Chris Harman


Basis und Überbau

(1986)


Chris Harman, Base and Superstructure, International Socialism 2:36, Sommer 1986, S.3-44.
Übersetzung Copyright © 1998 Verein für Geschichte und Zeitgeschichte der Arbeiterbewegung (VGZA) e.V.
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[Einleitung]

In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftlichen Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten ... [Man kann nicht] eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären ... In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und moderne bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden.
(Karl Marx, Auszug aus dem Vorwort, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in MEW, Bd.13, Berlin 1964, S.8–9.)

Es gibt eine große Verwirrung im Kern des Marxismus

Marx und Engels lieferten eine Methode zur Analyse der Gesellschaft, die von großer Fruchtbarkeit gewesen ist. Das hat sich in jeder Generation gezeigt, seit die Methode zum ersten Mal 1846 in der Deutschen Ideologie skizziert wurde. Jede Erklärung des „Todes des Marxismus“ seitens bürgerlicher Ideologen hat sich innerhalb etwa eines Jahrzehnts als falsch bewiesen durch eine neue Reihe von marxistischen Untersuchungen der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Geschichte.

Trotzdem, wenn es dazu gekommen ist, genau zu erklären, was der marxistische Ansatz ist, hat es große Verwirrung gegeben und „Marxisten“ haben offenbar [anscheinend] widersprüchliche Sachen gesagt.

Marx schrieb im Vorwort zum Buch Zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1857, daß „die ökonomische Struktur der Gesellschaft“ die „reale Basis“, worauf „sich ein juristischen und politischer Überbau erhebt“. [1]

Seitdem haben Marxisten über diese Äußerung gestritten. Was ist die „Basis“? Die Wirtschaft? Die Produktivkräfte?? Technik [Technologie]? Die Produktionsverhältnisse? Was umfaßt der Überbau? Offensichtlich der Staat. Aber wie ist es mit Ideologie (und revolutionäre Theorie)? Mit der Familie? Mit dem Staat, wenn ihm die Industrie gehört?

Schließlich was ist das Verhältnis zwischen der „Basis“ und dem „Überbau“? Bestimmt die Basis den Überbau? Wenn ja, was genau ist das Wesen der Bestimmung? Und hat der Überbau eine Grad „Autonomie“ –und wenn ja, wie kann man das in Übereinstimmung mit dem Gerede über „Bestimmung“ ( auch wenn sie bloß „Bestimmung in letzter Instanz“ ist)?

 

 

Der mechanische Materialismus und seine Folgen

Die auf diesen Fragen gegebenen Antworten führen zu ganz unterschiedlichen Ansichten darüber, wie die Gesellschaft sich entwickelt.

Auf einem Extrem gibt es die Ansicht, daß die Basis aus den Produktivkräften besteht, daß sie unvermeidlich fortschreiten und daß das der Reihe nach zu Veränderungen in der Gesellschaft führt.

Der politische und ideologische Kampf werden keine unabhängige Rolle zugeschrieben. Die Menschen sind Produkte ihrer Umstände und die Geschichte schreitet völlig unabhängig von ihrem Willen weiter. Das Ergebnis von Kriegen, Revolutionen, philosophischen Auseinandersetzungen oder was auch immer wird immer im voraus bestimmt. Es hätte keinen Duett des Unterschieds zur Geschichte gemacht, ob Robespierre unter eine Kutsche im Jahre 1788 gelaufen wäre oder ob der plombierte Zug im April 1917 verunglückt hätte.

Diese Ansicht über den Marxismus beruht sich auf eine bestimmte Lesung von Marx selbst, insbesondere auf eine mächtige polemische Passage im Buch Das Elend der Philosophie:

Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten. [2]

In den Jahren nach Marx’ Tod wird eine solche mechanische deterministische Anschauung der Geschichte als die „marxistische“ Orthodoxie betrachtet. Während dieser Periode wurde der Marxismus in der deutschen Arbeiterbewegung und dadurch in der Zweiten Internationale hegemonisch. Aber sie war der Marxismus, wie durch die Augen von Karl Kautsky, den „Papst des Marxismus“ betrachtet.

Für Kautsky hatte die historische Entwicklung unvermeidlich jede Produktionsweise der Reihe nach produziert – die Antike, den Feudalismus den Kapitalismus – und sie würde schließlich zum Sozialismus führen. Es Gang eine „unvermeidliche ... Anpassung der Aneignungsformen den Produktionsformen“. [3] Revolutionäre Bewegungen könnten nicht dieses Muster der Entwicklung ändern. So konnten die Suiten des 15. Jahrhunderts und die revolutionären Wiedertäufer des 16 Jahrhunderts mutig kämpfen und die Vision einer neuen Gesellschaft vorstellen; aber für Kautsky konnten sie nicht die unvermeidliche Entwicklung der Geschichte ändern:

Die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung hängt nicht von der Anwendung von friedlichen Methoden oder gewalttätigen Kämpfen ab, sie wird durch den Fortschritt und die Bedürfnisse der Produktionsmethoden bestimmt. Wenn das Ergebnis von gewalttätigen revolutionären Kämpfen nicht den Absichten der revolutionären Kämpfer entspricht, deutet das an, daß diese Absichten im Gegensatz zur Entwicklung der Bedürfnisse der Produktion stehen.

Gewalttätige revolutionäre Kämpfe können nie die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmen, sie können bloß unter bestimmten Umständen ihr Tempo beschleunigen ... [4]

Die Aufgabe der revolutionären Sozialisten unter dem modernen Kapitalismus bestand nicht darin, den historischen Prozeß vorzeitig abzubrechen, sondern einfach darin, seine Entwicklung zu widerspiegeln, indem man die sozialistische Organisation aufbaute, bis der Kapitalismus bereit war, sich in den Sozialismus umzuwandeln. Aber gleichzeitig konnten Konterrevolutionäre nicht den Aufmarsch der Produktivkräfte und deswegen der historischen Evolution nach vorne aufhalten. Kautsky bestand darauf, daß die „rückläufige Entwicklung“ von fortgeschritteneren auf rückständigere Produktivkräfte nie passierte. [5] „Die ökonomische Entwicklung“, sagt sein einflußreichste Werk, seine Einleitung zum Erfurter Programm der SPD, „wird unvermeidlich zur ... der Eroberung der Regierung im Interesse der [Arbeiter]klasse führen.“ [6]

Sehr eng an Kautskys Formulierungen waren diejenigen des Pioniers des russischen Marxismus, Plechanow. Er hielt, daß die Entwicklung der Produktion automatisch zu Änderungen im Überbau führte. Es gibt keine Weise, wie menschliche Bestrebungen die Entwicklung der Produktivkräfte hindern [blockieren] kann. „Die soziale Entwicklung" ist „ein Gesetz ausdrückender Prozeß“. [7] „Die Produktivkräfte ... bestimmen ... soziale Verhältnisse, d.h. ökonomische Verhältnisse“. [8]

