) ... Seitdem wurde im Jahre 1869 durch die preußischen Konservativen Wagener und v. Brauchitsch der Versuch der Einführung des Normalarbeitstages gemacht, scheiterte aber am Widerstande des Herrn Stumm ... Mit Herrn Schumacher habe ich 1872 auf der Konferenz ländlicher Arbeitgeber eine Resolution durchgebracht, welche den gesetzlichen Normalarbeitstag für Landarbeiter forderte, und 1874 oder 1875 den Entwurf zu einem Gesetze, das die Arbeit Erwachsener auf 56½ Stunden ganz allgemein in Stadt und Land beschränkt, gemeinsam mit Wagener verfaßt und Bismarck mitgetheilt.“

Diese Bestrebungen blieben ohne Ergebniß. Aber die ökonomische Entwicklung hat seitdem zu Gunten des Normalarbeitstages au dem Lande gearbeitet.

Die Technik des Großbetriebs hat auch in der Landwirthschaft eine größere Regelmäßigkeit der Arbeiten mit sich gebracht, als dies ihn Kleinbetrieb herkömmlich ist, und der wachsende Druck der Landarbeiter ist ebenfalls in dieser Richtung wirksam.

Erinnern wir uns der täglichen Arbeitszeit auf den Rübengütern, die für die Sachsengänger kontraktlich festgesetzt wird: Das ist doch nichts Anderes als ein Normalarbeitstag. Auch Weber theilt mit, daß die Tendenz zur Festsetzung eines Normalarbeitstages im Wachsen ist. So berichtet er aus Litauen:

„Die wirksamste Verkürzung der Arbeitszeit: Beginn der Arbeit zu einer festen, nach Sonnenaufgang liegenden Stunde, ist vielfach erst neueren Datums und in den südlichen Kreisen erst auf einem Theil der Wirthschaften eingeführt. Die Stunde schwankt in diesen Fällen von 5 und 6 Uhr Morgens. Stellenweise ist auch schon eine feste, von der Sonnenuntergangszeit abweichende Schlußstunde (7 bis 8 Uhr Abends im Sommer) durchgedrungen.“ (A. a. O., S. 48)

Aus dem Regierungsbezirk Königsberg: „Wo die Arbeit im Sommer noch mit Sonnenaufgang beginnt, ist dies meist bei den mittleren Besitzern der Fall; die großen Güter sind meist bereits zu festen Anfangsstunden, 5, 5½6 übergegangen.“ (S. 121) Aus Masuren: „In einer relativ großen Zahl von Fällen ist der Beginn der Arbeit im Sommer bereits an eine feste Stunde geknüpft worden, und mehrfach ist dies auch mit der Schlußstunde geschehen.“ (S. 84)

Dabei betont Weber, daß die Abneigung der Landarbeiter gegen Ueberstunden wächst. Wir haben also die Anfänge eines Normalarbeitstages in der Landwirthschaft auch in Deutschland bereits vor uns, und wenn diese Anfänge noch so dürftig sind, ist daran weniger die Eigenart der landwirthschaftlichen Produktion, als die große Abhängigkeit der landwirthschaftlichen Arbeiter schuld, deren Macht nur gering ist, eine Verkürzung der Arbeitszeit und eine regelmäßige Innehaltung derselben zu erzwingen.

Um so mehr haben ihre Genossen in der Industrie die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß die Gesetzgebung ihnen bringt, was sie aus eigener Kraft nicht erringen können.

Die Bestimmung der Grenze des landwirthschaftlichen Normalarbeitstages geht über den Rahmen der vorliegenden Arbeit hinaus; wie in der Industrie wird wohl auch in der Landwirthschaft die jeweilig praktisch erreichbare Grenze ziemlich verschieden sein, um so mehr, da sie nicht blos durch objektive technische Faktoren, sondern auch durch sehr subjektive Machtfaktoren bestimmt wird. Wir sehen aber keinen Grund, warum nicht in der Landwirthschaft ebenso wie in der Industrie der achtstündige Arbeitstag das Ziel der Arbeiterbewegung in Bezug auf die Länge des Arbeitstages schon in der kapitalistischen Gesellschaft sein sollte.

Man mag einwenden, daß die landwirthschaftliche Arbeit unter hygienisch viel günstigeren Bedingungen vor sich geht, als in der Industrie – hier einförmige Arbeit in geschlossenen, oft von giftigen Gasen erfüllten Lokalitäten, dort wechselvolle Arbeit in frischer Luft. Dieser Unterschied trifft in der Mehrzahl der Fälle zu, aber dafür ist auch die Position des Lohnarbeiters in der Stadt eine andere als auf dem Lande. Dort ist der Haushalt, wie wir schon oft hervorgehoben, mit einem landwirthschaftlichen Betrieb nothwendig verbunden. Der Taglöhner, der von der Lohnarbeit heimkommt, hat sein Tagwerk nicht beendet, er muß noch seine kleine Landwirthschaft besorgen, den Stall reinigen, Futter für die Kuh holen, das Kartoffelland umgraben &c. Nimmt die Lohnarbeit den ganzen Tag ein, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, dann bleiben ihm für seine eigene Wirthschaft nur die Nächte und der Sonntag.

