Karl Kautsky

Die Vivisektion des Proletariats

Geschrieben auf Veranlassung und unter Mitwirkung von Friedrich Engels

(1881)


In: Der Sozialdemokrat, Nr. 39, 22. September 1881.
Abgedruckt in Marx-Engels Gesamtausgabe (MEGA), Abteilung 1, Bd. 25, Berlin (Ost), Dietz-Verlag, 1985, S. 489–491.
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Die Bourgeoisie hat es stets für nötig gehalten, mit der Humanität zu kokettieren und ein ganz außerordentlich entwickeltes Zartgefühl an den Tag zu legen, wo es Effekt macht und – nichts kostet.

Früher waren die Negersklaven das Schoßkind der Bourgeoisie, und dieselben Herrn, welche kein Bedenken trugen, ihre weißen „freien“ Arbeiter aufs scheußlichste zu behandeln und auszubeuten, waren mit rührender Sorgfalt bestrebt, das Los der Sklaven, die sie ja nicht selbst ausbeuten konnten, zu verbessern.

„Dasselbe ‚reformierte’ Parlament, das aus Zartsinn für die Herren Fabrikanten Kinder unter 13 Jahren noch Jahre lang in die Hölle 72stündiger Fabrikarbeit per Woche festbannte, verbot dagegen in dem Emanzipationsakt. der auch die Freiheit tropfenweise eingab, von vornherein den Pflanzern, irgend einen Negersklaven länger als 45 Stunden per Woche abzuarbeiten.“ (Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, S. 281)

Jetzt sind die Sklaven befreit und da hat man sich die Tierwelt als unschädliches Objekt der „Humanität“ auserkoren. Die ganze „gute“ Gesellschaft, Pfaffen, Nonnen und alte Freudenmädchen voran – auch Ehren-Stöcker findet sich in der Gesellschaft – haben einen Kreuzzug eröffnet gegen die Tierquälerei, gegen animalische Nahrung, namentlich aber gegen die Vivisektion. Was kümmert sich dieses unwissende, blöde Volk – Volk im schlechten Sinne – darum, dass die medizinische Wissenschaft ohne Versuche an lebenden Tieren keine Fortschritte machen kann, was darum, dass die Medizin gerade solchen Versuchen ihre glänzendsten Errungenschaften verdankt. Das Vieh steht ihnen näher als der Mensch, und so erheben sie allenthalben Protest gegen die „Rohheit“ der Vivisektion.

Und bereits haben sie Erfolge davon getragen – natürlich in England, das von einem alten Weibe regiert und von Pfaffen beherrscht wird. Vor fünf Jahren nahm das englische Parlament ein Gesetz an, „the Cruelty of Animals Act“, nach welchem Versuche an lebenden Tieren nur mit Erlaubnis des Ministers des Innern gestattet sind, d. h. es hat die Wissenschaft der Willkür eines Mannes übergeben, der, wie die meisten Minister, von ihr so viel versteht, wie die Kuh vom Flötenspielen. Die Physiologen bekunden denn auch einstimmig, dass eine solche Erlaubnis zu erlangen, so gut wie unmöglich sei.

Beim letzten internationalen medizinischen Kongress in London kam auch dieser Gegenstand zur Sprache. John Simon, medical officer to ihe Privy Council (medizinischer Beisitzer des Staatsrates) war es der mit einer geradezu vernichtenden Rede wider die Gegner der Vivisektion auftrat. Er ist der Chef der gesamten britischen Medizinalpolizei und derselbe, der im Kapital von Marx so oft und so rühmlich zitiert wird; ein Mann, der – vielleicht einer der letzten alten berufstreuen und gewissenhaften englischen Beamten aus der Zeit von 1840–60 überall Bourgeoisinteressen als erstes Hindernis seiner Berufstätigkeit vorgefunden hat und zu bekämpfen genötigt war. Kein Wunder, dass ein tiefer Hass gegen die Bourgeoisie sich in ihm einwurzelte; und dieser Hass ist es, der ihn befähigte, der Antivivisektionsbewegung mit einer Wucht entgegenzutreten, welcher seine der Bourgeoisie angehörenden Kollegen, die Herren Virchow und Konsorten, nicht im Entferntesten fähig sind. Statt sich wie diese matt und farblos zu verteidigen, greift er an und entwirft in seiner Rede einen ganzen Anklageakt der Bourgeoisie.