Er liefert eine „Formel“, die eine Hierarchie der Kausalität in der Geschichte darlegt. Der „Zustand der Produktivkräfte“ bestimmt die „ökonomischen Verhältnisse“ der Gesellschaft. Ein „sozialpolitisches System“ entwickelt sich auf dieser „ökonomischen Basis“. „Die Mentalität der in der Gesellschaft lebenden Menschen“ wird „teilweise unmittelbar von den bestehenden ökonomischen Bedingung [Umständen] und teilweise vom ganzen sozialpolitischen System bestimmt, das auf dieser Grundlage entstanden ist“. Und schließlich: Die „verschiedenen Ideologien ... widerspiegeln die Eigenschaften dieser Mentalität“. [9]

Er behauptete: „Die Geschichte wird von Menschen gemacht“, ging aber dann weiter und bestand darauf: „Die durchschnittliche Achse der intellektuellen Entwicklung der Menschheit“ läuft „parallel zu der der wirtschaftlichen Entwicklung", so daß letzten Endes alles, was wirklich zählt, die wirtschaftliche Entwicklung ist. [10]

Der Ausgang von großen historischen Ereignissen wie der Französischen Revolution, hing überhaupt nicht von der durch Individuen wie Mirabeau oder Robespierre gespielten Rolle ab:

Egal was die Qualitäten eines gegebenen Individuums sein mögen, können sie nicht die gegebenen ökonomischen Verhältnisse beseitigen, wen letztere dem gegebenen Zustand der Produktivkräfte entsprechen.

Menschen mit Talent können bloß individuelle Merkmale [Züge] der Ereignisse ändern, nicht ihre allgemeine Tendenz. [11]

Genau wie Kautskys Interpretation des Marxismus in den Parteien der zweiten Internationale dominierte, so wurde Plechanows von den stalinistischen Parteien als die Orthodoxie ab ende der 1920er Jahre aufgenommen. [12] In den Händen Stalins und seiner „Theoretiker" wurde sie zu einem unbiegsamen Gesetz der Geschichte: Entwicklung der Produktivkräfte führte unvermeidlich zu entsprechenden Änderungen in der Gesellschaft, so würde das Wachstum der Industrie in Rußland unvermeidlich von einem „Arbeiterstaat“ zum „Sozialismus“ und vom „Sozialismus“ zum „Kommunismus“ führen, egal welches Elend und Not das bedeuten würde; Im Gegensatz dazu war das deutlichste Zeichen, das der westliche Kapitalismus sich überlebt hätte, war der Rückgang seiner Produktivkräfte.

Die Reaktion gegen den Determinismus. Der stalinistische Marxismus überlebte Stalin selbst nicht lange. Die „neue Linke“ Ende der 1950er Jahre sowie die maoistische Linke Mitte der 1960er Jahre gingen zu Angriffen auf die grobe mechanische, deterministische Darstellung der Geschichte über.

Sie bestanden zurecht darauf, daß in Marx’ eigenen historischen Schriften – Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Der Bürgerkrieg in Frankreich – es keine Andeutung auf einen passiven fatalistischen Ansatz zur historischen Änderung gibt. Sie legten auch große Betonung auf bestimmte Bemerkungen, die Engels in einer Reihe Briefen ganz am ende seines Lebens während der 1890er Jahre schrieb, worin er eine übergrobe Anwendung des historischen Materialismus kritisierte. Engels hatte an Starkenburg geschrieben:

Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sei alle reagieren aufeinander und auf die ökonomische Basis. Es ist nicht, daß die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung. sondern es ist Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit. [13]

Und an Bloch:

Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. – Rechtsformen , und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten ... als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt. [14]

Die neue Linke der Periode nach 1956 ging weiter und argumentierte, daß auch die Begriffe „Basis und Überbau“ einfach eine Metapher waren, die man nicht zu ernst nehmen soll. Die „Wechsel“-Wirkung des Überbaus auf die Basis bedeutete, daß „Bestimmung“ nicht als strenges kausales Verhältnis zu betrachten war.

Die maoistische Linke fing nicht mit einem expliziten Bruch mit der Vergangenheit an. Der Nestor dieser Schule, Louis Althusser, war ganz bereit, Stalin selbst in seine Schriften Anfang der 1960er Jahre positiv zu zitieren.

Aber die Althusserianer schufen eine neue theoretische Struktur, die die Mehrheit des Inhalts der alten Begriffe „Basis“, „Überbau“ und „Bestimmung“ vernichtete. Die Gesellschaft bestand aus einer Anzahl von verschiedenen Strukturen – der politischen, der ökonomischen, der ideologischen, der linguistischen –, die sich je nach dem eigenen Tempo entwickelten und die je eine Auswirkung auf die anderen hatten. Zu jedem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte könnte jede von ihnen die anderen dominieren. Nur „in der letzten Instanz“ war die ökonomisch die „bestimmende“.

Die neu-linke und die maoistisch-althusserianische Schulen waren ursprünglich gegenseitig sehr feindselig. [15] Trotzdem definierten die beiden den historischen Materialismus in einer Weise neu, die die Tür zu einer großen Ration Voluntarismus eröffnete.

für die Neue Linke der 1950er Jahre bedeutete das eine Bewegung weg von jeder festen Definition von Klasse oder jede wirkliche Sorge darüber, wie das gesellschaftliche Sein das gesellschaftliche Bewußtsein beeinflussen könnte. In den Schriften der prominentesten Persönlichkeit der britischen Neuen Linke , E.P. Thompson, über aktuelle Ereignisse – durch und durch von seinem 1960er Aufsatz Revolution [16] zu seinen Schriften gegen Kurzstreckenraketen [Marschflugkörper] während der 1980er Jahre – gibt es die die beharrliche Botschaft, daß Energie Hüne guter Wille und eine Zurückweisung aller festen Kategorien an sich ausreichen können, um den weg zum Sieg zu eröffnen. In seinen theoretischeren Schriften lehnt er die Ansicht ab, daß „ökonomische“ Faktoren überhaupt eine bestimmende Rolle in der Geschichte spielen oder auch daß sie sich von anderen Faktoren wie dem ideologischen bzw. juristischen trennen lassen. [17]

Althussers Ton ist anders: In seinen früheren Schriften ist der Schlüssel zur Veränderung immer noch eine Partei einer wesentlich stalinistischen Art. [18] Aber es gibt das gleiche Element des Voluntarismus wie in Thompson: Wenn die Partei nur die Artikulation der verschiedenen Strukturen versteht, kann sie das Tempo der Geschichte beschleunigen trotz den „ökonomischen“ Faktoren.