Wie für die verheirathete Fabrikarbeiterin ist für den Taglöhner auf dem Lande die Zeit der Lohnarbeit nicht gleichbedeutend mit der Arbeitszeit. Und jede Besserstellung des Landarbeiters geht Hand in Hand mit der Vermehrung seiner Arbeit für die eigene Wirthschaft. Das wird sich so bald kaum ändern. Die Reduzirung der Lohnarbeit des Landarbeiters auf acht Stunden bedeutet also noch lange nicht eine Bevorzugung gegenüber dem städtischen Arbeiter.

Wenn wir den Normalarbeitstag in der Landwirthschaft ebenso für durchführbar halten, wie in der Industrie, so besagt das noch nicht, daß er hier wie dort in völlig gleicher Weise durchführbar sei. Die Länge des natürlichen Tages wirkt in der Landwirthschaft ganz anders auf die Länge des Arbeitstages ein, als in der Industrie, in der auch bei künstlichem Licht gearbeitet wird. Andererseits steht der Industrie eine ganz andere Reservearmee zu Gebote, als der Landwirthschaft. Es wird also wohl nothwendig werden, statt einen gleichmäßigen Normalarbeitstag für das ganze Jahr festzusetzen, ihn für die verschiedenen Jahreszeiten verschieden zu bestmmen, etwa, wenn wir an dem Achtstundentag als Durchschnittsnorm festhalten wollen, den Arbeitstag für den Winter auf sechs und den Sommer auf zehn Stunden zu fixiren. Auch werden Ueberstunden bei Elementarereignissen und für manche dringende Erntearbeiten zu gestatten sein. Doch brauchen wir uns darüber nicht den Kopf zu zerbrechen. Kommt es einmal zur Festsetzung des landwirthschaftlichen Normalarbeitstages, dann werden die Interessenten schon für seine nöthige Elastizität sorgen. Die Aufgabe der Sozialdemokratie wird dann nicht dahin gehen, auf diese Elastizität bedacht zu sein, sondern darauf, daß sie nicht zur Willkür wird, die jede Beschränkung der Arbeitszeit illusorisch macht.

Aber wenn wir auch zugeben, daß der Normalarbeitstag in der Landwirthschaft nicht genau so aussehen kann wie in der Industrie, so sind uns doch keine Eigenthümlichkeiten in der Landwirthschaft bekannt, die die Beschränkung des ländlichen Normalarbeitstages auf den Großbetrieb rechtfertigen würden, wie der Züricher internationale Arbeiterschutzkongreß beschlossen hat. Daß der Kleinbetrieb im Allgemeinen viel salopper wirthschaftet als der Großbetrieb, daß bei ihm die strenge Innehaltung einer regelmäßigen Arbeitszeit, die für den Großbetrieb technische Nothwendigkeit, nur durch äußeren Zwang erreichbar ist, das gilt in der Industrie ebenso wie in der Landwirthschaft. Wenn die Sozialdemokratie trotzdem den Normalarbeitstag für das Handwerk in gleicher Weise wie für die Fabrik verlangt, darf sie wohl auch für den Lohnarbeiter des Großbauern dasselbe Recht fordern wie für den des Rittergutsbesitzers. Es ist keineswegs ihre Aufgabe, dem Kleinbetrieb eine privilegirte Stellung gegenüber dem Großbetrieb einzuräumen.

Aber wenn wir uns für die Beschränkung des Normalarbeitstages auf den Großbetrieb in der Landwirthschaft nicht erwärmen können, so sei damit nicht gesagt, daß wir den Normalarbeitstag auf jede Art ländlicher Arbeit anwendbar halten. Man wird wohl eine Unterscheidung machen müssen, aber nicht die von Großbetrieb und Kleinbetrieb.

