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NATALIE TROTZKI ist dem Beispiel der Witwe LENINs, KRUPSKAJA, gefolgt. Wie diese sich einst im Namen Lenins gegen die „Leninisten“ wandte, so im Mai 1951 Natalie Trotzki gegen die „Trotzkisten“. Vor kurzem ist der deutsche Text der Absage von Trotzkis Frau an die IV. Internationale veröffentlicht worden, aus dem hervorgeht, daß es vor allem die Aufrechterhaltung der Definition des stalinistischen Staates als eines „Arbeiterstaates“ durch die Trotzkisten ist, welche die Lossagung Natalie Trotzkis von der IV. Internationale veranlaßt hat.(1) Sie wehrt sich dagegen, sowohl Rußland als auch die unter dem Drucke der russischen Truppen stehenden Staaten Osteuropas als „Arbeiterstaaten“ anzuerkennen und damit der stalinistischen Bürokratie in diesen Ländern eine fortschrittliche und sogar revolutionäre Rolle zuzuerkennen. Am untragbarsten von allem erscheint Natalie Trotzki aber der Standpunkt der IV. Internationale zum Kriege, d.h. der Standpunkt, in einem möglichen III. Weltkrieg den stalinistischen Staat durch die internationale Arbeiterklasse zu verteidigen. Nur mit großer Bitterkeit habe sie in der Botschaft von der letzten Tagung der Socialist Workers Party gelesen, daß Trotzkis Ideen auch weiterhin die IV. Internationale leiten würden, denn Trotzki selbst würde heute (9. Mai 1951), wo STALIN vom sozialistischen Vaterland nichts übrig gelassen habe, diese These vom „Arbeiterstaat“ kaum noch aufrechterhalten.
Die Trotzkisten sind natürlich darauf die Antwort nicht schuldig geblieben. Die SWP in New York wandte sich am 29. Mai 1951 an Natalie Trotzki mit einer Erklärung, in der sie zunächst einmal zugab, daß man die Frage des Arbeiterstaates von neuem diskutiere und daß die SWP ihre Meinung in diesem Punkt noch nicht endgültig festgelegt habe. Aber es ist immerhin die Rede davon, „daß wir die Planwirtschaft weiterhin verteidigen“. Die Argumente Natalie Trotzkis gegen die Definition der UdSSR als „entarteter Arbeiterstaat“ seien nur eine Wiederholung der Argumente, welche die „kleinbürgerliche Opposition“, geführt von BURNHAM und SHACHTMAN, in den Jahren 1939 und 1940 vorgebracht habe. Natalie Trotzkis Haltung setze die Überzeugung voraus, daß die Sowjetunion ein kapitalistischer Staat geworden sei. Die SWP ziehe es jedoch vor, „Trotzkis Methode und Auffassung zu bewahren“ und damit jene politische Linie, welche die „Verteidigung der Planwirtschaft“ in Rußland mit der „unversöhnlichen Opposition gegen den Stalinismus“ verband. Man zitiert – in vorsichtiger Auswahl! – einige Absätze Trotzkis mit seiner Stellungnahme zur russischen Außen- und Kriegspolitik während des II. Weltkrieges und fügt hinzu: „Elf Jahre später sehen wir keinerlei Grund, unsere Meinung über diesen oder jeden ähnlichen Kurs zu ändern.“
Die US-amerikanischen Trotzkisten versichern am Schluß, sie seien „Schüler von L. D, Trotzki“, seine Erklärung des Charakters der Sowjetunion und des Stalinismus hätte sie für sein Banner gewonnen. Sie geben der Überzeugung Ausdruck, daß es außerhalb der von Trotzki gegründeten Bewegung „heute keine ernsthaften revolutionären Kräfte im internationalen Maßstab“ gibt.(2)
So sehr wir geneigt sind, Natalie Trotzkis Ansicht über den Charakter des stalinistischen Rußlands zu teilen, so fürchten wir doch, daß nicht die Trotzkisten, sondern Trotzkis Frau vom „Trotzkismus“ abgewichen ist!
Der Historiker hat immer einen doppelten Kummer: erstens den über die Unvollständigkeit und Unzuverlässigkeit der Dokumente und Quellen; zweitens den, daß dem Ergebnis seiner Forschungen oft gewisse Mythen oder Legenden entgegenstehen, die es unpopulär machen. Der Mythos der russischen Revolution lautet etwa: als Abschluß einer großartigen, auf dem Programm und der Organisationsform der leninistischen Partei beruhenden, kompromißlosen Politik, wurde im Oktober 1917 planmäßig ein bewaffneter Aufstand unter Führung der Bolschewiki unternommen, der nach seiner siegreichen Beendigung die beabsichtigte Diktatur des Proletariats verwirklichte und damit den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung ermöglichte und einleitete. Die Fülle der geschichtlichen Tatsachen, welche dieser Legende widersprechen, ist aber einfach unübersehbar. Da ist z. B. zunächst die Tatsache, daß es keinen russischen Kapitalismus gab (wir meinen einen modernen, industriellen), wohl aber einen fremden Kapitalismus in Rußland.
„In Rußland ist das Kapital vermittels des Finanzkapitals von Westeuropa geschaffen. ... Bei uns ist das Finanzkapital aus anderen Ländern, Frankreich, Deutschland, England usw. eingedrungen und hat Riesenfabriken und dabei plötzlich, auf einem leeren Fleck, irgendwo ... im ganzen Süden und Südwesten, geschaffen. ... Das westeuropäische Kapital verpflanzte ganze Fabriken und Werke hierher und verankerte sie mit einemmal.“
Die Enteignung dieses Kapitals bedeutete also eine Nationalisierung im wahrsten Sinne dieses Wortes, und insofern war die russische Revolution eine nationale Revolution, die sich in erster Linie gegen die französischen, deutschen, englischen Kapitalisten richtete, nicht so sehr gegen die einheimische industrielle Bourgeoisie. Diese „besitzt“ in Rußland schon vor der Revolution „keine politische Macht“, „bei uns hat noch keine Bourgeoisie ... einen besonderen Einfluß besessen“.
Es ist ... Trotzki, der diese Feststellungen trifft, indem er auf die völlige Abhängigkeit der kümmerlichen russischen Bourgeoisie von der internationalen „ungeheuren Finanzmacht“ hinweist.(3) Wenn Trotzki dies wußte, wie konnte er dann vor Brest-Litowsk (März 1918) ein Entgegenkommen von den militärischen Vertretern des deutschen Finanzkapitals und eine Hilfe von den militärischen Vertretern des französischen und englischen Finanzkapitals erwarten und erbitten? Es ist aber der gewiß unverdächtige Hauptmann JACQUES SADOUL, damals Mitglied der französischen Militärmission in Rußland, der uns berichtet(4):
„Im Dezember (1917, Huhn), Januar, Februar (1918, Huhn), wohl zwanzig Mal verlangten Lenin und Trotzki, niedergeschmettert durch die Drohungen des (deutschen, Huhn) Feindes, außerstande, allein die aufgelöste russische Armee wiederherzustellen, durch meine Vermittlung die Unterstützung der alliierten Missionen und der militärischen Kräfte der Entente. Für diese Zusammenarbeit stellten sie eine einzige Bedingung: Sicherheit dafür, daß die Alliierten die Existenz der Arbeiter- und Bauernregierung nicht antasteten. Diesen verzweifelten Forderungen stellten die Ententevertreter jedesmal, ein förmliches Nein entgegen.“
Eine andere Tatsache: Kaum hatten die Bolschewiki die Abhängigkeit vom ausländischen Finanzkapital abgeworfen, da bemühten sie sich auch schon wieder um den Zustrom neuen fremden Kapitals. Schon im Januar 1918 war der Direktor der Nya-Banken in Stockholm, ASCHBERG, geschäftlich in Rußland, um von den Bolschewiki die Ausfuhrlizenz eines bedeutenden Postens Maschinenöl zu erhalten. Über seine Eindrücke von den bolschewistischen Geschäftspartnern berichtete er dem Redakteur der linkssozialistischen Zeitung „Politiken“ in Stockholm, er habe sich davon überzeugen können, daß das Finanzkapital sehr vorteilhafte Operationen mit den Bolschewiki machen könne.(5)
Eine weitere Tatsache ist, daß Lenin und Trotzki mit Hilfe der „Arbeiter- und Bauernregierung“ die deutsche Kriegswirtschaft von 1914-1918 auf Rußland übertragen wollten, worin sich zunächst der ganze Sozialismus ihrer ersten ökonomischen Maßnahmen im Wesentlichen erschöpfte.(6) Um aber auf den „Arbeiterstaat“ zu kommen: Es war Lenin selbst, der am 30. Dezember 1920 den „Arbeiterstaat“ als eine Abstraktion erklärte, da der bolschewistische Staat „eben nicht ganz ein Arbeiterstaat“ sei, nämlich „ein Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen“.(7) Vom Arbeiterstaat oder der Diktatur des Proletariats kann aber im bolschewistischen Sinne nur die Rede sein, wenn sie durch eine Diktatur der Partei verwirklicht wird. Dann löst sich nämlich auch das Rätsel der Feststellung BUCHARINs auf dem X. Parteikongreß der KPR (März 1921) auf: wenn man mit einer „Demokratie der Arbeiter“ Ernst machen wolle, „könnte sich die Diktatur des Proletariats keine Sekunde halten“. Sie wird eben „nur“ durch die „Avantgarde der Arbeiterklasse“, die bolschewistische Partei, durchgeführt.(8) Auf dem gleichen Parteitag aber, auf dem man so die Arbeiterdemokratie ablehnte, mußte Lenin zugeben, daß man zu einem entscheidenden Kampfe gegen jene „bürokratischen Auswüchse“ des Arbeiterstaates zu schwach sei.