Die Mehrheit seiner Anhänger haben jede Vorstellung der „Bestimmung“ auch „in der letzten Instanz“ aufgegeben, und haben sich zu Positionen verlegt, die jede Möglichkeit leugnen, daß man verstehen kann, wie sich Gesellschaften ändern. So z.B. erzählt uns jetzt ein englischer Postalthusserianer, Gareth Stedman-Jones, daß die einzige Weise, eine Ideologie zu verstehen, ist durch ihr Selbstverständnis und daß man keinen Versuch unternehmen soll, ihre Entwicklung durch die materiellen Umständen von denen zu interpretieren, die ihre Anhänger sind. [19] Wir sind jetzt zurück beim alten empirizistischen Sprichwort: „Alles ist das, was es ist, und nichts anderes“. Dieser Gemeinplatz ist das Ergebnis der langwierigen, komplizierten und raffinierten Überlegungen des Althusserianismus. [1*]

Die Annäherungen der alten Neuen Linke und der Althusserianer hat eine Art „gesunden Menschenverstand“ unter Marxisten geschaffen, der der Meinung ist, daß alle Rede über Basis und Überbau wirklich altmodisch ist. So weitverbreitet ist der Einfluß dieses „gesunden Menschenverstands“ gewesen, daß er auch Menschen beeinflußt hat, die die politischen Schlußfolgerungen von Thompson bzw. Althusser ablehnen. [19]

Der einzige konzertierte Widerstand gegen diese Tendenz ist von Verehrern des orthodoxen analytischen Philosophen G.A. Cohen gekommen. [20] Aber seine Verteidigung bedeutet einen völligen Rückzug zur mechanischen Interpretation von Kautsky und Plechanow.

Die revolutionär-materialistische Alternative. Historisch gesehen, hat es jedoch immer eine revolutionäre Alternative zum mechanischen Materialismus bzw. zum Voluntarismus gegeben. Sie existierte zum Teil auch in der Blütezeit des Kautskyanertums in einigen Schriften von Engels und im Werk des italienischen Marxisten, Labriola. [21]

Aber die Notwendigkeit einer theoretischen Alternative wurde erst in der breiteren Öffentlichkeit deutlich, als der Erste Weltkrieg und die Russische Revolution den Bankrott des Kautskyanertums bewiesen. Dann las Lenin Hegel wieder und kam zum Schluß: „Der intelligente (dialektische) Idealismus steht dem intelligenten Materialismus viel näher als der dumme (metaphysische) Materialismus.“ [22]

In den folgenden Jahren versuchten Denker wie Georg Lukacs, Karl Korsch und Antonio Gramsci alle, Versionen des historischen Materialismus zu liefern, die nicht die menschliche Tätigkeit einfach als passive Widerspiegelung anderer Faktoren betrachtete. In seiner ausgezeichneten Geschichte der Russischen Revolution lieferte Leo Trotzki eine Darstellung eines welthistorischen Ereignisses, die massive Betonung auf subjektive wie objektive Faktoren – und er wurde dafür von einem plechanowschen Standpunkt kritisiert. [23]

eine nicht mechanischen nichtvoluntaristische Version des historischen Materialismus ist heute absolut notwendig. Man kann sie leicht in den Werken von Marx finden, wenn man seine klassische Darlegung im Vorwort zu Zur Kritik der politischen Ökonomie, mit dem ergänzt, was er in der Deutschen Ideologie, im Elend der Philosophie, im Kommunistischen Manifest und anderswo sagt.

Produktion und Gesellschaft

Marx legt seine Darstellung des historischen zum ersten Mal im Buch Die deutsche Ideologie dar.

Er fängt von einer materialistischen Anerkennung der Tatsache, daß Menschen biologisch Teil der Natur sind:

Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigne Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar.

... Die erste zu konstatierende Tatbestand ist also die körperliche Organisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur ... Alle Geschichtsschreibung muß von diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Lauf der Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen.

Wir müssen „damit anfangen, daß wir die erste Voraussetzung aller menschlichen Existenz, also auch aller Geschichte konstatieren, nämlich die Voraussetzung, daß die Menschen imstande sein müssen zu leben, um „Geschichte machen“ zu können. Zum Leben gehört vor Allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere ... [Dies ist] eine Grundbedingung aller Geschichte, die noch heute, wie vor Jahrtausenden, täglich und stündlich erfüllt werden muß, um die Menschen nur am Leben zu erhalten. [24]

Also, zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte gibt es eine Kerntätigkeit, die eine Voraussetzung für alles andere ist, das passiert. Diese ist die Tätigkeit der Verarbeitung der materiellen Welt, um essen, Wohnung und Kleidung zu bekommen.

Der Charakter dieser Tätigkeit hängt von der konkreten materiellen Lage ab, worin die Menschen sich befinden.

Diese bestimmt den Inhalt der grundsätzlichsten Formen der menschlichen Tätigkeit. Und daher bestimmt sie auch, wie die Individuen selbst sind.

Diese Weise der Produktion ist nicht bloß nach der Seite hin zu betrachten, daß sie die Reproduktion der physischen Existenz der Individuen ist. sie ist vielmehr schon eine bestimmte Art der Tätigkeit dieser Individuen, eine bestimmte Art, ihr Leben zu äußern, eine bestimmte Lebensweise derselben. Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. [So:] Was die Menschen also sind, das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion. [25]

Diese Passagen lasen sich nicht verstehen, wenn man Marx’ zentralen Punkt über die menschliche Tätigkeit – am besten in den „Thesen über Feuerbach“ ausgedrückt (die zur gleichen Zeit wie Die deutsche Ideologie geschrieben wurden) – nicht versteht. Für Marx ist die Menschheit Teil der Natur. Sie entsteht als Produkt der biologischen Evolution, und man muß nie ihre physische Abhängigkeit von der umliegenden materiellen Welt vergessen. Alle ihre Einrichtungen, Vorstellungen, Träume und Ideale lassen sich erst dann verstehen als Sachen, die aus dieser materiellen Realität entstehen – auch wenn der Weg, wodurch sie entstehen, oft lang und verwickelt ist. Wie Labriola es ausdrückte: „Ideen fallen nicht vom Himmel und Nichts kommt zu uns in einem Traum.“ [26]

Aber das heißt nicht, daß die Menschen sich nicht von der übrigen Natur unterscheiden. Wie jede andere Spezies hat die Menschheit ihre kennzeichnende Merkmale. Für Marx war das wichtigste dieser kennzeichnenden Merkmale die Weise, wie Menschen auf die materiellen Umstände, worin sie sich befinden, zurückwirken müssen, um zu überleben:

Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst. [27]

Die Menschen können nicht unabhängig von ihren Umständen handeln. Aber das heißt nicht, daß sie sich darauf reduzieren lassen. Sie sind ständig dabei, die materielle objektive Welt um sich zu „negieren“, indem sie darauf in so einer Weise zurückwirken, daß sie sie sowie sich umwandeln.

Zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte müssen die Menschen irgendeine Weise finden, um mit den Bedürfnissen des materiellen Überlebens zurechtzukommen. Wie sie damit zurechtkommen, ist nicht etwas von der objektiven physischen Welt Unabhängiges; sie ist vielmehr ein Produkt jener Welt. Trotzdem läßt es sich nie einfach als mechanische Konsequenz der physischen Zusammensetzung der Natur verstehen. Es ist nicht die mechanische Kausalität, sondern die menschliche Tätigkeit, die zwischen der Welt, worin Menschen sich befinden, und dem Leben, das sie führen, vermittelt.