Die Sozialdemokratie fordert den Normalarbeitstag für jede Art Lohnarbeit, nur für eine nicht: die Arbeit im Haushalt. Sie macht diese Ausnahme nicht deshalb, weil das Hausgesinde einer Verkürzung seiner Arbeitszeit nicht bedürfte, sondern weil die Bedürfnisse des Haushalts ihre Beschränkung auf bestimmte Stunden des Tages schwer zulassen. Dies gilt für den Haushalt auf dem Lande ebenso wie für den in der Stadt. Auf dem Lande ist der Haushalt aber innig mit dem landwirthschaftlichen Betrieb oder wenigstens mit gewissen Seiten desselben verknüpft. Je enger ein Arbeitszweig auf dem Lande mit dem Haushalt verbunden ist, desto schwieriger wird es sein, ihn dem Normalarbeitstag zu unterwerfen. Man wird also die einzelnen Arbeitsarten genau bezeichnen müssen, für die der Normalarbeitstag gilt. Im Allgemeinen wird man sagen können, daß die Feldarbeiten ihm eher unterworfen werden können, als die in Haus und Hof (namentlich die Wartung des Viehes), die Arbeiten der Taglöhner eher als die des Gesindes. Die Arbeiten der ersteren sind auch in der Regel bestimmte, gleichförmige, meßbare – Jäten, Mähen, Dreschen u. s. w. –, die des letzteren wechselnde, nicht leicht kontrollirbare.

Die Ueberarbeitung des Gesindes wird daher durch einen Normalarbeitstag nur unvollkommen verhindert werden. Der Normalarbeitstag ist die den Bedingungen der modernen Lohnarbeit entsprechende Form des Schutzes der Arbeitskraft. Zum Schutze des Gesindes, dieses Ueberbleibsels aus dem Mittelalter, müssen wir auf mittelalterliche Methoden zurückgreifen. Damals galt der natürliche Tag als der Arbeitstag; eine Beschränkung der täglichen Arbeitszeit gab es nicht, wohl aber eine Beschränkung der jährlichen Arbeitszeit durch zahlreiche Ruhetage, deren Veranlassungen natürlich, dem damaligen Denken entsprechend, den religiösen Ueberlieferungen entnommen wurden. Die Zahl der kirchlichen Festtage war Legion (vergl. S. 107). Der Kampf um die Arbeitszeit im Mittelalter war der Kampf um die Ruhetage – im Handwerk fügten die Gesellen den kirchlichen Feiertagen noch den blauen Montag hinzu. Die Niederwerfung der demokratischen Klassen durch den merkantilistisch-feudalen Absolutismus führte zu einer Verminderung der Feiertage, zunächst in den protestantischen, dann auch in den katholischen Ländern. Aber die Sonntagsruhe blieb.

Heute wird auch diese nicht mehr streng beachtet, am wenigsten von jener Bevölkerung, die noch am meisten an der Religion hält, der Landbevölkerung.

„Ich habe noch die Zeit gekannt“, klagt der uns schon bekannte „thüringische Landpfarrer“, „in welcher der Sonntag auf dem Lande ein evangelischer Sabbath war; etwaige unaufschiebbare Geschäfte auf dem Felde wurden in aller Frühe, spätestens vor 6 Uhr abgemacht; nur in eigentlichen Mißjahren kündigte der Pfarrer auf Antrag des Schulzen am Sonntagvormittag einmal an, daß der Mittagsgottesdienst ausfallen und die Feldarbeit gestattet sein solle. Ich habe auch Jahrzehnte durchlebt, in dem wohl ein Sonntagsgesetz auf dem Papier stand, aber durch die fast ausnahmslose Nachsicht der Behörden außer Kraft gesetzt war; ... mit dem Fortschritt in der Landwirthschaft, mit der Zunahme der Ernteerträge, mit der immer nervöseren Hast und Gier im Erwerben und mit dem gleichmäßigen Zurücktreten des altbäuerlichen Gottvertrauens, richtiger Gottergebenheit und Gottüberlassens, mehrte sich die Sonntagsarbeit von Jahr zu Jahr.“ (Zur bäuerischen Glaubens- und Sittenlehre, S. 296)

Er erwartete von einem neuen Gesetz über die Sonntagsruhe eine Verbesserung, aber bald war alles wieder beim Alten.

Nicht minder wie in den bäuerlichen, hat die Sonntagsarbeit in den Gegenden des Großgrundbesitzes zugenommen. Auch da spielt, wie bei den Ueberstunden, der Schnaps die Rolle des Antreibers. (Vergl. z. B. Weber, a. a. O., S. 289) Die Säulen der Frömmigkeit, die so eifrig darnach streben, dem Volke die Religion zu erhalten, feuern es mit Fusel an, die Gebote der Religion zu übertreten!

Ueber die Abnahme des Kirchenbesuchs brauchen wir uns nicht zu echauffiren, wohl aber müssen wir entschieden dahin wirken, daß die karge Ruhezeit, die dem Landarbeiter nach dem Herkommen noch geblieben, nicht auch verkümmert wird. Das strenge Verbot aller nicht unbedingt nöthigen Arbeiten am Sonntag, und die Sicherung jedes zweiten Sonntags an völlig freier Tag für das Gesinde sind unerläßlich, auch wenn in der Landwirthschaft ein Normalarbeitstag eingeführt wird. Sie sind jedenfalls leichter zu erlangen an dieser und um so entschiedener zu fordern.