Was soll nun angesichts solcher Tatsachen schon aus den ersten Jahren der bolschewistischen Parteidiktatur die Definition derselben als „Arbeiterstaat“ bedeuten? Auf welche ökonomische Struktur bezieht sie sich?
Wenn die trotzkistische Opposition in Rußland noch in ihrem Appell an den VI. Kongreß der Komintern (1928) der festen Überzeugung Ausdruck gibt, „daß der wirkliche Leiter der Sowjetmacht noch immer das Proletariat“ ist, so hat das nicht viel zu sagen bzw. nur zu bedeuten, daß immer noch die Vorhut der Arbeiterklasse, d.h. die bolschewistische Partei, die Sowjetmacht führt. Auf die Frage nach der ökonomischen Struktur des Sozialismus, der angeblich in Rußland aufgebaut wird, erhalten wir von Trotzki aber immerhin eine Reihe von Antworten, die uns für den vorliegenden Zweck ausreichend erscheinen. Er spricht einmal von den „ungeheuren Vorteilen“, die „aus der sozialistischen Revolution entspringen“ und führt als solche an! die „Verstaatlichung des Bodens, der Produktionsmittel, der Banken und der zentralen Verwaltungsorgane“. Was sollen wir unter einer Verstaatlichung der zentralen Verwaltungsorgane verstehen? Doch nicht etwa die Verwirklichung des bolschewistischen Parteiprogrammpunktes, der die obligatorische Eingliederung eines jeden Sowjetmitgliedes in eine bestimmte Funktion in der Staatsverwaltung empfahl? Jedenfalls konzentrieren sich die „ungeheuren Vorteile“ der sozialistischen Revolution von 1917 in einem einzigen Punkte: in der Verstaatlichung. Wenn also Trotzki und seine Anhänger vor der Komintern versicherten, daß
„jeder unserer .Anhänger, der den proletarischen Charakter unserer Partei und unseres Staates und den sozialistischen Charakter des Aufbauwerks der Sowjetunion leugnet, rücksichtslos von uns bekämpft und aus unseren Reihen entfernt wird“,
dann muß dies bedeuten, daß der sozialistische Charakter des ökonomischen Aufbaues in Rußland durch die Verstaatlichung, der proletarische Charakter des Staates durch die Diktatur des Proletariats und diese durch die Diktatur der Partei, die immer noch die Avantgarde des Proletariats sein soll, garantiert sind. Trotzdem polemisierte aber Trotzki gegen die „Theorie“ MOLOTOWs, man könne nicht ein Heranziehen des Arbeiters an den Staat und des Staates an den Arbeiter fordern, weil ja der Staat schon in sich ein Arbeiterstaat sei, als „die boshafteste bürokratische Formel, die man sich vorstellen kann“!(9) Vielleicht hat Molotow nur aus den angeführten trotzkistischen Thesen eine ironische Schlußfolgerung gezogen?
Als aber Stalin seine These vom „Aufbau des Sozialismus in einem Lande“ durchsetzte, da schränkte Trotzki die Auswirkung der „sozialistischen Revolution“ und den „sozialistischen Charakter“ des russischen Wirtschaftsaufbaues erheblich ein. Während Stalin behauptet hatte, der Sozialismus sei in Rußland schon zu neun Zehnteln verwirklicht (er hielt sich hier offenbar an eine Äußerung Lenins), erklärte Trotzki nach dem VI. Komintern-Kongreß zum Komintern-Programm, daß man dem russischen Proletariat statt dieser Lüge sagen müßte,
„daß wir gegenwärtig (1928, Huhn) mit unserem Wirtschaftsniveau und mit unseren Daseins- und Kulturbedingungen viel näher einer kapitalistischen, dabei noch rückständigen und unzivilisierten kapitalistischen Gesellschaft stehen, als einer sozialistischen Gesellschaft“.
Trotzki blieb dabei, daß der Sozialismus in Rußland nur aufgebaut werden könnte, wenn in den fortgeschritteneren Ländern das Proletariat die Macht erobere.(10)
Schließlich steigerte sich Trotzki in seiner Kritik am Stalinismus so weit, daß er den Sieg Stalins nicht nur als den Triumph der gemäßigteren, konservativen, bürokratischen und nationalistischen Tendenzen, sondern sogar als den „Sieg der Anhänger des Privateigentums“ erklärte.(11) Und damit kommen wir auf einen interessanten Punkt. Trotzki kann sich nämlich eine „Entartung“ immer nur in Richtung einer Rückbildung vorstellen, also in der Gestalt des alten, auf dem Privateigentum beruhenden, „klassischen“ (liberalen) Kapitalismus. Denn für ihn ist
„das Sowjetsystem ... vor allem ein neues System der Wirtschafts- oder ‚Eigentums’-Verhältnisse. Es ist im Wesentlichen eine Frage des Eigentums: des Grund und Bodens, der Banken, der Bergwerke und der Eisenbahnen“.
Wird das Privateigentum an den Produktions-, Distributions- und Kommunikationsmitteln wiederhergestellt, so käme man wieder zum Kapitalismus. Solange aber das Staatseigentum an ihnen bestehen bleibt, bestehen in Rußland noch „sozialistische“ Fundamente. In diesem Punkte besteht nicht einmal ein grundsätzlicher Unterschied zum Stalinismus; auch die Stalinisten vertreten die These, „daß mit der Aufhebung des Privateigentums die ganze Pyramide des Kapitalismus und damit der Ausbeutung zu Fall komme“.(12) Bei Trotzki gehen also Etatismus und Sozialismus noch ineinander über.
Trotzki charakterisierte schließlich die Theorie vom Aufbau des Sozialismus in einem Lande als „Stalinschen Nationalsozialismus“(13) und verglich die Tiefe der Abwendung des Stalinismus von der marxistischen Auffassung vom Aufbau des Sozialismus mit der Haltung der deutschen Sozialdemokratie zum Krieg und zum Patriotismus im August 1914:
„Diese Gegenüberstellung hat keinen zufälligen Charakter. Der ‚Irrtum’ Stalins und der ‚Irrtum’ der deutschen Sozialdemokratie bedeuten: Nationalsozialismus.“
Wir gestehen daher Trotzki gerne zu, daß er kein National-Etatist war. Doch auch in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe seiner „Permanenten Revolution“ vom 29. März 1930 erblickte er noch immer „die Stärke der Sowjetwirtschaft ... in der Nationalisierung der Produktionsmittel und in deren planmäßiger Ausnutzung“.(14) Die staatliche Planwirtschaft erscheint auch hier als das positive Fundament des sozialistischen Aufbaues in Rußland.
Trotzki wendet sich offensichtlich vor allem deswegen gegen die These vom Aufbau des Sozialismus in einem Lande, weil ihm weder die ökonomische noch die politische Autarkie gefällt, die mit ihr verbunden ist. Er betont die Notwendigkeit, den wirtschaftlichen Wiederaufbau Rußlands im engsten Kontakt mit der kapitalistischen Weltwirtschaft vorzunehmen und lehnt die Beschränkung der Komintern auf ein Organ zur Verteidigung der Sowjetunion im Sinne einer reinen Defensivpolitik gegen mögliche Interventionen ab. Er weist empört auf die Meinung VARGAs hin, die Theorie des Sozialismus in einem Lande sei zwar unsinnig, aber zur Anfeuerung der Arbeiter notwendig: „ein Pfaffenbetrug als Erlösung.“ Als dann das zweite Jahr des ersten Fünfjahresplanes in Rußland öffentlich dahingehend charakterisiert wurde, daß die russische Volkswirtschaft bereits in die Periode des Sozialismus eingetreten sei, wandte sich Trotzki wieder energisch gegen die damit aufgestellte These, daß „der Sozialismus ... in den Fundamenten bereits verwirklicht“ sei. Wenn man das heutige (1931) Sowjetleben, das Alltagsleben der werktätigen Massen, das Kulturniveau und den noch vorhandenen Grad des Analphabetismus betrachte, dann müsse man ehrlicherweise zugeben,
„daß die Verhältnisse ... der überwiegenden Mehrzahl der Bevölkerung des Landes zu 9SI Erbe des bürgerlich-zaristischen Rußlands sind und kaum 5% Elemente des Sozialismus enthalten“.
Seine „Folgerungen“ aus der Analyse des damaligen Rußlands betonen deshalb nachdrücklich, daß man keinesfalls die Kolchosen mit dem Sozialismus identifizieren dürfe. Auch die heutige Übergangswirtschaft in der Sowjetunion, „die ihrem Niveau nach der zaristisch-bürgerlichen Wirtschaft näher steht, als dem fortgeschrittenen Kapitalismus“, solle man nicht als Sozialismus bezeichnen. Abschließend forderte er damals die Erneuerung der Partei durch ein Zerbrechen der „Diktatur des bürokratischen Apparates“(15) Und hier stutzen wir natürlich. Die Partei war also nicht mehr die „Avantgarde des Proletariats“? Und an die Stelle der proletarischen Diktatur war demnach eine bürokratische Diktatur getreten? Was aber war dann aus dem „Arbeiterstaat“ geworden?