Gesellschaftliche Produktion. Die Produktion ist nie individuelle Produktion. Nur die kollektive Anstrengung der Menschen ermöglicht es ihnen, einen Unterhalt von der Welt um sich zu gewinnen.

Daher muß die zentrale Kerntätigkeit – die Arbeit – gesellschaftlich organisiert werden. Jede besondere Stufe in der Entwicklung der menschlichen Arbeit erfordert bestimmte Arten von gesellschaftlichen Verhältnissen, um sie zu erhalten

In der Deutschen Ideologie bezieht Marx sich auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte als die „Formen des Verkehrs “. Und er besteht auf folgendes: „Die Form dieses Verkehrs ist wieder durch die Produktion bedingt.“ [28]

Die verschiedenen Einrichtungen, die die menschlichen Verhältnisse verkörpern, lassen sich nur als etwas verstehen, das aus diesem Kern, dieser produktiven Wechselwirkung entwickelt:

Die Tatsache ist also die: bestimmte Individuen, die auf bestimmte Weise produktiv tätig sind, gehen diese bestimmten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse ein ... Die gesellschaftliche Gliederung und der Staat gehen beständig aus dem Lebensprozeß bestimmter Individuen hervor; aber dieser Individuen, nicht wie sie in der eignen oder fremden Vorstellung erscheinen mögen, sondern wie sie wirklich sind, d.h. wie sie wirken, materiell produzieren, also wie sie unter bestimmten materiellen und von ihrer Willkür unabhängigen Schranken, Voraussetzungen und Bedingungen tätig sind. [29]

Um ihr materielles Leben zu erhalten, werden Menschen dazu gezwungen, auf die Welt in bestimmten Weisen zu wirken – sich an der materiellen Produktion zu beteiligen. Aber das benötigt bestimmte Formen der Zusammenarbeit zwischen ihnen.

Diese Kernverhältnisse bilden einen Rahmen, worin alles andere, die die Menschen machen, passen muß. Alles andere stützt sich in diesem Sinne auf ihnen. Sie liefern die Schranken dafür, was in jeder Gesellschaft möglich ist.

So z.B. hat eine Jäger-Sammler-Gesellschaft keine Mittel, um Nahrungsmittel für mehr als einige Tage zu lagern, und kann nur überleben, wenn ihre Mitglieder Schi ständig auf der Suche nach Nahrungsmittel herumziehen. Sie ist deshalb in einigen Weisen beschränkt; sie darf nicht aus Banden von mehr als etwa 20 Menschen bestehen; Die Frauen dürfen mehr als ein Kind jedes vierte oder fünfte Jahr haben, da man die Kinder tragen muß, wenn die Bande nach Nahrung sucht; es gibt keine Weise, wie ein Teil der Gesellschaft von der Arbeit befreit werden darf, um sich am Schreiben, am Lesen an der höheren Arithmetik usw. zu beteiligen.

Das ist die engste Weise, wie man Marx’ Argument verstehen kann.

Aber er sieht auch, daß es noch breitere Implikationen als das hat. Die Verhältnisse der materiellen Produktion beschränken nicht nur die übrigen Verhältnisse in der Gesellschaft, sie sind auch die Quelle der Inhalte dieser Verhältnisse.

Die Geschichte der Gesellschaft ist die Geschichte der Änderungen in den Weisen, wie die Produktion stattfindet, die je mit Änderungen in den Verhältnisses zwischen Menschen unmittelbar um den Produktionsprozeß. Und diese Änderungen üben der Reihe nach einen Druck auf alle anderen gesellschaftlichen Verhältnisse.

Wenn z.B. eine Bande von Jäger-Sammlern Mittel annehmen, die die zur Verfügung stehenden Nahrung radikal vergrößert (indem z.B. sie selber Wurzelgemüse pflanzen, anstatt danach suchen zu müssen) und die die Lagerung für lange Perioden ermöglichen (z.B. in Tontöpfen), ändert das notwendigerweise ihre gesellschaftlichen Verhältnisse miteinander. Anstatt ständig umzuziehen, müssen sie in einem Ort bleiben bis die Ernte geerntet werden kann; wenn sie länger in einem Ort bleiben, gibt es nicht mehr eine Notwendigkeit für die Beschränkung der Zahl der Kinder pro Frau; die Ernte wird zu etwas, das andere Menschenbanden ergreifen können, und liefert so zum ersten Mal einen Anreiz für Krieg zwischen den Banden.

Änderungen in der Weise, wie die materielle Produktion stattfindet, führen zu Änderungen in den Verhältnissen der Gesellschaft im allgemeinen.

Und auch Verhältnisse zwischen Menschen, die nicht aus der Produktion entstehen – die Spiele, die Menschen miteinander spielen, die Formen, die der Geschlechtsverkehr annimmt, die Verhältnisse zwischen Erwachsenen und jungen Babys – werden beeinflußt.

Marx leugnet die Realität der Verhältnisse außer den direkt produktiven. Noch leugnet er, daß sie die Weise beeinflussen, wie die Produktion stattfindet. Wie er es ausdrückt in Theorien über den Mehrwert:

Alle Umstände ..., die den Menschen affizieren, das Subjekt der Produktion, modifizieren mehr oder weniger alle seine Funktionen und Tätigkeiten als Schöpfer des materiellen Reichtums, der Waren. In dieser Hinsicht kann in der Tat nachgewiesen werden, daß alle menschlichen Verhältnisse und Funktionen, wie und worin sie sich darstellen, die materielle Produktion beeinflussen und mehr oder minder bestimmend auf sie eingreifen. [30]

Das stimmte auch in Vorklassengesellschaften. Es gibt eine Tendenz dazu, daß alte Muster der Arbeit und des Lebens feste Form in relativ unbeugsame Systeme annehmen. Sie werden mit der Entwicklung von Systemen der Religion, der Magie, der Tabus, der Ritualien usw. „geheiligt“. Am Anfang werden diese Systeme auch in „schlechten Zeiten“ weiter durchgeführt, wenn die kurzfristigen Bedürfnisse oder Wünsche des Individuums vielleicht zu Handlungen führen, die die langfristigen Interessen der gesellschaftlichen Kollektivs verderben. Aber durch gerade diese Tatsache halten sie Innovation und Bewegungen in Richtung neuer Produktionsformen ab, die von langfristigem sowie kurzfristigem Vorteil sein würden.

Ausbeutung und der Überbau. Etwas mehr als einfache Zusammenarbeit zwischen den Menschen wird benötigt, so daß die Produktivkräfte sich über einen bestimmten Punkt entwickeln. Die Ausbeutung wird auch benötigt.