In Bezug auf andere Bestimmungen zum Schutze der Arbeiter werden sich auf den meisten Gebieten die Probleme in der Landwirthschaft viel einfacher gestalten als in der Industrie. Die Anbringung von Schutzvorrichtungen bei Maschinen und das Verbot, ungeschulte, namentlich jugendliche Arbeitskräfte dabei zu verwenden, ist in der Landwirthschaft freilich ebenso unerläßlich wie in der Industrie. Dagegen spielt in jener die Nachtarbeit heute noch keine Rolle – mit dem Eindringen der Elektrizität in den Landwirthschaftsbetrieb dürfte sich das vielleicht ändern –, und besondere Vorschriften über Luftraum, Reinhaltung, Ventilirung der Arbeitslokale erfordert die Feldarbeit sicher nicht.
 

h) Die Wohnungsfrage

Dagegen erwachsen dem Arbeiterschutz in der Landwirthschaft größere Aufgaben als in der Industrie auf dem Gebiete der Wohnungspolizei. Es kann hier unsere Aufgabe nicht sein, die gesammte Wohnungsfrage aufzurollen; auch wollen wir durchaus nicht verhehlen, daß die Wohnungsmisère in den Städten ebenso grauenhafte Zustände zu Tage fördert, wie auf dem Lande; manche Theile der industriellen Bevölkerung wohnen womöglich noch schlechter als die ländliche; z. B. die Wohnungsstände in den Industriebezirken Nordböhmens, die Professor Singer aufgedeckt, können sicher an Scheußlichkeit den Vergleich mit allem aushalten, was die Pastoren Göhre, Quistorp, Wittenberg und Andere über die „ländlichen Hütten“ mittheilen. Der Dachraum, den Göhre sah, in dem vier einander fremde Ehepaare auf acht Strohsäcken schlafen, die auf der Erde liegen, ist nicht schlimmer, als jenes Zimmer einer Arbeiterkaserne in Trautenau, das Sieger des Nachts besuchte. Dieses „Zimmer von nur 15,2 Meter im Geviert enthielt ein Bett von gewöhnlichem Umfange, in welchem eine aus 5 Individuen (3 Erwachsene und 2 Kinder) bestehende Familie gelagert war. Die übrigen 9 Personen beiderlei Geschlechts lagen Jung und Alt dicht neben einander schlafend unmittelbar auf dem harten selbst nicht mit Stroh bedeckten Estrich u. s. w.“ (I. Singer, Untersuchungen über die sozialen Zustände in den Fabrikbezirken des nordöstlichen Böhmen, S. 186)

So schlimm ist’s natürlich nicht überall, aber überall unter den heutigen Lohnarbeitern kann man „das Mißverhältniß zwischen der Enge der Räume und der Zahl ihrer Bewohner“ als Regel konstatiren, das der Pastor Göhre in Chemnitz fand (Drei Monate Fabrikarbeiter, S. 21) und das dazu führt, daß Eheleute nicht nur mit halb oder ganz erwachsenen Kindern, sondern auch mit Fremden, Schlafburschen oder Schlafmädchen, die Wohnung, das heißt meist die Schlafstube, theilen.

Hier handelt es sich jedoch nicht um die Frage der Wohnungen der ärmeren Klassen überhaupt, sondern um jene Wohnungen, die einen Theil des Arbeitslohnes bilden. Solche Wohnungen Spielen auf dem Lande eine ganz andere Rolle als in der Stadt. In dieser ist das Wohnen des Lohnarbeiters in der Wohnung des Arbeitgebers ein rasch verschwindender Rest mittelalterlicher Handwerkssitte; auf dem Lande muß auch der modernste Großbetrieb mindestens für einen Theil seiner Arbeiter die Wohnungen beistellen. Im Handwerk und gar in der Großindustrie spielt die Arbeit des Gesindes keine Rolle mehr, ganz anders ist’s in der Landwirthschaft. Daneben kommen aber noch für diese in Betracht kontraktlich gebundene verheirathete Arbeiter mit eigenem Haushalt, aber in der Wohnung des Arbeitgebers lebend, Instleute, Rentengütler, die für ihre Wohnung kontraktlich eine Reihe von Arbeitstagen zu leisten haben u. dergl.

Die Wohnung ist aber dasjenige Gebiet der Lebenshaltung, auf welches der Arbeiter – das Wort hier im weitesten Sinne aller Klassen, die sogenannte Handarbeit leisten, genommen – das geringste Gewicht legt. Jede Einbuße an Nahrung fühlt er sofort an seinem Körper; er muß, um arbeitsfähig zu bleiben, tüchtig essen, namentlich derjenige, der schwere Arbeit in freier Luft leistet, wie der Landarbeiter. Andererseits sind die Genüsse des Gaumens, nicht blos des Essens, sondern auch des Trinkens und Rauchens, aus traditionellen und physiologischen Gründen ihm besonders naheliegend und leicht erreichbar und daher sehr geschätzt.