Trotzki hatte zur Frage der Rolle und der Bedeutung der Staatsmacht ein Jahr früher geäußert, daß sie „keinesfalls ein passives Abbild der ökonomischen Prozesse“ sei, daß ihre Macht von gewaltiger, fortschrittlicher Bedeutung sein könne, wenn eine revolutionäre Klasse in ihrem Besitze sei, obwohl sie auch dann weder die ökonomischen Prozesse noch die Gesetze der kapitalistischen Weltwirtschaft abschaffen könne, (siehe Fußnote 14) Nun war aber die Staatsmacht nicht mehr im Besitze der Arbeiterklasse bzw. ihrer Vorhut, sondern in der Gewalt „des bürokratischen Apparates“. Was nun? Spielte jetzt die russische Staatsmacht nicht nur eine „konservative“, sondern auch eine „reaktionäre“ Rolle? Wir lesen bei Trotzki: „Immerhin bleibt die Staatsmacht eine Waffe des Überbaues.“ (siehe Fußnote 14)
Bisher hatte sich aber ergeben, daß der proletarische Charakter der staatlichen Planwirtschaft dadurch garantiert ist, daß der Staat ein Arbeiterstaat ist, und er war ein Arbeiterstaat, weil eine Diktatur des Proletariats bestand, und es bestand eine Diktatur des Proletariats, weil sie durch die Avantgarde des Proletariats, die bolschewistische Partei, verwirklicht und ausgeübt wurde. Nunmehr war die Staatsmacht in den Händen des bürokratischen Apparates, was bedeutete dies für den sozialen Charakter der Staats-Planwirtschaft, des Unterbaues? Wie verhalten sich denn bei Trotzki „Unterbau“ (Wirtschaft) und „Überbau“ (Staat) zueinander? Er schreibt: „Politik ist eine konzentrierte Ökonomie“.(16) Sollen wir nun im Hinblick auf die Waffe der Staatsmacht den Überbau als konzentrierten Unterbau bezeichnen? Dann konzentriert sich das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln im Staate, die staatliche Planwirtschaft ebenso, und wir sind so klug wie zuvor. Wir lesen aber auch bei Trotzki: „Stellungnahme zur Wirtschaft ist Politik.“ Dürfen wir das übersetzen in: Stellungnahme zum Unterbau ist Politik? Zweifellos ist die staatliche Stellungnahme zur Wirtschaft Politik, und diese Stellungnahme ist im Stalinismus – wir hörten es von Trotzki selbst – bürokratisch, konservativ und möglicherweise sogar reaktionär. Bleibt der „Unterbau“ von dieser Stellungnahme unberührt? Zweifellos nicht, denn wir vernahmen ja von Trotzki, daß die Staatsmacht kein passives Abbild der ökonomischen Prozesse sei. Und wie wird nun die Staatsmacht aktiv? Trotzki antwortet: „Die Waffe der Politik ist die Partei.“ (siehe Fußnote 16) Wie gesagt, eine veraltete Waffe, denn die Partei soll ja erneuert werden. Und wer macht die Politik, wenn die Partei ausfallt? Wir hörten es: der bürokratische Apparat, der sich anscheinend auch der Partei als Waffe bedient. Die Partei ist also auch eine Waffe des Überbaues.
Aber der bürokratische Apparat besteht ja auch aus Menschen, „die Politik wird von Menschen und durch Menschen gemacht und nichts Menschliches ist ihr fremd“, erklärt uns Trotzki. Doch handeln diese Menschen letzten Endes doch als Personifizierungen gesellschaftlicher Kräfte, sogar die Parteimenschen (siehe Fußnote 16):
„Die persönlichen Gegensätze und Gruppierungen in der Partei waren schon völlig zu Instrumenten der unpersönlichen sozialen Kräfte. Schichten und Klassen geworden.“
Wir fassen jetzt zusammen: Obwohl die Staatsmacht kein passives Abbild der ökonomischen Prozesse ist, kann sie diese nicht abschaffen, jedoch irgendwie aktiv beeinflussen. Sie gehört aber zum Überbau und in ihr konzentrieren sich irgendwie diese ökonomischen Prozesse. Die Politik erscheint sozusagen als konzentrierter Ausdruck, als Stellungnahme zur Ökonomie. Sie bedient sich dazu der Partei, deren innere Gegensätze jedoch auch nur wieder die sozialökonomischen Kräfte ausdrücken. Stehen wir damit nicht vor einem Primat der Ökonomie?
Auch im Jahre 1932 hielt Trotzki noch immer daran fest, daß durch den Oktoberumsturz und die Grundgesetze der Sowjetmacht die „Voraussetzungen der sozialistischen Planwirtschaft“, nicht einer bloß etatistischen, geschaffen worden seien. Er erblickt sie offenbar in den „im Verlaufe einer Reihe von Jahren entstandenen und funktionierenden staatlichen Organen der zentralisierten Leitung der Wirtschaft“. Damit habe der Sozialismus „als System“ zum ersten Male sein Recht auf den historischen Sieg bewiesen. Die „produktiven Vorteile“ des völlig zu verwirklichenden Sozialismus erblickt er in der „Zentralisation, Konzentration, Einheitlichkeit des leitenden Willens“. Folgende Voraussetzungen des sozialistischen Systems erscheinen erstmalig in Rußland:
„1. Die eigentlichen staatlichen Organe, d.h. das hierarchische System der Plankommissionen im Zentrum und an den einzelnen Orten;
2. der Handel, als System der Marktregulierung;
3. die Sowjetbürokratie, das System der lebendigen Einwirkung der Massen auf die Wirtschaftsstruktur.“
Ja, wir haben richtig gelesen: Trotzki spricht nicht nur von einer Rätebürokratie, einer ungeheuerlichen contradictio in adjecto!, sondern von einer lebendigen Einwirkung der Massen auf die Wirtschaftsstruktur der Staats-Planwirtschaft! Er spricht auch noch immer von dem „im Staat organisierten Proletariat“ und vom „Arbeiterstaat“, in dessen Hand alle „Kommandohebel“ – Budget, Kredit, Produktion, Handel – zusammengefaßt seien. Es ist aber Trotzki selbst, der feststellt, daß sich die Bürokratie der Sowjetdemokratie „begeben“ habe, „keiner Kontrolle unterworfen“ sei und „nach außen hin unumschränkterweise kommandiere“! Wir lesen bei ihm folgende Schilderung:
„Die Bürokratie griff zu immer entschiedeneren Verboten jeglicher Forderungen und Proteste und jeder Kritik. Das einzige Recht, das sie den Arbeitern schließlich noch ließ, war das Recht, das den Betrieben gestellte Produktionsprogramm zu überschreiten. Jeder Versuch, von unten auf die wirtschaftliche Leitung einzuwirken, wurde sofort als rechte oder linke Abweichung, d.h. praktisch als kriminelles Vergehen hingestellt.“
Trotzki spricht von dem „Verlust der politischen Selbständigkeit der Arbeiter“, mit dem sie sich nur „in Erwartung naher und entscheidender sozialistischer Erfolge“ versöhnt hätten. Aber der kritische Kernpunkt bestehe ja gerade darin, daß man nicht in den Sozialismus eingetreten sei:
„Die Methoden der planmäßigen Regulierung beherrschen wir noch lange nicht. Wir führen nur die erste rohe Hypothese aus, führen sie schlecht aus, noch dazu mit gelöschten Lichtern. Krisen sind bei uns nicht nur möglich, sondern unvermeidlich. Die kommende Krisis hat die Bürokratie schon vorbereitet.“
Von den angeführten drei Voraussetzungen einer sozialistischen Planwirtschaft existierte also die dritte, die lebendige Einwirkung der Massen auf die Wirtschaftsstruktur, nicht mehr und der zweiten, der Kontrolle des Marktes, „begab“ sich die Bürokratie genau „so leicht“. So bleibt also nur das hierarchische System der staatlichen Plankommissionen übrig.