Wir bedauern, durch Rücksichten auf den Raum gehindert zu sein, die ganze ausgezeichnete Rede wiederzugeben: die Aufzählung der Fortschritte, welche die Medizin den Versuchen an lebenden Tieren zu verdanken hat; die Auseinandersetzung, wie durch das neue „Tierschutz“gesetz der wissenschaftliche Fortschritt gehemmt sei und schließlich seine bittere Satire gegen die Sentimentalität und die Ignoranz der „ästhetisch gebildeten“ Gesellschaft. Nur zwei Tatsachen wollen wir wiedergeben, an denen J. Simon den Experimenten der Wissenschaft an einigen wenigen lebenden Tieren die Experimente der Bourgeoisie an Millionen lebender Menschen entgegenstellt.

Um Mittel zum Schutze gegen die asiatische Cholera zu finden, machte Professor Thiersch Ansteckungsversuche an einem halben Dutzend Mäusen: entsetzliche Barbarei!

Um ihren Geldbeutel zu füllen, fuhren gewisse Aktiengesellschaften fort, während der Cholera-Epidemien von 1848/49 und 1853/54 die südlichen Distrikte Londons mit schlechtem Wasser zu versehen und so Ansteckungsversuche an einer halben Million Menschen zu machen, welchen auch viele Tausende zum Opfer fielen. Das ist keine Barbarei, sondern Profit bringende Geschäftsgebarung.

Ein anderes Bild. Die Tuberkulose ist eine der weit verbreitetsten Krankheiten. Vor sechzehn Jahren begann für die Kenntnis derselben eine neue Ära in Folge der Experimente des Franzosen Villemin an einigen Tieren. Kaninchen und dergleichen. Er fand, dass tödliche tuberkulöse Ansteckungserscheinungen sich an den Tieren zeigten, wenn ihnen von Menschen herrührende Tuberkelmasse unter die Haut eingeflößt wurde. Weitere Experimente durch Andere über denselben Gegenstand folgten. Dr. Tappeiner fand, dass die beim Atmen in die Luft zerstreute Tuberkelmasse ansteckend wirke. Prof. Gerlach endlich zeigte vor 12 Jahren, dass der Ansteckungsstoff einem gesunden Tiere mitgeteilt werden könne, wenn es mit der Milch eines tuberkulösen Tieres genährt werde.

Die Experimente, welche zu dieser Erkenntnis verhalfen, sind natürlich „eine Schande des 19. Jahrhunderts“, sie müssen verboten werden.

Dieselben Tierfreunde, welche so schreien, aber wissen ganz gut, dass die Tuberkulose unter den Kühen der Städte massenhaft vorkommt (die so genannte Perlsucht). Sie wissen ganz gut, dass durch die Milch dieser Kühe jährlich hunderttausende von Menschen mit einem unheilbaren Leiden angesteckt und einem qualvollen Siechtum entgegengeführt werden. Und trotzdem weisen sie im Interesse der wirtschaftlichen „Freiheit“ jeden Versuch mit Entrüstung zurück, diese Ansteckungs-Experimente an hunderttausenden lebender Menschen zu verbieten. Ja, mancher dieser Tierfreunde verkauft selbst noch solche Verderben bringende Milch.

Diese Beispiele ließen sich ins Unendliche vermehren: die Vivisektion von Männern, Frauen und Kindern in den Fabriken, den Auswandererschiffen, in den Bergwerken, in den verpesteten Höhlen, welche man Proletarier Wohnungen zu nennen pflegt. Für diese Leiden von 90 Prozent der Bevölkerung, die da langsam zu Tode gemartert werden, haben die humanen Bourgeois, ihre zartfühlenden Frauen und Töchter und die weinerlichen Pfaffen keinen Sinn; die einige Stunden dauernden Qualen eines Kaninchens, welche das Mittel werden, Millionen von Menschen das Leben zu erhalten, die erscheinen ihnen als der Gipfel der Grausamkeit.

Natürlich! Die Leiden der Menschen nützen dem Geldsack, die Leiden der Tiere nützen der Wissenschaft. Die Wissenschaft ist aber dem Bourgeois ein Gräuel, für sie darf kein Hundeleben geopfert werden, der Profit dagegen ist eine Gottheit, der zu Ehren man das ganze Volk martern und schlachten darf.

Diese falsche, einseitige, heuchlerische Sentimentalität ist, wie so vieles Andere, auch ein Symptom der Fäulnis der Bourgeoisie. Dieselbe verschrobene Sentimentalität in sonderbarem Gemisch mit Brutalität und Frivolität machte sich breit in den letzten Dezennien vor der großen französischen Revolution. Eine Gesellschaft, die so bar ist jedes wahren gesunden Gefühles, ist krank bis ans Mark, die geringste Erschütterung muss sie töten.


Zuletzt aktualisiert am 3.1.2012