In der Kleidung wieder drückt sich der soziale Rang und das soziale Streben am deutlichsten aus. Jede Aristokratie und Hierarchie legt daher den größten Werth auf bestimmte Kleiderordnungen und Abzeichen für die einzelnen Stände und Rangklassen, die Ueberhebung der Soldateska äußert sich am deutlichsten in der Verehrung, die sie für die Uniform, den sogenannten „Rock des Königs“, verlangt. Wo kein Militarismus herrscht, wie in England, wo die Soldatenuniform ein Dienstkleid, kein Ehrenkleid, würde sich jeder Offizier lächerlich machen, der sich außerhalb des Dienstes in Uniform zeigte.

Hand in Hand mit den Fortschritten der Demokratie geht die Tendenz nach Aufhebung der Kleidungsunterschiede der verschiedenen Klassen, welche, wie sie gleich vor dem Gesetze sind, auch gleiches Ansehen in der Gesellschaft verlangen. Der Proletarier will außerhalb der Arbeit kein Zeichen seiner Lohnsklaverei tragen, sich von dem Bourgeois äußerlich nicht unterscheiden; er will am Sonntag ebenso gekleidet sein wie dieser. Das soziale Aufsteigen einer Proletarierschicht äußert sich vielleicht eher noch in Verbesserung ihrer Kleidung als ihrer Nahrung.

Dagegen auf die Wohnung wird der geringste Werth gelegt. Die physiologisch schädlichen Wirkungen schlechter Wohnungen äußern sich nicht so rasch und unmittelbar, wie die ungenügender Ernährung. Den Zusammenhang zwischen schlechter Wohnung und körperlichem Verfall zu erkennen, dazu gehören schon Beobachtungen und Kenntnisse, die demjenigen fern liegen, der sein ganzes Wissen, soweit es nicht auf persönlicher Erfahrung beruht, unserer Volksschule verdankt. Und was ist die Wohnung für die Masse der Arbeiter heutzutage? Eine Schlafstelle. Spät Abends kommt er todtmüde heim, um sich auf sein Lager hinzustrecken, früh Morgens verläßt er es, um an sein Tagewerk zu gehen. Zur bloßen Schlafstelle ist aber bald ein Raum gut genug.

Die Bedürfnißlosigkeit der Arbeiter in Bezug auf die Wohnungen wird selbst von den arbeiterfeindlichsten Oekonomen anerkannt. So viel sie auch zetern mögen über die Genuß- und Putzsucht der Arbeiter, über die Champagnergelage der Maurer und die Seidenkleider der Fabrikarbeiterinnen, über ihren Wohnungsluxus haben wir noch keine Klage gehört.

Dies ist der Punkt, in dem die proletarische Lebenshaltung sich von der bürgerlichen am weitesten scheidet, aber auch der Punkt, in dem der Arbeiter allen herabdrückenden Tendenzen den schwächsten Widerstand entgegensetzt, und gerade das ist der Punkt, in dem diese herabdrückenden Tendenzen am stärksten sich äußern. Die Preise der Fabrikartikel und auch vieler Lebensmittel sind dort, wo sie nicht künstlich (durch Schutzzölle oder Ringe) in die Höhe getrieben werden, im Sinken. Vergleicht man m diese mit den Geldlöhnen, dann kann man bei vielen Proletarierschichten eine aufsteigende Lebenshaltung konstatiren. Anders steht’s mit den Wohnungen. Während die landwirthschaftliche Grundrente sinkt, ist die städtische überall in raschem Wachsthum begriffen, das heißt, die Wohnungspreise in den Städten steigen rapid und zwingen den Arbeiter, entweder einen größeren Prozentsatz seines Lohnes auf Wohnungsmiethe auszugeben oder sich in Bezug auf die Wohnung immer mehr zu beschränken. Nicht besser steht es aber auf dem Lande, wo der Lohnarbeiter seine Wohnung in natura, als Theil seines Lohnes erhält. Je weiter verbreitet das System der Lieferung der Wohnung durch den Arbeitgeber, je größer der Drang nach Reduzirung der Produktionskosten, je zäher die Arbeiter jede Verkürzung ihrer Rationen oder Deputate an Lebensmitteln abwehren, je größer die Geldlöhne, die ihnen zu zahlen sind, desto stärker das streben, wenigstens die den Arbeitern gewährten Wohnungen zu verschlechtern, oder, wo dies nicht mehr möglich, jeglicher Verbesserung sich zu widersetzen.