Die einzige Voraussetzung, die noch einen sozialistischen Wirtschaftsaufbau in Rußland garantieren soll, ist demnach nur die Staats-Planwirtschaft, die politische Kontrolle der Produktion und – möglicherweise – der Distribution, ausgeübt durch die Diktatur des bürokratischen Apparates. Doch Trotzki, der abschließend nachdrücklich betonte, daß sich das Schicksal der Sowjetunion „in unlöslicher Verknüpfung mit der Weltentwicklung entscheiden“ werde(17), hielt trotz allem nicht nur an der These vom „Arbeiterstaat“ (= die im Staat organisierte Arbeiterklasse!) fest, sondern]auch an seiner Auffassung der Sowjetunion als eines „Stützpunktes der Weltrevolution“. Wörtlich schrieb er(18): „Die enorme Bedeutung der Sowjetunion liegt darin, daß sie den Stützpunkt der Weltrevolution bildet, ganz unabhängig davon, ob es ihr gelingt, den Sozialismus aufzubauen oder nicht.“
Wie sollen wir das verstehen? In dem gleichen Aufsatz, in dem Trotzki das Sowjetsystem im wesentlichen als eine Frage des Eigentums erklärte, als ein neues System der Eigentums- oder Wirtschafts-Verhältnisse(19), untersucht er die Frage ob Rußland überhaupt zum Kapitalismus zurückmarschieren könne. Dies erklärt er für unmöglich. Wenn also auch der Sozialismus nicht aufgebaut werden kann, was für ein System haben wir dann? Er gibt aber zu, daß die Bauern schon die Rückkehr zum Industriekapitalismus dulden würden, weil die Staatsindustrie ihnen ihre Produkte weder ausreichend noch preiswert liefern könne. Aber ein wieder kapitalistisch gewordenes Rußland würde innerhalb des Weltkapitalismus nur eine drittklassige Stellung einnehmen können (1929). Und nun folgen solche interessanten Sätze, daß wir sie alle wörtlich bringen möchten:
„Ein neuer russischer Kapitalismus wäre ein Klein-Kapitalismus, halb kolonisiert und ohne jede Zukunft. Dieses Rußland würde heute eine Stellung einnehmen, die ungefähr zwischen dem agrarischen Rußland und dem heutigen Indien läge. Das Sowjetsystem aber, das eine nationalisierte Industrie und das Monopol des Außenhandels hat, ist trotz aller Widersprüche und Schwierigkelten ein System zum Schutze der Unabhängigkeit der Landwirtschaft und der Volkswirtschaft. (Schon im Original gesperrt, Huhn.) Dies haben auch die vielen Demokraten begriffen, die auf die Seite der Sowjetregierung gezogen wurden, nicht durch die sozialistische Idee, sondern durch einen Patriotismus, der die elementaren Lehren der Geschichte in sich aufgenommen hat. Zu dieser Kategorie gehören auch die zahlreichen technischen und intellektuellen Kräfte des Landes und die neue Schule von Schriftstellern, die ich mangels eines besseren Namens einmal Poputschiki (Weggenossen) nannte.“
In diesem Sinne erklärte Trotzki also schon 1929 „das Sowjetsystem, unabhängig von seinen sozialistischen Zielen“, als eine „Garantie für eine unabhängige, d.h. nicht koloniale Entwicklung“. (siehe Fußnote 19)
Hatte aber Trotzki nicht in seiner Autobiographie fast gleichzeitig die Regel aufgestellt: jene Bolschewiki, die im Krieg (1914-1918) Patrioten waren und nach der Februarrevolution Demokraten, seien heute „Anhänger des Stalin'schen Nationalsozialismus“? Wie, wenn dieser nun eben in der Wahrung der Unabhängigkeit der russischen Land- und Volkswirtschaft, in der Abwehr einer kolonialen Entwicklung seine historische Mission sähe? Wie, wenn sich in der Form jener persönlichen Gegensätze und Gruppierungen innerhalb der bolschewistischen Partei, hinter denen sich ja nach Trotzki die unpersönlichen gesellschaftlichen Kräfte, Schichten und Klassen des neuen Rußlands verbargen, eben jene zahlreichen technischen und intellektuellen Kräfte, die Manager Sowjetrußlands und seiner Staats-Planwirtschaft, sich durchgesetzt hätten? Sie lassen sich ja auch nur durch einen Patriotismus leiten, der die Lehren der Geschichte begriffen hat und nicht durch die sozialistische Idee. Nur: bildet dann die Sowjetunion nur noch insofern einen „Stützpunkt der Weltrevolution“, als sie durch ihre Nationalisierung des ausländischen Kapitals die erste siegreiche Kolonialrevolution darstellt?
Und soll Sowjetrußland deswegen, unabhängig davon, ob es den Sozialismus aufbaut oder nicht, verteidigt werden, weil seine staatliche Planwirtschaft die „unabhängige, d.h. nicht-koloniale“ Entwicklung garantiert und anderen, künftigen Kolonialrevolutionen Asiens und Afrikas als „Stützpunkt“ dienen kann? Trotzki warf Varga den Pfaffenbetrug vor, daß die Theorie vom Aufbau des Sozialismus in einem Lande zur Anfeuerung der russischen Arbeiter notwendig sei Wir fragen: sollen vielleicht die europäischen und us-amerikanischen Arbeiter mit der Theorie von den Fundamenten für einen sozialistischen Aufbau im „Arbeiterstaate“ angefeuert werden, die erste eurasiatische Kolonialrevolution (und unter ihrer Führung alle kommenden!) zu verteidigen? Wir werden eine Antwort auf diese Fragen erhalten, wenn wir Trotzkis Haltung zu der stalinistischen Außen- und Kriegspolitik während des II. Weltkrieges betrachten.
In einem Brief, den Trotzki nach dem Ausbruch des II. Weltkrieges, nach der Aufteilung Polens zwischen HITLER und Stalin schrieb, stellte er fest, daß gewöhnlich Revolutionen keine geographischen Gegebenheiten verändern. Daher werde selbst ein „gesunder Arbeiterstaat“ zur Expansion tendieren, und im Falle Rußlands müßten deshalb die geographischen Richtungen mit denen der zaristischen Expansion zusammenfallen. Genossen, die aufgrund des Stalin-Hitler-Paktes der UdSSR den Titel „Arbeiterstaat“ streichen wollten, seien genau so kindisch wie Stalin, wenn er einem in Ungnade gefallenen bolschewistischen Funktionär wieder den Lenin-Orden wegnehme. Marxistische Gesellschaftslehre und Hysterie seien absolut unvereinbar. Noch hätte die stalinistische Bürokratie die Oktoberrevolution nicht völlig ermordet. Und was den Einmarsch der Soldaten Stalins in Polen und in anderen Ostseegebieten betreffe so stehe doch wohl eines fest, nämlich „eine sehr fortschrittliche Tatsache“,
„daß weder der Zar noch Hitler noch CHAMBERLAIN den Brauch haben oder hatten, in den besetzten Gebieten das kapitalistische Eigentum zu vernichten“.
Nicht die Expansion oder ihre geographische Richtung macht Trotzki den „Kremlgangstern“ zum Vorwurf, „sondern einzig und allein die bürokratische und konterrevolutionäre Methode dieser Expansion, die allgemeine konterrevolutionäre Aktivität der Bürokratie“.
Wir lernen daraus, daß eine Bürokratie zwar konterrevolutionär sein kann, zugleich aber auch sehr progressiv, wenn sie das Privateigentum in den besetzten Gebieten beseitigt. (Bekanntlich hat dies die Armee dieser Bürokratie oft auch „in individualistischen“ Formen getan.) Weil aber die Bürokratie konterrevolutionär ist, findet es Trotzki notwendig, sie zu stürzen.(20) Dürfen wir also folgern, daß die Trotzkisten nach dem Sturz des Stalinismus diese sehr fortschrittliche Expansionspolitik fortsetzen würden?
Es gab natürlich bei solchen Auffassungen Trotzkis einige Schwierigkeiten im trotzkistischen Lager selbst. Man wandte ein, wenn die konterrevolutionäre stalinistische Bürokratie die Sowjetunion führe, dann müsse man eine neue Kategorie einführen: den „konterrevolutionären Arbeiterstaat“. Man warf sogar die Frage auf, ob nicht die stalinistische Bürokratie eine Klasse sei. Die Antwort auf diese und andere Einwände, die Trotzki in einem vom 18. Oktober 1939 datierten Aufsatze erteilt, ist wieder sehr aufschlußreich. Wenn das „bonapartistische Gesindel“ in Rußland eine Klasse wäre, dann würde dies ja bedeuten, „daß es nicht eine Fehlgeburt, sondern ein lebensfähiges Kind der Geschichte darstellt“; wenn der „plündernde Parasitismus“ dieser Bürokratie wirklich Ausbeutung im wissenschaftlichen Sinne wäre, „dann heißt das, daß die Bürokratie eine historische Zukunft als herrschende Klasse besitzt“. Also: Parasitismus kann keine Ausbeutung sein, weil sonst die Bürokratie eine geschichtliche Zukunft als Klasse besäße; eine Klasse kann sie aber nicht sein, weil sie ja sonst statt einer Fehlgeburt ein lebensfähiges Kind der Geschichte wäre, weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf. Und das nennt sich noch „Verteidigung des Marxismus“! (Ganz abgesehen davon, daß das „Kind“ seine Lebensfähigkeit seit fast dreißig Jahren beweist und in einem fürchterlichen Kriege behauptete.)
Bewegten sich schon diese Argumentationen Trotzkis im Kreise, so wird es geradezu komisch, wenn er sich der Methode der Analogie bedient, die hier allerdings schon eher Symbolismus ist. Er vergleicht nämlich die Sowjetunion mit einem schwer beschädigten, aber noch reparierfähigen Auto. Bei einem solchen müsse man untersuchen, welche Teile noch gut und welche unreparierbar seien, um zu wissen, wie man die Reparatur beginnen müsse.