Während der Zeit, wo der Überschuß, der nach der Befriedigung der Mindestbedürfnisse aller übrig bleibt, klein ist, lassen sich Ressourcen für die weitere Entwicklung der Produktivkräfte nur dann zusammensammeln, wenn der Überschuß unter der Kontrolle einer kleinen privilegierten Minderheit der Gesellschaft steht. Das ist der Grund, warum wo auch immer es die Entwicklung der wirklichen Landwirtschaft aus dem Gartenbau, das Wachstum des Handels, die Anwendung von Dämmen und Kanälen, um Fluten zu verhindern und das Land zu bewässern, gibt, gibt es auch die Anfänge einer Polarisierung innerhalb der Gesellschaft zwischen den Ausbeutenden und den Ausgebeuteten.

Die neue Ausbeutergruppe hat ihre Ursprünge in ihrer Rolle in der Produktion; sie bildet sich aus denjenigen, die am effizientesten neue Methoden der landwirtschaftlichen Produktion einführten, oder aus denjenigen, die Pionierarbeit für neue Arten des Handels zwischen der einen Gesellschaft und ihren Nachbarn leistete, oder aus denjenigen, die ihre Nichtbeteiligung an der erschöpfenden Schwerarbeit wegen ihrer Fähigkeit, Flutmuster vorherzusagen oder Wasserwerke zu konstruieren, rechtfertigen konnten. Aber vom Anfang an sichert die neue Ausbeutergruppe ihre Kontrolle durch Mittel außerhalb ihrer Rolle in der Produktion. Sie benutzt ihren neuen Reichtum, um Krieg zu führen, und erhöht dadurch ihren Reichtum mit Beute und gefangenen Sklaven. Sie gründet „besondere Körperschaften von bewaffneten Männern“, um ihren alten und ihren neuen Reichtum gegen innere und äußere Feinde zu sichern. Sie gewinnt die Kontrolle über religiöse Riten und schreibt den Fortschritt der gesellschaftlichen Produktivkraft den eigenen „übernatürlichen Kräften“. Sie schreibt die alten Sittenkodexe in neue Regelsätze um, die ihre Position sanktionieren.

Kurz gesagt: die neue Ausbeutergruppe schafft ein ganzes Netzwerk von nichtproduktiven Verhältnissen, um die privilegierte Position zu sichern, die sie für sich gewonnen hat. Sie versucht durch diese politischen, juridischen und religiösen Mittel die eigene Position zu sichern. Sie schafft einen nichtökonomischen „Überbau“, um die Quelle der eigenen Privilegien in der ökonomischen „Basis“ zu sichern.

Gerade diese Funktion dieser „nichtökonomischen“ Einrichtungen bedeutet, daß sie eine riesige ökonomischen Wirkung haben. Dabei geht es darum, Kontrolle über die Basis zu üben, die bestehenden Ausbeutungsverhältnisse festzulegen, und deswegen schränken sie Änderungen der Produktionsverhältnisse ein, auch wenn das die Verhinderung weiterer Entwicklungen der Produktivkräfte bedeutet.

In Altchina z.B. entstand eine herrschende Klasse auf der Basis von bestimmten Arten der materiellen Produktion (Landwirtschaft, die die Anwendung von hydraulischen Einrichtungen umfaßte) und der Ausbeutung. Ihre Mitglieder versuchten dann ihre Position aufrechtzuerhalten, indem sie politische und ideologische Einrichtungen schufen. Aber dabei schufen sie Instrumente, die man benutzen konnte, um jede gesellschaftliche Kraft niederzuschlagen, die aus Änderungen in der Produktion entstand (Z:B: aus dem Wachstum des Handwerks bzw. des Handels). Gelegentlich hieß da die physische Vernichtung den neuen Produktionsmittel.

So groß ist die gegenseitige Wechselwirkung des „Überbaus“ auf der Basis, daß viele der Kategorien, die wir häufig [normalerweise] all „ökonomisch“ betrachten, eigentlich aus beiden gebildet werden. So z.B. sind „Eigentumsrechte“ juristisch (Teil des Überbaus), aber sie regeln die Weise, wie die Ausbeutung stattfindet (Teil der Basis).

Die Weise, wie das Politische und das Juristische ins Ökonomische zurückfließen, ist zum ganzen Ansatz von Marx absolut zentral. Sie allein ermöglicht es ihm über aufeinanderfolgende unterschiedliche „Produktionsweisen“ zu sprechen – über Etappen in der Geschichte, wo die Organisation der Produktion und der Ausbeutung in bestimmten Weisen eingefroren ist, die je eine unterschiedliche herrschende Klasse hat, die versucht die ganze Gesellschaft zu formen, um sie nach ihren Bedürfnissen zu richten.

Weit davon entfernt, die Wirkung des „Überbaus“ auf die „Basis“ zu ignorieren, wie viele ungebildete Kritiker seit über Hundert Jahren behaupten, baut Marx seine ganze Darstellung der menschlichen Geschichte um sie auf.

Alte Produktionsverhältnisse wirken als Fesseln, die das Wachstum von neuen Produktivkräften verhindern. Wie? Wegen der Tätigkeit des „Überbaus“ beim Versuch, neue Produktions- und Ausbeutungsformen zu verhindern, die das Monopol der alten herrschenden Klasse über Reichtum und Macht herausfordern. Seine Gesetze erklären, daß die neue Weisen illegal sind, seine religiöse Einrichtungen denunzieren sie als unmoralisch, seine Polizei verwenden Folter dagegen, seine Armeen plündern die Städte, die sie praktizieren.

Die massiven politischen und ideologischen Kämpfe, die als Ergebnis davon entstehen, entscheiden, laut Marx, ob eine neue herrschende Klasse, die sich auf neue Produktivkräften stützt, weine alte herrschenden Klasse ersetzt. Also ist es eine absolute Karikatur seiner Ansichten, wenn man behauptet, daß er das politische oder ideologische Element „vernachlässigt“.

Aber das Wachstum der Einrichtungen im Überbau friert nicht bloß die bestehenden Produktionsverhältnisse ein; es kann auch tiefe Auswirkungen auf die Verhältnisse zwischen den Mitgliedern der herrschenden Klasse selbst haben, und deshalb auf die Weise, wie sie auf die anderen Klassen der Gesellschaft reagieren.

Diejenigen, die die Armeen, die Polizeikräfte und die Priesterschaften befehligen, leben vom Überschuß, die durch Ausbeutung gewonnen wird, ebensosehr wie die unmittelbaren Ausbeuter. Aber sie entwickeln bestimmte eigene Interessen: Sie wollen, daß ihr Anteil des Überschusses so groß wie möglich sein sollte; sie wollen, daß bestimmte Arten der materiellen Produktion stattfinden, die die besonderen Bedürfnisse ihrer Einrichtungen passen; sie wollen, daß ihre Art Lebensstil höher bewertet sein sollte als den derjenigen, die unmittelbar an der Produktion beteiligt sind.