Wenn aber die Wohnung derjenige Punkt der proletarischen Lebenshaltung ist, der einer Verbesserung am stärksten widerstrebt, in dem die Tendenz zur Verelendung am stärksten sich geltend macht, so ist sie andererseits wohl derjenige Punkt derselben, der den Proletarier am meisten herabdrückt. Unzureichende Wohnung führt nicht blos, wie unzureichende Nahrung, zu körperlicher Verkümmerung, sondern auch zur Verkümmerung der geistigen und moralischen Fähigkeiten, ja zur völligen Unterdrückung der zartesten Gefühle, die aus den intimsten Beziehungen entspringen. Wer die Schamlosigkeit und Rohheit verstehen will, die in den Verbrechervierteln der Großstädte herrscht, dem wird die Untersuchung der Wohnungen der Lumpenproletarier reichlichere Ausschlüsse geben, als die Untersuchung ihrer Schädelformen.

Aber in ähnlichen Lasterhöhlen, wie die ärmsten der großstädtischen Lumpenproletarier, wohnen die Wanderarbeiter und viele andere arbeitende Proletarier, Ehepaare mit ihren Kindern, Mädchen und Burschen, Kranke und Gesunde, alles bunt durcheinandergehudelt und eng aneinandergedrängt, um sich zu wärmen und in dem eigen Raume Platz zu gewinnen. Wie Lastthiere bei Tag geplagt, schlimmer als Lastthiere im Stalle hausend bei der Nacht – wo soll da etwas Anderes gedeihen können, als thierische Brutalität und Schamlosigkeit~~ und die Wohnungen der Fabrikarbeiter, wie sie die Norm sind – vergl. die oben erwähnte Schilderung Göhres – oder die Wohnungen der Instleute, die mit den Scharwerkern zusammen schlafen, sind gerade auch nicht geeignet, feinere Empfindungen auskommen zu lassen.

Aber zwischen Stadt und Land ist hier ein großer Unterschied vorhanden. Wenn die städtische Wohnungsnoth dahin wirkt, den Arbeiter zu degradiren und moralisch abzustumpfen, so entwickelt die Stadt auch Faktoren, die dem entgegenwirken und die Wirkungen der Wohnungsnoth nicht nur abschwächen, sondern stellenweise völlig überwinden. Schon die Arbeit führt in der Stadt die Arbeiter zusammen, nicht nur zum Schaffen, sondern auch zu gegenseitiger Anregung, zur Besprechung öffentlicher Angelegenheiten, wenigstens vor und nach der Arbeit und während der Pausen. Auf dem Lande zerstreut die Arbeit die Leute über große Flächen und isolirt Einen vom Anderen. In der Stadt bietet aber auch das Leben außer der Arbeit unzählige Anregungen, Vereine, Versammlungen, Schaustellungen, Museen, Theater – selbst die Kneipe wird zu einem Organ des öffentlichen Lebens, das ein Theil des städtischen Geistes durchfluthet; der Arbeiter liest dort Zeitungen und distkutirt das Gelesene. Der Einzelne entwickeln sich zu selbständigem Denken, er wird eine Individualität und beginnt als solche das Bedürfniß nach einem Heim zu empfinden, nach einer Oertlichkeit, in der er sich leben kann, seinen Freunden, seiner Lektüre, seinen Gedanken. Wenn die Anregungen der Stadt, wenigstens in einzelnen Schichten, namentlich der besser gestellten Elemente der Arbeiterklasse die degradirenden Wirkungen der Wohnungsnoth überwinden lassen, so entwickeln sie ebenfalls in diesen Schichten die „Begehrlichkeit“ auch in Beziehung auf das Wohnwesen und treiben den Arbeiter, daran ebenfalls höhere Ansprüche zu stellen.

Anders auf dem Lande. Keine Anregung giebt es dort, die den degradirenden Einflüssen der Wohnungsmisère entgegenwirkt. Die Arbeit isolirt die Menschen, wie wir gesehen, Vereine und Versammlungen sind fast unmöglich angesichts der ökonomischen Abhängigkeit der Landarbeiter, kein geistiges Leben irgend welcher Art erhebt den Arbeiter; als einziges Zentrum des öffentlichen Lebens dient die Kneipe, die aber die ganze geistige Verödung des flachen Landes wiederspiegelt und das Bischen geistiger Anregung, das sie bieten könnte, meist im Fusel völlig erstickt, so daß sie, weit entfernt, die herabdrückenden Wirkungen des Wohnungselends abzuschwächen, sie vielmehr verstärkt.