„Der klassenbewußte Arbeiter wird gegenüber der Sowjet- Union eine ähnliche Haltung einnehmen. Er hat volle Berechtigung zu sagen, daß die Gangster der Bürokratie den Arbeiterstaat in ein ‚Teufel-mag-wissen-was-es-ist’ verwandelt haben. Aber wenn er von dieser explosiven Reaktion zur Lösung des politischen Problems übergeht, ist er gezwungen festzustellen, einen beschädigten Arbeiterstaat vor sich zu haben, in dem der Wirtschaftsmotor beschädigt ist, der aber noch fortfährt zu laufen und der durch Ersetzen einiger Teile vollkommen wiederhergestellt werden kann.“
Man sieht, das dialektische Denken ist bei Trotzki hier auf ... das Auto gekommen! „Natürlich ist dies nur eine Analogie“, bemerkt Trotzki. Die dialektische Kategorie der gesellschaftlichen Totalität kann aber höchstens durch einen Organismus verbildlicht werden, niemals durch einen Mechanismus, in dem das Ganze die bloße Summe des mechanischen Zusammenwirkens seiner Teile ist. So denken Mechanisten und ... Organisatoren!
So behauptet Trotzki, unerschüttert von den Einwänden der Opposition, nicht nur, daß auch ein „Arbeiterstaat“ eine konterrevolutionäre Rolle in der internationalen Arena spielen könne, sondern er sei auch im überlieferten (nichtmarxistischen) Sinne imperialistisch:
„Die treibende Kraft hinter der Moskauer Bürokratie ist zweifellos die Neigung, die eigene Macht, das Ansehen und die Einkünfte auszudehnen. Dies ist der Grundbestandteil des ‚Imperialismus’ im weitesten Sinne des Wortes, ein Grundbestandteil, der in der Vergangenheit eine Eigenschaft aller Monarchien, Oligarchien, herrschenden Kasten, mittelalterlichen Staaten und Klassen war.“
Verstehe man aber (mit Lenin) unter Imperialismus „die expansionistische Politik des Finanzkapitals“, so sei dies mit der Außen- und Kriegspolitik der „bonapartistischen Bürokratie“ nicht identisch. Die richtige Definition sei;
„Politik einer bonapartistischen Bürokratie eines entarteten Arbeiterstaates in imperialistischer Umfassung.“
Im Hinblick auf den Stalin-Hitler-Pakt erklärt aber Trotzki, daß unter gewissen Umständen bis zu einem gewissen Grad in einer bestimmten Form „die Unterstützung dieses oder jenes Imperialismus selbst für einen völlig gesunden Arbeiterstaat unumgänglich ist“, eben wegen der Unmöglichkeit, die Ketten der imperialistischen Weltbeziehungen zu zerreißen, jene imperialistische Umfassung zu brechen. So erklärt also Trotzki das Bündnis zwischen Hitler-Deutschland und Stalin-Rußland vom 23. August 1939. Er gibt zu, daß Moskau „jetzt damit beschäftigt“ sei, „Hitlers Ausplünderungspolitik zu decken“. Aber, fügt er hinzu, auch dies verwandele „die UdSSR noch nicht in einen imperialistischen Staat“ (d.h. im Sinne der Expansionspolitik des „Finanzkapitals“). Trotzki geht schließlich in der Verteidigung des mit dem nazistischen Deutschland verbündeten stalinistischen Rußlands ebenso weit wie damals auch WALTER ULBRICHT im Februar 1940 in der „Welt“ (Stockholm):
„Falls England und Frankreich morgen Leningrad und Moskau bedrohen würden, so sollten die französischen und englischen Arbeiter die entschiedensten Maßnahmen ergreifen, um den Versand von Truppen und militärischem Nachschub zu verhindern. Wenn sich Hitler durch die Logik der Dinge gezwungen sieht, Stalin militärische Unterstützung zu schicken, würden auf der anderen Seite die deutschen Arbeiter in dieser bestimmten Situation kaum Grund haben, zu streiken oder Sabotage zu verüben. Ich hoffe, niemand wird eine andere Lösung vorschlagen.“
Wenn aber z. B. Hitler den Versuch machen würde, sich die stalinistisch regierte Ukraine anzueignen, dann erklärt die IV. Internationale: „Gegen Hitler werden wir diese von Stalin versklavte Ukraine verteidigen.“ Die „unbedingte Verteidigung der UdSSR“ gehört eben zu ihrem Programm und das heißt nach Trotzki,
„daß wir die soziale Basis der Sowjetunion unabhängig von den Gründen und Ursachen des Krieges verteidigen werden, wenn sie von Seiten des Imperialismus mit Gefahr bedroht ist.“
Diese Verteidigung bezieht sich ausdrücklich und ausschließlich auf den „Arbeiterstaat“ UdSSR und auf „die Dinge in ihr, die zu einem Arbeiterstaat gehören“. Sahen wir aber nicht, wie schlecht es damit bestellt ist? Trotzdem fordert Trotzki von den Arbeitern der imperialistischen Staaten, daß sie „nicht das Interesse der Verteidigung der Sowjetunion (oder das der kolonialen Revolutionen) aus dem Auge verlieren“ dürfen. Dabei sieht Trotzki immerhin die theoretische Möglichkeit (1939!) der völligen Niederlage und des Verfalls der internationalen Arbeiterbewegung, in welchem Falle auch die Sowjetunion in der Form eines „bürokratischen Kollektivismus“ zu einer Ausbeutungsgesellschaft werden müsse. Wenn die reaktionären Kräfte in der Gesellschaft siegen, dann gebe es nur die Möglichkeit der Barbarei:
„Faschismus auf der einen, Entartung des sowjetischen Staates auf der anderen Seite umreißen die soziale und politische Form der Neo-Barbarei.“
Aber diese Möglichkeit als unvermeidlich anzusehen, entspräche einer Auffassung des tiefsten geschichtlichen Pessimismus. Zu einem solchen bestand nach Trotzkis Auffassung im Jahre 1939 noch kein Anlaß, indem er auf das in der Wochenausgabe der französischen Zeitung „Paris-Soir“ vom 31. August 1939 veröffentlichte Gespräch zwischen COULONDRE und Hitler verweist. Der französische Botschafter warnte Hitler in der letzten Unterredung vor seiner Abreise vor der Doppelzüngigkeit Stalins und sagte ihm:
„Der wirkliche Sieger (im Falle eines Krieges) wird Trotzki sein. Haben Sie das berechnet?“
Und Hitler gibt die „erstaunliche“ Antwort: „Ich weiß“, als ob es eine schon lange entschiedene Frage ist.
Trotzki findet dieses Gespräch wohl deswegen so merkwürdig, weil er es so deutet: die Vertreter der Barbarei zweifeln nicht daran, „daß ihre Barbarei durch die sozialistische Revolution besiegt wird“. Er glaubt, Coulondre habe nur dem Gespenst dieser Revolution einen persönlichen Namen gegeben.(21) Was würde wohl Trotzki im Jahre 1951 dazu gesagt haben, daß auf den II. Weltkrieg weder die sozialistische Revolution folgte noch der Trotzkismus siegte?
Im Jahre seiner Ermordung (1940) veröffentlichte Trotzki einen „Offenen Brief“ an den Genossen James Burnham, der gemeinsam mit dem Genossen Shachtman die Opposition gegen Trotzki begann, indem er die Frage nach der Natur des stalinistischen Staates aufwarf. (Wir stehen hier vor dem embryonalen Stadium seiner „managerial revolution“.) Aus diesem Briefe ist hier zunächst nur ein Punkt von Interesse: Trotzki behauptet nämlich (unter Berufung auf das Pariser Organ der Menschewiki), „daß der Vormarsch der Roten Armee (in Polen, Huhn) von einer Welle des revolutionären Aufschwungs begleitet war“, die sich bis zu den rumänischen Bauern verbreitete und daß die russische Invasion einen Bürgerkrieg darstelle, obwohl er „auf den Bajonetten von außen hereingetragen“ und von der Moskauer Bürokratie kontrolliert worden sei.(22) Da sich aber Trotzki in seiner polemischen Schrift „Von einer Schramme bis zur Krebsgefahr“ wenige Wochen später noch gründlicher mit der Opposition Burnham-Shachtman und ihren Thesen:
1) die Außenpolitik des Kremls ist „imperialistisch“;
2) die UdSSR kann nicht mehr „unbedingt“ unterstützt werden,
auseinandersetzte, gehen wir gleich zu einer Untersuchung und Betrachtung derselben über.
Aus Trotzkis Schrift geht zunächst einmal hervor, daß Shachtman Trotzki folgendes vorwirft: erstens sei er ein Anhänger einer bürokratischen Revolution statt einer Revolution durch die Massen; zweitens gebe er einer Tendenz der Kapitulation vor dem Stalinismus Ausdruck. Trotzki dagegen wirft Shachtman vor allem vor, daß er „in den Fußstapfen Burnhams stapfe“, dieses „Priesters der bürgerlichen Wissenschaft“. Doch zur Sache. Aber wo anfangen?