Ihr Versuch, die eigenen besonderen ziele zu erreichen, kann zum Aufbau von immer komplexeren Einrichtungen, zu komplizierten Regeln über das soziale Verhalten, zu endlosen Schlachten [Kämpfen] über Rang und Einfluß führen. Das Endergebnis kann labyrinthähnliche Strukturen sein, worin die Quelle des Reichtums und der Privilegien in der materiellen Produktion völlig vergessen wird.

Wenn das passiert, kann der Überbau über das einfache Einfrieren der ökonomischen Tätigkeiten, auf denen er sich stützt, hinaus gehen. Er kann eine Belastung von ihnen werden, die ihre Reproduktion verhindert – und dadurch kann er die Ressourcen zerstören, von denen die ganze Gesellschaft, einschließlich dem Überbau selbst, abhängt. Dann holt die materielle Realität ihn ein und das ganze gesellschaftliche Gefüge bricht zusammen.

Aber keine dieser Entwicklungen findet ohne massiven politischen und ideologischen Kämpfen statt. Gerade diese bestimmen, ob ein Satz von sozialen Aktivitäten (diejenigen des Überbaus) einen anderen Satz von sozialen Aktivitäten (diejenigen, die an der Aufrechterhaltung und Entwicklung der materiellen Basis beteiligt sind). Gerade diese entscheiden, laut Marx, ob die bestehende herrschende Klasse ihre Macht aufrechterhält, bis sie die ganze Gesellschaft ruiniert, oder ob eine steigende Klasse, die sich auf neuen Produktionsformen stützt, sie ersetzt.

„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“ [31], schrieben Marx und Engels am Anfang des Kommunisten Manifests. Aber der Klassenkampf besteht gerade aus dem Kampf zwischen denen, die die politischen und ideologischen Einrichtungen des Überbaus benutzen, um ihre Macht über die produktive „Basis“ aufrechtzuerhalten, und denen, die sich ihnen widersetzen.

Der Überbau existiert, um die Ausbeutung und ihre Früchte zu verteidigen. Jeder wirkliche Kampf gegen die bestehenden Strukturen der Ausbeutung wird zum Kampf gegen den Überbau, einem politischen Kampf. Wie Lenin es ausdrückte: „Die Politik ist konzentrierte Ökonomie.“ [32]

Der Marxismus betrachtet nicht den politischen Kampf als einfach eine automatische, passive Widerspiegelung der Entwicklung der Produktivkräfte. Die ökonomische Entwicklung erzeugt die Klassenkräfte, die um die Kontrolle über die Gesellschaft kämpfen. Aber wie dieser Kampf ausgeht, hängt von der politischen Mobilisierung ab, die innerhalb jeder Klasse stattfindet.

Die Schlüsselrolle der Änderungen in der Produktion. Wir sind jetzt in der Lage, Engels Äußerung neuzubewerten, daß „ die verschiedenen Momente des Überbaus ... auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe ausüben und in vielen Fällen vorwiegend deren Form bestimmen.“ [33]

Unter jeder Form der Klassenherrschaft werden eine Reihe Strukturen aufgebaut, um die Ausbeutung zu verstärken und zu institutionalisieren. Diejenigen, die die Kontrolle über diese Einrichtungen ausüben, haben die eigenen Interessen, die alles andere beeinflussen, das in der Gesellschaft passiert – einschließlich der Natur der materiellen Produktion selbst.

Damit kann man jedoch die Sache nicht als erledigt betrachten, wie die „voluntaristische“ Interpretation von Engels’ Bemerkungen impliziert. Es gibt immer noch die Frage, woher die Einrichtungen des Überbaus selbst entstehen. Und es gibt die allerwichtigste Frage, was passiert, wenn der Überbau sich in so einer Weise entwickelt, daß er die Reproduktion der eigenen materiellen Basis behindert.

Marx besteht darauf, daß einfach zu behaupten, alles in der Gesellschaft beeinflußt alles – der Überbau die Basis sowie umgekehrt –, ins nichts führt. Er nimmt den Punkt im Elend der Philosophie, seiner bald nach der Deutschen Ideologie geschriebenen Polemik gegen Proudhon, auf:

Die Produktionsverhältnisse jeder Gesellschaft bilden ein Ganzes. Herr Proudhon betrachtet die ökonomischen Verhältnis als ebenso viele Phasen, die einander erzeugen, von denen die eine aus der anderen sich ergibt ...

Der einzige Übelstand bei dieser Methode ist der, daß Herr Proudhon, sobald er eine einzelne dieser Phasen getrennt untersuchen will, er sie nicht erklären kann, ohne auf die anderen gesellschaftlichen Verhältnisse zurückzukommen, obwohl er diese Verhältnisse noch nicht vermittelst seiner dialektischen Bewegung hat entstehen lassen. [34]

In seinen Schriften deutet Marx auf drei Konsequenzen einer solchen Ansicht über die Gesellschaft als undifferenzierte Ganze hin, wo alles alles andere beeinflußt.

Erstens kann sie zu einer Ansicht führen, wo die bestehende Form der Gesellschaft als ewig und unveränderlich betrachtet wird (die Ansicht, die Marx den bürgerlichen Ökonomen zuschreibt, die die gesellschaftlichen Verhältnisse als etwas betrachten, das von „ewigen Gesetzen [geregelt wird], die immer die Gesellschaft regeln müssen. Daher hat es Geschichte gegeben, aber es gibt sie nicht mehr“ [35]; sie ist die Ansicht, die der Sterilität der modernen Pseudowissenschaft der Gesellschaft, der Soziologie, zugrundeliegt).

Zweitens kann sie zur Ansicht, daß die Dynamik der Gesellschaft in irgendwelcher mystischen Kraft liegt, die selbst außerhalb der Gesellschaft liegt (Hegels „Weltgeist“ oder Webers „Rationalisierung“).

Drittens kann sie zur Ansicht führen, daß das, was heute existiert, nur mit den eigenen Begriffen [Worten] zu begreifen ist, durch die eigene Sprache und Vorstellungen ohne Rücksicht auf etwas anderes (die Position derjenigen idealistischen Philosophen, die nach Hegel im Deutschland des 19. Jahrhunderts kamen, und neuerer Denker wie Collingwood, Winch und der ehemaligen Althusserianer.).

Marx’ Weg aus dieser Sackgasse besteht darin, das einzige Element im ganzen gesellschaftlichen Gefüge zu erörtern, das einer Tendenz zur eigenen kumulativen Entwicklung hat. Dies ist die Tätigkeit der Menschen bei der Bearbeitung ihrer Umwelt, um einen Unterhalt für sich zu bekommen. Vergangene Arbeit liefert die Mittel zur Vergrößerung des Ausstoßes der gegenwärtigen Arbeit: sowohl materielle Mittel (Werkzeuge, Maschinen, Zugang zu neuen Rohstoffen) als auch neues Wissen. Aber indem sie die neuen Arbeitsweisen annehmen, nehmen die Menschen auch neue Weisen an, wie sie sich miteinander verhalten.