Treten demnach diese Wirkungen auf dem Lande noch krasser zu Tage, als in der Stadt, so ist das auch der Fall mit den besonderen Wirkungen, die das Wohnen in der Wohnung des Herrn, des Arbeitgebers, ausübt. In der Stadt werden auch diese Wirkungen durch das öffentliche Leben paralysirt. Mag der Bäcker- oder Schlächtermeister den Gesellen, die in seinem Hause schlafen, verbieten, sozialdemokratische Zeitungen heimzubringen, er kann ihnen nicht verbieten, sie in der Kneipe zu lesen, er kann sie nicht vom Besuche von Versammlungen während ihrer freien Zeit abhalten u. s. w. Auf dem Lande dagegen ist der Arbeiter, der auf dem Hofe des Grundbesitzers wohnt, nicht nur während der Arbeit, sondern auch außerhalb derselben zu willenloser Unterwerfung gezwungen. Sein geistiges Leben, sein politisches Verhalten, sein persönlicher Verkehr, alles wird überwacht; für ihn existiren keine Preßfreiheit, kein Koalitionsrecht (auch dort nicht, wo der Gesetzgeber es ihm gewährt), oft auch keine Wahlfreiheit bei allgemeinem Wahlrecht. Er unterscheidet sich von Sklaven nur dadurch, daß er den Sklavenhalter zeitweise wechseln, und dieser dafür ihn, wenn er arbeitsunfähig geworden, aufs Pflaster setzen kann.

So wichtig eine Verbesserung der Wohnungsverhältnisse in der Stadt ist, sie ist noch viel wichtiger auf dem Lande. Eine Arbeiterschutzgesetzgebung für die Landwirthschaft würde einer ihrer wichtigsten Aufgaben nicht gerecht werden, wenn sie nicht die Wohnverhältnisse in ihr Bereich zöge. Sie muß ein Minimum an sanitären Bedingungen für alle Wohnräume vorschreiben, die von den Arbeitgebern ihren Arbeitern an Theil des Lohnes zur Benützung überlassen werden.

Eine derartige Vorschrift, so weitgehend, wie die Grundsätze der Hygiene es gebieten, und dabei energisch und rücksichtslos durchgeführt, wäre von dem wohlthätigsten Einfluß auf dem Lande. Sie würde nicht blos die Wohnverhältnisse eines großen Theils der Landarbeiterschaft bedeutend verbessern, damit aber rückwirkend die ganze Lebenshaltung der Landbevölkerung heben, sie würde auch sich als mächtiges Mittel erweisen, mit den Ueberresten feudaler Arbeitsverhältnisse im 20. Jahrhundert aufzuräumen. Denn sie würde alle Landwirthe drängen, die Zahl der bei ihnen wohnenden Arbeiter aufs Aeußerste zu reduziren und so viel als möglich durch freie Taglöhner zu ersetzen. Die Verdrängung des Gesindes und der Instleute durch Taglöhner, die außer der Arbeit freie Männer sind, wäre aber ein großer sozialer Fortschritt.

Freilich wäre dieser soziale Fortschritt mit einem theilweisen technischen Rückschritt verknüpft. Denn will der Grundbesitzer die freien Taglöhner in seiner Gegend halten, dann muß er darnach trachten, daß sie eigene Haushaltungen einrichten, also ein Stück Land in Betrieb nehmen können, sei es eigenes oder gepachtetes. Der Rückgang der Zahl des Gesindes würde zu einer Vermehrung der Kleinbetriebe auf Kosten der Großbetriebe führen. Aber diese Vermehrung wäre doch vom technischen Standpunkt aus eine geringe, und käme gegenüber dem sozialen Fortschritt, der mit der Verdrängung der Reste der mittelalterlichen Hörigkeit durch die freie Lohnarbeit verbunden wäre, gar nicht in Betracht.

Aber wenn der freie Taglöhner auch sozial höher steht als der Knecht oder der Instmann, so fehlt ihm doch, wenn er ein eigenes Haus mit etwas Land dazu besitzt, die wichtigste Waffe des proletarischen Klassenkampfes auf dem Lande, die dort an Wirksamkeit die Koalitionsfreiheit überragt, die Freizügigkeit. Sein Besitz fesselt ihn.

Dieses Hinderniß zu beseitigen sehen wir nur einen Weg: die Erbauung von Arbeiterwohnungen zur Vermiethung an Arbeiter aus öffentlichen Mitteln. Diese Forderung ist offenbar an eine Reihe von Vorbedingungen geknüpft, vor Allem an die freie Selbstverwaltung der Gemeinde resp. des Kreises oder Bezirks und an das allgemeine Wahlrecht zu den Vertretungskörpern, die in deren Verwaltung bestimmend eingreifen. Nur wo diese Bedingungen gegeben sind und unter den Landarbeitern eine selbständige Bewegung so weit erstarkt ist, daß sie den Kampf um die Vertretung in Gemeinde und Kreis aufnehmen können und wollen, könnte von der Sozialdemokratie thatsächlich die Forderung erhoben werden, daß die Gemeinde oder besser noch der Kreis, in dem ja das ökonomische Uebergewicht einzelner Grundbesitzer weniger scharf zu Tage treten würde, Miethwohnungen für die Landarbeiter erbaut. Damit würden diese wohl die höchste Stufe der Selbstständigkeit erreichen, die sie in der kapitalistischen Gesellschaft überhaupt erreichen können.