Beginnen wir damit, daß Shachtman Trotzki an jene Polemik erinnert, in der Lenin gegenüber Trotzki die Existenz eines reinen „Arbeiterstaates“ bestritt und erklärte, Trotzki wiederhole seinen Fehler von 1920 in der Diskussion über die Stellung der Gewerkschaften zum Sowjetstaat. Trotzki verteidigt sich zunächst damit, daß Lenin jene Definition des Sowjetstaates vom 30. Dezember 1920 am 19. Januar 1921 wie folgt berichtigt habe:
„Ich hätte sagen sollen: ‚Der Arbeiterstaat ist eine Abstraktion. In Wirklichkeit haben wir einen Arbeiterstaat, erstens mit der Besonderheit, daß im Lande nicht die Arbeiter-, sondern die Bauernbevölkerung überwiegt; und zweitens einen Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen’.“
Trotzki spricht von einem „bedeutenden Irrtum in der Redewendung über die Definition der Natur des Sowjetstaates“ und kann doch damit eigentlich nur meinen, daß Lenin erst sagte, man hätte in Wirklichkeit keinen Arbeiterstaat, sondern einen Arbeiter- und Bauernstaat.(23) Die Richtigstellung besteht also genau besehen nur darin, daß der Arbeiterstaat nicht zugleich auch ein Bauernstaat ist. Im übrigen gibt Trotzki seiner Ansicht Ausdruck, Lenin habe damals mit seiner Argumentation gegen ihn unrecht gehabt, denn „es gab keinen Meinungsunterschied zwischen uns über die Definition des Sowjetstaates“. Entscheidend sei vielmehr, daß die Definition von 1920/21 bis heute (1940) „unverändert konkret“ (welch eine Dialektik!) sei und in Verbindung mit der Verteidigung der UdSSR gegen den Imperialismus nach wie vor das Proletariat verpflichte, den gegebenen russischen Staat zu verteidigen.
Shachtman vertrat gegenüber Trotzki die Meinung, im Zusammenhang mit dem Gewerkschaftsproblem sei es 1920/21 richtig gewesen, die Frage nach der Art des in der Sowjetunion bestehenden Staates aufzuwerfen; ebenso richtig sei dies jetzt im Zusammenhang mit dem im September 1939 ausgebrochenen Kriege. Man könne den weit fortgeschrittenen Grad der Entartung des Sowjetregimes nicht immer wieder unter Hinweis auf die intakte „Existenz des nationalisierten Eigentums“ als nicht entscheidend behandeln. Ohne Zweifel hat Shachtman damit den wundesten Punkt der Position Trotzkis angerührt.
Damit stehen wir wieder vor dem Komplex: Privat- und Staatseigentum, Beziehung von Wirtschaft und Politik zueinander. Hat Trotzki inzwischen aufgrund seiner Auseinandersetzung mit Burnham und Shachtman seine bereits dargestellten Auffassungen modifiziert? Sehen wir zu. Wir finden in seiner Polemik einen Abschnitt mit dem Titel: „Das Abstrakte und das Konkrete: Wirtschaft und Politik“. Hier erklärt er es als eine Zeitverschwendung Shachtmans, den Beweis zu versuchen, daß das nationalisierte Eigentum nicht an und für sich, automatisch, augenblicklich und direkt die Politik des Kremls bestimme. Denn die „Eigentumsformen bestimmen“ erst „durch eine ganze Serie von Zwischenfaktoren und Wechselbeziehungen nicht allein die Politik, sondern das gesamte Geistesleben“. Wir lasen schon bei Trotzki die Wendung: „Wirtschafts- oder Eigentumsverhältnisse“ (1929). Hier scheinen wieder die Eigentumsformen den Wirtschaftsformen gleichgesetzt worden zu sein. Das Nationaleigentum könne schon deswegen die Politik des Kremls nicht unmittelbar bestimmen, weil es zwischen der durch die Oktoberrevolution gegründeten gesellschaftlichen Basis und den Tendenzen des staatlichen „Überbaues“ einen Gegensatz gebe; er – Trotzki – habe schon vor siebzehn Jahren (1923) öffentlich auf den wachsenden Widerspruch zwischen beiden hingewiesen. Schritt Für Schritt habe er die zunehmende Unabhängigkeit der Bürokratie vom Proletariat und ihre sich verstärkende Abhängigkeit von anderen Klassen und Gruppierungen, „sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes“ verfolgt und festgestellt. Ja, am Schluß seiner polemischen Schrift erklärt Trotzki sogar:
„Die Herrschaft der stalinistischen Bürokratie wäre ohne die GPU, die Armee, die Gerichte und so weiter undenkbar. Die Sowjetbürokratie unterstützt Stalin gerade deshalb , weil er der Bürokrat ist, der ihre Interessen am besten verteidigt.“
Welche Interessen denn, wenn Trotzki die Sowjetbürokratie 1932, wie wir uns erinnern, „als System der lebendigen Einwirkung der Massen auf die Wirtschaftsstruktur“ bezeichnete? Trotz dieser wachsenden Abhängigkeit der stalinistischen Bürokratie von anderen Klassen (welchen?) und zunehmenden Unabhängigkeit von der Arbeiterklasse will aber Trotzki die These vom „Arbeiterstaat“ nicht aufgeben. Seine Begründung offenbart seinen ganzen bolschewistischen (etatistischen) Doktrinarismus:
„Falls aber ... die UdSSR völlig aufgehört hätte, ein Arbeiterstaat zu sein, so wäre keine politische (nur gegen die ‚Sowjetbürokratie’, Huhn), sondern eine soziale Revolution erforderlich.“
Eine soziale Revolution jedoch verändert die ökonomische Struktur durch den Sturz einer herrschenden Klasse. Die Konsequenz also, die Trotzki ablehnt, besteht darin, die stalinistische Bürokratie als eine neue herrschende Klasse aufzufassen und ihr System als eine andere ökonomische Struktur. (Burnham zog diese Folgerung und entwickelte seine Theorie von der Revolution der Manager.)
Der eigentliche Gegenstand der Diskussion Trotzkis mit der Opposition Burnharm-Shachtman ist also nicht die Frage des „Arbeiterstaates“ an sich, sondern die Frage: „Ob die Sowjetunion noch ein Arbeiterstaat, wenn auch entartet ist oder ob er schon in eine neue Art Ausbeuterstaat umgeschlagen ist.“ Es ist deutlich, daß Trotzki und seine Anhänger sich verzweifelt so lange wie möglich mit anthropologischen und medizinischen Termini („degeneriert“, „gesund“) gegen die zweite Alternative zu wehren versuchen. Ihre Anerkennung würde ja den ganzen bolschewistischen Etatismus umwerfen. Trotzki selbst muß aber zugeben:
„1. die Züge, die im Jahre 1920 eine ‚bürokratische Deformation’ des Sowjetsystems darstellten, sind heute zu einem unabhängigen bürokratischen Regime ausgewachsen. das die Sowjets verschlungen hat;
2. die Diktatur der Bürokratie. die mit den inneren und internationalen Aufgaben des Sozialismus unvereinbar ist, hat tiefe Entstellungen im Wirtschaftsleben des Landes eingeführt und tut dies auch weiterhin;
3. aber grundlegend ist das System der Planwirtschaft auf Basis des verstaatlichten Eigentums an (den) Produktionsmittel(n) bewahrt geblieben und stellt auch weiterhin eine kolossale Errungenschaft der Menschheit dar.“
Wir glauben allerdings, daß dann der circulus vitiosus nur von neuem beginnen würde. Trotzki aber verweist, wie aus seinem „Offenen Brief an den Genossen Burnham“ hervorgeht, dieser Perspektive entsprechend, den Genossen Shachtman in einem Brief vom 20, Januar 1939 „auf die unbedingte Notwendigkeit, aufmerksam die innere Entwicklung der stalinistischen Partei zu verfolgen“. Und in seiner Polemik gegen ihn zitiert er die folgende Stelle aus diesem Brief:
„Ich kann nicht verstehen, warum der ‚Socialist Appeal’ immer wieder die stalinistische Partei vernachlässigt. Diese Partei stellt jetzt eine Masse von Widersprüchen dar. Spaltungen sind unvermeidlich. Die nächste wichtige Erwerbung (gemeint ist wohl ein Zuwachs der IV. Internationale, Huhn) wird sicherlich aus der stalinistischen Partei kommen. Unsere politische Aufmerksamkeit sollte darauf konzentriert werden.“
Da nun in einem möglichen Kriege imperialistischer Staaten gegen Rußland diese nicht nur die bürokratische Diktatur, sondern auch die staatliche Planwirtschaft liquidieren und das Land in Einflußsphären nach ihrem Sieg aufteilen würden, wäre eine Stabilisierung des Imperialismus durch diese erneute Kolonisierung Rußlands und damit wieder eine neue Schwächung des Weltproletariats (und wohl vor allem der Kolonialvölker) unvermeidlich.(24) Solange aber dieser Krieg keine Wirklichkeit darstellt, besteht die Hauptaufgabe der IV. Internationale darin:
„Es ist notwendig, die Bürokratie zu stürzen. Diese Aufgabe kann nur durch die Schaffung einer illegalen bolschewistischen Partei in der UdSSR bewältigt werden.“
Muß man aus einer solchen Perspektive nicht den Eindruck gewinnen, als ob das leitende Prinzip der ganzen trotzkistischen Politik die bloße Wiedereroberung der Macht in Rußland durch Trotzki und seine Anhänger ist?