Diese Änderungen sind oft so klein, daß sie kaum wahrnehmbar sind (ein verändertes Verhältnis zwischen zwei Menschen hier, eine zusätzliche Person, die sich an einem bestimmten Arbeitsprozeß irgendwo anders beteiligt). aber wenn sie sich fortsetzen, verursachen sie unvermeidlich eine systematische molekulare Änderung in der ganzen gesellschaftlichen Struktur. Die Reihe quantitativer Änderungen hat dann eine qualitative Auswirkung.

Marx leugnet nicht die Möglichkeit der Änderung in anderen Aspekten des gesellschaftlichen Leben. Ein Herrscher stirbt vielleicht und seine Nachfolger hat eine ganz andere Persönlichkeit. Die Menschen werden vielleicht mit einem Spiel müde und fangen damit an, ein anderes zu spielen. Der Zufall der Geburt oder der Erziehung erzeugt vielleicht einen begabten Maler oder Musiker. Aber alle solche Änderungen sind Zufall. Es gibt keinen Grund, warum sie zur kumulativen gesellschaftlichen Änderung irgendwelcher Art führen sollte. Sie können zufällige Änderung in der Gesellschaft erzeugen, aber nicht eine Dynamik, die die Gesellschaft in eine bestimmte Richtung bewegt.

Die materielle Produktion andererseits hat eine Tendenz dazu, sich in eine Richtung eher als in eine andere zu bewegen. Ihre Ausstoß ist Reichtum, die Ressourcen, die es ermöglichen, daß das Leben frei von materieller Not ist. Und diese Ressourcen lassen sich in immer größeren Mengen anhäufen.

Das heißt nicht, daß die Produktivkräfte sich immer entwickeln, wie Kautsky, Plechanow und vor kürzerer Zeit G.A. Cohen behauptet haben. Wie gesehen, ist der Zusammenstoß zwischen neuen Produktionsweisen und alten gesellschaftlichen Verhältnissen ein zentrales Merkmal der Geschichte.

Marx bemerkte im Kommunistischen Manifest: „Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen.“ [36] Das Ergebnis des Zusammenstoßes zwischen der alten und der neuen müßte nicht unbedingt die Niederlage der alten sein. „Der gemeinsame Untergang der kämpfenden Klassen“ [37] könnte auch das Ergebnis sein.

Die „rückläufige Entwicklung“ (von entwickelteren Produktionsformen auf rückständigere) ist weit davon entfernt, eine historische Ausnahme zu sein. Zivilisation nach Zivilisation ist in die „Barbarei“ (d.h. in die landwirtschaftliche Produktion ohne Städte) zusammengebrochen –dazu bezeugen die toten „Städte im Dschungel“, die in Lateinamerika, Südostasien und Mittelafrika zu finden sind; es gibt mehrere Beispiele von Jäger-Sammler-Völkern, die Zeichen haben, daß sie einmal Gartenbauer waren (z.B. einige Stämme im Amazonas). [38] Es hängt von den besonderen historisch entwickelten Merkmalen einer Gesellschaft ab, ob die neuen Produktivkräfte sich entwickeln können und die damit verbundenen Klassen durchbrechen können. An einem Extrem kann man sich Gesellschaften vorstellen, die so an einer gesellschaftlichen Sklerose leiden, daß keine Innovation in der Produktion möglich ist (wo z.B. eng eingegrenzte religiösen Ritualien bestimmen, wie jede Tat der Produktion durchgeführt werden sollte). Am anderen Extrem ist die moderne kapitalistische Gesellschaft, wo das A und O des Lebens die Vergrößerung der Produktivität der Arbeit sein sollte.

In Wirklichkeit sind die meisten menschlichen Gesellschaften irgendwo dazwischen gewesen. Weil das menschliche Leben hart ist, haben die Menschen immer den Unterhalt vergrößern wollen, den sie für eine bestimmte Menge Arbeit bekommen können, auch wen bestimmte Aktivitäten geheiligt und andere tabuisiert worden sind. Im allgemeinen hat es eine sehr langsame Entwicklung der Produktivkräfte gegeben, bis der Punkt erreicht worden ist, wo eine neue Klasse damit angefangen hat, die alte herauszufordern. Was dann passiert ist, ist einerseits vom Verhältnis der Klassenkräfte und andererseits von der Führung und vom Verständnis der konkurrierenden Klassen abhängig gewesen.

Aber auch wenn die Entwicklung der Produktivkräfte die Ausnahme und nicht die Norm bildet, widerlegt das nicht Marx’ Argumentation. Denn diejenigen Gesellschaften, wo die Produktivkräfte durchbrechen, gedeihen und schließlich den Punkt erreichen, wo sie diejenigen dominieren können, wo die Produktivkräfte unterdrückt [erstickt] worden sind. Sehr wenige Gesellschaften bewegten sich von der Stufe der Barbarei zur Stufe der Zivilisation; aber viele von denjenigen, die es nicht geschafft hatten, wurden von denjenigen versklavt, die es geschafft hatten. Ein anderes Beispiel: Die feudalen Baronen und die orientalisch-despotischen niederen Adligen konnten normalerweise die Herausforderung der städtischen Handwerker und Händler zurückschlagen; aber das hinderte es nicht, daß sie alle von der Welle des Kapitalismus überwältigt wurden, die sich vom westlichen Rand Europas während des 18. und 19. Jahrhunderts ausbreitete.

Letzten Endes war es egal, wie großartig oder ausgeklügelt der Überbau einer Gesellschaft war. Er stützte sich auf einer „Basis“ in der materiellen Produktion. Falls er diese Basis daran hinderte, sich zu entwickeln, dann war der Überbau selbst schließlich zum Untergang verdammt. In diesem Sinne hatte Engels Recht als er sagte, daß „als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt“. [39]

Es ist eine historische Tatsache, daß die Produktivkräfte erfolgreich durchbrachen und die Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse verwandelten, in denen sie aufgewachsen waren.

Basis, Überbau und gesellschaftliche Änderung

Ein großer Teil der Verwirrung, die unter Marxisten über die Interpretation des Marx’schen Vorworts zur Kritik der politischen Ökonomie entstanden ist, liegt in der Definition der „Basis“, worauf sich der „juristische und politische Überbau“ erhebt.

Für einige Leute hat die „Basis“ in Wirklichkeit aus der materiellen Wechselwirkung zwischen Menschen und Natur – den Produktivkräften – bestanden. Für andere bestand sie aus den gesellschaftlichen Verhältnissen, innerhalb deren diese Wechselwirkung stattfindet, den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen.

Man kann eine der beiden Positionen rechtfertigen, wenn Mann bestimmte Zitate aus dem Vorwort isoliert von der übereigne Passage von von Marx’ anderen Schriften nimmt. Denn zu einem Zeitpunkt spricht er von der „Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse“ als der „realen Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt“. Aber früher sagt er, die „Produktionsverhältnisse ... entsprechen einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte“ und er fährt fort und stellt die „materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen“ „den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen“ entgegen. Es sind „die materiellen Produktivkräfte“, die in Widerspruch mit , die „den vorhandenen Produktionsverhältnissen“ geraten.