Aber wir wüßten außer England keinen Staat, dem heute schon die Erhebung dieser Forderung im Interesse der Landarbeiter läge.
 

i) Der Pachtzins

In enger Verbindung mit der Wohnungsfrage stehen manche Fragen des Pachtzinses.

Wir haben in einem früheren Kapitel gesehen, daß der Preis des landwirthschaftlich benutzten Bodens nur dort durch die Grundrente bestimmt wird, wo dieser der kapitalistischen Waarenproduktion dient. Wo er ein Anhängsel des Haushalts ist, kann sein Preis weit über die kapitalisirte Grundrente hinausgehen und geht darüber hinaus, wenn die Verhältnisse das Wachsen der Bevölkerung und die Nachfrage nach Boden begünstigen; er geht dann in jedem einzelnen Falle umsomehr darüber hinaus, je weniger der Boden der Waarenproduktion dient, je mehr er ein Anhängsel des Haushalts bildet, also, im Allgemeinen genommen, je kleiner das Grundstück ist.

Dies ist zweifelsohne ein großer Nachtheil für die arbeitende Bevölkerung auf dem Lande, eine der reichlichsten Quellen der Ausbeutung des Landarbeiters. Je höher der Preis der Parzelle, die er erwerben muß, will er einen selbständigen Haushalt begründen, desto mehr muß er von seinem Lohne abdarben, um den Kaufpreis ersparen zu können, desto tiefer wird er seife Lebenshaltung herabdrücken; desto eher wird er versuchen, einen Theil der Kaufsumme zu entleihen und so in Schuldsklaverei und Abhängigkeit gerathen. Dort wieder, wo er die Parzelle nicht kauft, sondern pachtet, wird er um so dringender auf Lohnarbeit angewiesen sein, je höher der Pachtzins, den er aus seinem Geldlohn bezahlt, nicht aus dem Produkt feines Grundstücks, das für ihn nicht oder nur zum geringen Theil Waare wird; je höher der Pachtzins, desto dringender das Angebot seiner Arbeitskraft, desto geringer sein Widerstand gegenüber der Lohndrückerei; desto leichter geräth er mit der Zinszahlung in Rückstand, was ebenfalls eine Quelle der Schuldsklaverei und Abhängigkeit für ihn wird.

Gelänge es, diesem Uebelstand entgegenzuwirken, so würde damit die Hebung der Lebenslage und der Selbständigkeit des Landarbeiters sehr gefördert.

Dort, wo das Pachtsystem herrscht, ist das nicht unmöglich; dort braucht man nur die Pachtverträge der Kontrolle eines Gerichtshofs zu unterwerfen, der das Recht hat, unbillig hohe Pachtzinsen, solche, die über den Betrag der normalen Grundrente hinausgehen, auf deren Maß zu reduziren, das heißt, die Pachtzinsen der proletarischen Pächter relativ auf das Maß der kapitalistischen Pächter herabzusetzen. Eine derartige Einrichtung hat das liberale, angeblich manchesterliche Ministerium Gladstone bereits 1881 in Irland getroffen und sie hat sich trefflich bewährt.

Die Wirkungen eines solchen Gesetzes müssen in gewisser Beziehung denen des oben geforderten Wohnungsgesetzes gerade entgegengesetzt sein. Das letztere drängt den Großgrundbesitzer, seinen Betrieb durch Ablösung kleiner Parzellen für seilte Arbeiter zu verkleinern; jenes macht dagegen diese Ablösung weniger profitabel, als sie bisher gewesen; das eine fördert den Kleinbetrieb, das andere den Großbetrieb. Die beiden Gesetze widersprechen aber einander nicht, sondern ergänzen einander, und beide wirken insofern in der gleichen Richtung, als jedes, wenn auch in anderer Weise, die Hebung der Lebenshaltung und der Selbständigkeit des Arbeiters begünstigt.

Nicht so einfach liegt die Sache dort, wo der Arbeiter auf dem Lande seine Parzelle nicht pachtet, sondern kauft:. Wir sehen keinen gangbaren gesetzlichen Weg, der die Herabsetzung der übermäßigen Preise dieser Parzellen erzwingen könnte; aber wenn es auch einen gäbe, so würden sich große Bedenken gegen ihn erheben. Der Grundbesitzer, auf dessen Koste hier die Reduzirung der Grundrente vorgenommen wird, ist oft selbst ein Arbeiter. So wohlthätig diese Reduzirung für den Land kaufenden Arbeiter wäre, so würde sie doch jene Proletarier eines oft mühsam ersparten Nothpfennigs berauben, die ihre Parzelle als bisherige Besitzer oder als Miterben verkaufen müssen. Wir haben hier wieder einen jener Fälle vor uns, in denen das Privateigenthum an Grund und Boden eine rationelle Reform unmöglich macht.


Zuletzt aktualisiert am 26.2.2012