Wir hörten von Trotzki, daß das System der Planwirtschaft auf der Basis des Staatseigentums an den Produktionsmitteln „auch weiterhin“ eine kolossale Errungenschaft der Menschheit darstelle. Er ist davon so überzeugt, daß er Shachtman gegenüber im Zusammenhang mit der russischen Expansion im Tone der Empörung eine polemische Frage stellt, ohne zu bemerken, welch ein interessantes Problem er damit aufwirft:
„Will Shachtman etwa im Zusammenhang mit der UdSSR sagen, daß das Staatseigentum an den Produktionsmitteln eine Bremse an der Entwicklung geworden ist und daß die Ausbreitung dieser Eigentumsform auf andere Länder eine ökonomische Reaktion darstellt?“
Warum eigentlich nicht? Würde eine solche Wandlung denn der Dialektik der Geschichte widersprechen? Auch das Privateigentum war einmal progressiv und verwandelte sich dann in eine Bremse der Entwicklung. Warum sollte ausgerechnet das Staatseigentum an den Produktionsmitteln einer solchen Dialektik nicht unterworfen sein, wenn ENGELS bereits im Jahre 1880 feststellte(25):
„Nur in dem Falle, daß die Produktions- oder Verkehrsmittel der Leitung durch Aktiengesellschaften wirklich entwachsen sind, daß also die Verstaatlichung ökonomisch unabweisbar geworden ist, nur in diesem Falle bedeutet sie, auch wenn der heutige Staat sie vollzieht, einen ökonomischen Fortschritt, die Erreichung einer neuen Vorstufe zur Besitzergreifung aller Produktivkräfte durch die Gesellschaft selbst.“
Sollte also nicht dort, wo im Laufe der inzwischen abgelaufenen siebzig Jahre die Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft selbst ökonomisch unabweisbar geworden ist – und nur dies ist schließlich Sozialismus! –, das vorhandene Staatseigentum an den Produktionsmitteln zu einem Hemmschuh der weiteren Entwicklung geworden sein? Und könnte nicht tatsächlich die Ausdehnung des russischen Staatskapitalismus auf vorgeschrittenere europäische Länder eine ökonomische Reaktion im Gefolge haben? Das Staatseigentum an den Produktionsmitteln (Etatismus) ist also bestenfalls eine Vorstufe zum Gesellschaftseigentum an ihnen (Sozialismus). Doch verdeckt die Bezeichnung „Eigentum“ noch den entscheidenden Umstand, daß die „Assoziationen der freien und gleichen Produzenten“ unmittelbare Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel haben müssen. Nur dies kam der Sinn der Äußerung von Engels sein, daß die Gesellschaft über das „formelle“ Stadium des Staatseigentums an den Produktivkräften hinaus „offen und ohne Umwege“, d.h. über den Staat, von den Produktivkräften Besitz ergreifen soll, (siehe Fußnote 25) Es ist die Stellung der gesellschaftlichen Gruppen im Produktionsprozeß, welche sie als Klassen konstituiert, erst post festum werden diese Positionen juristisch kodifiziert, d, h. als Eigentumsbeziehungen ausgegeben. Trotzki dagegen identifiziert die Klassen- und Eigentumsbeziehungen, indem er schreibt: „Klassen (Eigentums-)beziehungen“ (1940) und „Wirtschafts- oder ‚Eigentums’-verhältnisse“. Deswegen kann auch das bloße Staatseigentum an den Produktionsmitteln nur im Sinne eines „Juristensozialismus“ (Engels, 1887) ein sozialistisches Fundament schaffen; tatsächlich wird dieses erst mit der ersten, wenn auch vielleicht nur partiellen, Verfügungsgewalt der Produzenten über die Produktivkräfte geschaffen.
Betrachten wir nun im Lichte dieser marxistischen Auffassungen Trotzkis weitere Ausführungen über den „Arbeiterstaat“, seine Expansion und seine Verteidigung. Gegen seinen folgenden Satz könnte man scheinbar kaum etwas einwenden:
„Eine von den nationalen Einengungen befreite Planwirtschaft auf der Basis des sozialisierten Eigentums ist die Aufgabe des internationalen Proletariats, vor allem aber in – Europa,“
Wenn man nur nicht – und doch auch Trotzki selbst – unter „Sozialisierung“ nun einmal „Nationalisierung“ verstände! Er entwertet unmittelbar darauf selbst diesen Satz, indem er die „bürokratischen Methoden des Kremls“ bei der „Enteignung der Besitzenden in Polen und Finnland“ mit den „dynastischen Methoden der Hohenzollern bei der Einigung Deutschlands“ vergleicht.
„Zwischen der Verteidigung reaktionärer Eigentumsformen durch reaktionäre Mittel und der Einführung fortschrittlicher Eigentumsformen durch bürokratische Methoden wählen (wir) das kleinere Übel.“
Immerhin werden also hier die bürokratischen Methoden zu Mitteln der Einführung fortschrittlicher Eigentumsformen und da es sich um eine Durchführung von Verstaatlichungsmaßnahmen, also um eine Ausdehnung bürokratischer Verfügungsgewalt handelt, werden sich die Bürokraten freuen, wenn man ihnen bescheinigt, daß sie den Fortschritt bewerkstelligen. Es ist aber die gleiche Bürokratie, der Trotzki vorwirft:
„Die Verteidigung ihres eigenen parasitären Interesses nimmt bei der Bürokratie den ersten und entscheidensten Platz in der gegenwärtigen Außen- und Innenpolitik ein. Dagegen richten wir einen tödlichen Kampf, aber in letzter Analyse wird auch trotz des Interesses der Bürokratie in einer sehr entstellten Form das Interesse des Arbeiterstaates wiedergespiegelt.“
Das gilt – wie gesagt – für die bewaffnete Intervention Rußlands aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes in Ost-Polen und seinen Einfall in Finnland. Selbst unter solchen Umständen verteidigt die IV. Internationale die Interessen des Arbeiterstaates, denn unabhängig von den Zielen dieser oder jener Regierung, unabhängig von den Anlässen, die zum Kriege führen mögen, schreibt Trotzki, wird in dem gegenwärtigen Kriege „zwischen der UdSSR und der kapitalistischen Welt“ (1940) auch das Schicksal jener „historischen Errungenschaften“ verwickelt, „die wir bedingungslos verteidigen, bedingungslos d. h., trotz der reaktionären Politik der Bürokratie“. Natürlich kennen wir diese historischen Errungenschaften schon: „das Staatseigentum und das Außenhandelsmonopol.“ Das Interesse des Arbeiterstaates ist offenbar mit diesen identisch. So behauptet Trotzki, der Einfall der Roten Armee in Ost-Polen am 17. September 1939 habe einen „bürokratischen Impuls in Richtung auf die sozialistische Revolution“ ausgelöst und dies wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht die Bürokratie – vermutlich in „letzter Analyse!“ –“ihre Wurzeln in einem Arbeiterstaat“ hätte! Das stimmt sogar, denn wir haben gesehen, daß die Definition „Arbeiterstaat“ allein noch auf dem Staatseigentum an den Produktionsmitteln und auf dem staatlichen Außenhandelsmonopol beruht, und beides sind tatsächlich die juristischen „Wurzeln“ der Bürokratie. Worin bestand aber die soziale Umwälzung in den von der stalinistischen Armee besetzten Gebieten? Das westliche Bjelorußland und die westliche Ukraine (das frühere Ost-Polen) wählten eine Nationalversammlung.
„Das Wahlprogramm, das natürlich vom Kreml diktiert war enthielt drei äußerst wichtige Punkte: den Anschluß beider Provinzen an die Föderation der UdSSR, die Konfiskation der Rittergüter zugunsten der Bauern und die Nationalisierung der Schwerindustrie und der Bänken.“
Es war also im wesentlichen das Programm der agrarischen Revolution eines industriell zurückgebliebenen Landes, wie es in ganz Eurasien immer wieder auftauchen wird, oft sogar mit dem ersten Punkt, wenn das Land im Machtbereich Rußlands liegt. Trotzki aber erklärt, der Kreml, der doch das Wahlprogramm diktierte, sei durch
„nichts anderes als die soziale Grundlage der Sowjetunion ... zu einem Sozialrevolutionären Programm“
gezwungen worden! Er habe trotz seines Bündnisses mit dem Nationalsozialismus jene sozialen Veränderungen durchgeführt Doch, in welchem Sinne zwang „die soziale Grundlage der Sowjetunion“ die Kreml-Bürokratie zur sozialen Revolution in Ost-Polen? Trotzki selbst gibt darauf eine eindeutige Antwort: „Hätte sie dies nicht gemacht, so hätte sie das Land auch nicht in die UdSSR aufnehmen können,“!
Nun hat es aber bekanntlich Enteignungen des Großgrundbesitzes zugunsten der Bauern und Verstaatlichungen von Banken und Schwerindustrie auch schon in anderen Ländern gegeben, deren Staaten auch Bürokratien aufweisen, die vom Proletariat unabhängig und dafür abhängig von anderen Klassen und Gruppierungen sind. Wir haben aber nie gehört, daß die Arbeiter die „sozialistischen Fundamente“ dieser Länder verteidigen sollen. Trotzki selbst zitiert nun in seiner Polemik gegen Shachtman einige Absätze aus der „New York Times“ über das frühere Ost-Polen, in denen auch die folgenden Sätze stehen:
„In der Industrie sind bis jetzt drastische Enteignungsakte noch nicht in großem Umfange durchgeführt worden. Die Hauptzentren des Banksystems, des Eisenbahnsystems und einer Anzahl größerer Industrieunternehmen wurden schon Jahre vor der russischen Besetzung verstaatlicht. In kleineren und mittleren Industrien üben die Arbeiter jetzt eine Produktionskontrolle aus.“
In den kleineren und mittleren Industrien dürfen die Arbeiter also die Produktion kontrollieren, in den- größten und verstaatlichten jedoch nicht. Was folgt aber aus der Tatsache, daß umfangreiche Enteignungen nach der russischen Besetzung in der Industrie nicht einmal stattgefunden haben? Und das trotz der programmatischen Forderung der Nationalisierung der Schwerindustrie und der Banken? Lag dies etwa daran, daß die Hauptbanken, die Eisenbahnen und größeren Industrieunternehmungen schon vor dem Einmarsch der Roten Armee vom kapitalistischen polnischen Staate enteignet worden waren und damit „eine kolossale Errungenschaft der Menschheit“ schon vorhanden war? So bleibt als wesentlicher Punkt der von der Roten Armee in Ost-Polen ausgelösten gesellschaftlichen Veränderungen nur die „agrarische Revolution“ übrig, die Trotzki auch ausführlicher behandelt.(26) Was hat aber die Ausbreitung der eurasiatischen Bauernrevolutionen und der sich auf ihnen erhebende staatskapitalistische Aufbau einer nationalen Großindustrie mit der Errichtung und Verteidigung bzw. Expansion eines „Arbeiterstaates“ zu tun?
Vom Arbeiterstaat war schließlich schon bei Trotzki selbst nichts mehr übrig geblieben als die Staatsplanwirtschaft auf der Basis des Staatseigentums an den Produktionsmitteln. Die Socialist Workers Party in den Vereinigten Staaten diskutierte zwar immerhin schon darüber, ob man noch an der Definition „Arbeiterstaat“ festhalten könne, erklärt aber bereits, „daß man die Planwirtschaft weiterhin verteidigen“ müsse. Wir begreifen jetzt, daß sie tatsächlich konsequente Trotzkisten sind: Die Definition „Arbeiterstaat“ ist nicht so verteidigungswürdig wie die Staatsplanwirtschaft und das Staatseigentum an den Produktionsmitteln ... nämlich für Etatisten. Es war richtig von der Genossin Natalie Trotzki, sich von den Trotzkisten abzuwenden, aber im Namen und im Geiste Trotzkis konnte sie es nicht tun. Selbst aus der Perspektive des „tiefsten geschichtlichen Pessimismus“ heraus, der Auffassung Rußlands als eines neobarbarischen Systems, der theoretischen Möglichkeit einer weder bürgerlichen noch sozialistischen Ausbeutungsgesellschaft des „bürokratischen Kollektivismus“, würde nach Trotzki noch nicht die Folgerung zu ziehen sein, die These der unbedingten Verteidigung der Sowjetunion aufzugeben, wenn und solange noch die Staatsplanwirtschaft und das Staatseigentum an den Produktionsmitteln in ihr besteht. Daher müssen wir Natalie Trotzki widersprechen, wenn sie den Trotzkisten erklärt, sie sehe keinen der Gedanken Trotzkis in ihrer Politik. Es sind deren – leider! – nur zu viele. Und das Schlimmste: es waren schon zu Lebzeiten Trotzkis „alte und überlebte Formulierungen“. Die neue Arbeiterbewegung wird sowohl die Formeln des Trotzkismus wie die trotzkistischen Offiziere zur Bewältigung ihrer Aufgaben entbehren können.
(1) „pro und contra“, Berlin, 2. Jhg., Nr. 7/8, Juli-August 1951, S. 119-120.
(2) „pro und contra“, Berlin, 2. Jhg., Nr, 9, September 1951, S. 132 bis 134.
(3) Leo D. Trotzki, „Die Sowjetmacht und der internationale Imperialismus“, Promachos-Verlag, Belp-Bern 1918, S, 21-22.
(4) Jacques Sadoul, „Briefe aus der Sowjetrepublik. Moskau 1918“, (25./28. Juli 1918), Berlin-Wilmersdorf 1919, S. 28.
(5) Wladimir Kossowski, „Das bolschewistische Regime in Rußland“, Olten/Schweiz 1918, S. 37. (Der Verfasser war damals Mitglied des ZK der jüdischen sozialdemokratischen Partei „Bund“, der ältesten Arbeiterorganisation im Siedlungsgebiet der Juden Rußlands.]
(6) Vgl. meinen Aufsatz: „Lenins Staatskapitalismus 1917-1922“ in: „Funken“, 2. Jhg., Nr. 7, Dezember 1951, S. 3 ff.
(7) W. I. Lenin, „Über Gewerkschaften“, ein Sammelband. Wien/Berlin 1927, S. 88.
(8) Leo D. Trotzki, „Die wirkliche Lage in Rußland“, autorisierte Ausgabe. Übersetzung von Wilhelm Cremer. Avalun-Verlag, Hellerau bei Dresden, o. J., (8.-12. Tausend) , S. 100. (Nach der Mitteilung der „Neuen Bücherschau“, VII/6, vom Juni 1929 ist dieses Buch „aus zufälligen Zeitungsartikeln zusammengestellt und wird von Trotzki als Buchpublikation nicht anerkannt“. /S. 299/ Bei der Schwierigkeit in der Beschaffung von Trotzki-Literatur werden wir wohl über die Differenzen Trotzkis mit dem Avalun-Verlag hinweggehen müssen, wenn nur die in jenem Sammelbande zusammengefaßten Zeitungsartikel „zufällig“ von Trotzki selbst verfaßt worden sind. Außerdem interessieren wir uns ganz besonders für seine „zufälligen Zeitungsartikel“ ...)
(9) Leo D. Trotzki, „Die wirkliche Lage in Rußland“. aaO, S. 69, 84, 145 und 285.
(10) Leo D. Trotzki, „Ein Programm der internationalen Revolution – oder das Programm des Sozialismus in einem Lande?“ in: „Die Aktion“, Herausgeber Franz Pfemfert, XVIII. Jhg., Doppelheft 10-12, Mitte Dezember 1928, S. 195.
(11) Leo D. Trotzki, „Mein Kampf mit Stalin“, in: „Das Tagebuch“, X. Jhg., Heft 10, (9. März 1929), S. 381.
(12) Siehe den Bericht über den Vortrag des russischen Majors Sokolka, „Sozialismus oder Staatskapitalismus“ in: „Tägliche Rundschau“, Berlin, Nr. 122 vom 29. Mai 1947. (Dieser Vortrag richtete sich gegen den Genossen Franz Rotter, München (jetzt in Augsburg).
(13) Leo D. Trotzki, „Aus meinem Leben“, Berlin 1929, S.424.
(14) Leo D. Trotzki, „Die permanente Revolution“, Berlin-Wilmersdorf 1930, S. 7, 13 und 15.
(15) Leo D. Trotzki, „Erfolge des Sozialismus und Gefahren des Abenteurertums“ in: „Die Aktion“, XXI. Jhg., Heft 1/2, April 1931, S. 4, 6-7 und 15-16.
(16) Leo D. Trotzki, „Sowjetwirtschaft in Gefahr. Vor dem zweiten Fünfjahresplan“, Berlin-Neukölln November 1932, S. 19, 29, 31, 32.
(17) Ebenda, S. 5, 18, 21-24, 28, 38, 40.
(18) Siehe oben Anmerkung Nr.. 10, S. 193.
(19) Leo D. Trotzki, „Ist die Umwandlung der Sowjets in eine parlamentarische Demokratie wahrscheinlich?“ in: „Die Neue Bücherschau“, 7. Jhg., Heft 6, Juni 1929, S. 295, 296-298.
(20) Leo D. Trotzki, Brief an den Genossen Sherman Stanley, unterzeichnet „Crux“, datiert vom 8. Oktober 1939.
(21) Leo D. Trotzki, „Aber und abermals über die Natur der Sowjetunion. Psychoanalyse und Marxismus“, datiert vom 18. Oktober 1939.
(22) Leo D. Trotzki, „Offener Brief an den Genossen Burnham“, datiert in Coyoacuan D. F. am 7. Januar 1940.
(23) Vgl. W. I. Lenin, „Sämtliche Werke“, Bd. XXVI: „Vom Kriegskommunismus zur Neuen ökonomischen Politik 1920-1921“, Moskau 1940, S. 83 und 108.
(24) Hier zitiert nach „pro und contra“, Nr. 9, 1951, S.132.
(25) Friedrich Engels, „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“, Berlin 1945, S. 54-56.
(26) Leo D. Trotzki, „Von einer Schramme bis zur Krebsgefahr“, Polemik gegen Shachtman, datiert in Coyoacan D. F. am 24. Januar 1940.
(Die unter Nr. 20 – 22 und 26 angeführten Briefe und Schriften Trotzkis liegen mir zur Zeit nur abschriftlich ins deutsche übersetzt vor. Ich verdanke sie dem Genossen Klaus Schütz. Ihr Inhalt deckt sich offensichtlich weitgehend mit der in Nr. 24 nach „pro und contra“ zitierten Schrift Trotzkis, „In Defense of Marxism“ – „In Verteidigung des Marxismus“ –; jedenfalls sind Nr. 21 und 26 in der letzteren enthalten. – W. H.)
Zuletzt aktualisiert am 19.6.2008