In Wirklichkeit macht er in der Kritik nicht eine einzige Unterscheidung zwischen „Basis“ und „Überbau“. Es gibt eigentlich zwei Unterscheidungen. Einerseits gibt es die Unterscheidung zwischen den „Produktivkräften“ und den Produktionsverhältnissen. andererseits gibt es die Unterscheidung zwischen den Produktionsverhältnissen und den übrigen gesellschaftlichen Verhältnissen.

Der Grund für die Verwirrung ist folgendes. Die „Basis“ ist eine Kombination der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse. Aber ein Element in dieser Kombination ist „grundsätzlicher“ als das andere. Es sind die „Produktivkräfte, die dynamisch sind, die fortschreiten, bis sie „in Widerspruch geraten“ mit den statischen „Produktionsverhältnissen“. die Produktionsverhältnisse „entsprechen“ den Produktivkräften, nicht umgekehrt.

Selbstverständlich gibt es einen Sinn, in dem es unmöglich ist, die materielle Produktion von den davon umgefaßten gesellschaftlichen Verhältnissen zu trennen. Wenn neue Arbeitsweisen neue gesellschaftliche Verhältnisse umfassen, dann können sie erst dann entstehen, wenn diese gesellschaftlichen Verhältnisse entstehen.

Aber wie oben gesehen, gibt es Gründe dafür, die Priorität den Produktivkräften zuzuschreiben. Menschliche Gruppen, die erfolgreich ihre Arbeitsweise ändern, um die Produktivkräfte zu entwickeln, werden erfolgreicher sein als diejenigen, die es nicht machen. Kleine kumulative Änderungen in den Produktivkräften können stattfinden, die Änderungen in den Verhältnissen zwischen den Menschen ermutigen, die genauso klein sind, aber auch genauso kumulativ. Die Menschen ändern ihre Verhältnisse miteinander, weil sie die Mittel ihres Unterhalts leichte produzieren wollen; Vergrößerung der Mittel des Unterhalts ist das Ziel; Änderungen in den gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse sind die ungewollte Konsequenz. Die Produktivkräfte rebellieren gegen die bestehenden Produktionsverhältnisse, nicht umgekehrt.

Also z.B., wenn Sammler-Jäger entscheiden, ihre gesellschaftlichen Verhältnisse miteinander zu ändern, um sich am Gartenbau zu beteiligen, ist das nicht hauptsächlich als Ergebnis irgendeines Glaubens, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse beim Gartenbau denen einer Sammler-Jäger-Gesellschaft sind; vielmehr wollen sie Zugang zur gesteigerten materiellen Produktivität des Gartenbaus gegenüber des Sammelns und Jagens.

In gleicher Weise ist es nicht eine Vorliebe für einen bestimmten Satz von Verhältnissen um den Produktionsprozeß eher als für einen anderen, die die Bürger dazu führt, die feudale Gesellschaft herauszufordern. Vielmehr ist es die Tatsache, daß für eine Gruppierung von Menschen innerhalb des Feudalismus besteht die einzige Weise, wie sie die eigene Kontrolle über die Mittel des Unterhalts steigern kann (die Produktiv unter ihrer Kontrolle entwickeln können), darin, daß sie neue Produktionsverhältnisse bilden.

Auch wenn die Weise, wie eine Gesellschaft organisiert wird, sich ändert wegen des Drucks einer anderen Gesellschaft auf sich (wie es der Fall war, als Indien während des 19. Jahrhunderts dazu gezwungen wurde, eine System des Landbesitzes nach europäischem Muster anzunehmen, oder als Jäger-Sammler von Kolonialverwaltern oder Missionaren überzeugt worden sind, ein seßhaftes landwirtschaftliches Leben anzunehmen), ist der Grund, warum der Druck besteht, die Tatsache, daß die andere Gesellschaft über fortgeschrittenere Produktivkräfte verfügt (die effektivere Mittel für die Kriegsführung bedeuten). Und die „gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse“ werden nicht fortdauern, wenn sie nicht erfolgreich die materielle Produktion organisieren – eine „Basis“ in der materiellen Produktion finden – in der Gesellschaft, die dazu gezwungen wird, sie anzunehmen. Wo sie eine solche „Basis“ nicht finden (wie bei dem Ik-Volk im Norden Ugandas), kann das Ergebnis sogar die Vernichtung der Gesellschaft sein. [40]

Die Ausdehnung der materiellen Produktion ist die Ursache, die gesellschaftliche Organisation der Produktion die Wirkung. Die Ursache kann selbst durch die alte Organisationsform der Gesellschaft blockiert werden. Es gibt kein mechanisches Prinzip, das heißt, daß die Ausdehnung der materiellen Produktion –und damit die Änderungen in den gesellschaftlichen Verhältnissen – automatische stattfinden wird. Aber in jeder Gesellschaft wird es Zwänge in diese Richtung bei einem Zeitpunkt oder dem anderen geben. Und diese Zwänge werden gesellschaftliche Konsequenzen haben, auch wenn diejenigen, die den alten gesellschaftlichen Verhältnissen verpflichtet sind, sich den Zwängen erfolgreich widersetzen.

Die Unterscheidung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ist der zweiten Unterscheidung, der zwischen der „ökonomischen Basis“ und dem Überbau vorrangig. Die Entwicklung der Produktivkräfte führt zu bestimmten Änderungen in den Produktionsverhältnissen. Diese führen der Reihe nach dazu, daß Änderungen in den anderen Verhältnissen der Gesellschaft gemacht werden, bis eine ganze Reihe von Einrichtungen der nichtökonomischen Sorte dabei helfen, die bestehenden ökonomischen Verhältnisse zu reproduzieren (und daher sich der weiteren ökonomischen Entwicklung widersetzen).

Der Punkt bei diesen Unterscheidungen besteht darin, ein Verständnis darüber zu liefern, wie die Gesellschaft sich ändert. Wenn die Produktivkräfte statisch sind, dann gibt es keinen Grund, warum überhaupt eine Gesellschaft systematische Änderung erfahren sollte. Die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse werden einfach dazu neigen, sich zu reproduzieren, so daß höchstens es ziellose zufällige Änderungen in den Zwischenmenschlichen Verhältnissen geben wird. Weder die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse noch die breiteren gesellschaftlichen Verhältnisse werden überhaupt einen Anstoß zu den revolutionären gesellschaftlichen Änderungen geben wird, die stattfinden (z.B. von Gesellschaften, die aus kleinen Banden bestehen, zu denen mit festgesetzten Dörfern, oder von denen mit mittelalterlichen feudalen Landgütern zu denen mit fortgeschrittenen industriellen kapitalistischen Städten).

Es gibt eine weitere Verwirrung in Teilen der Diskussion über Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse. Diese bezieht sich darauf, was die „Produktionsverhältnisse“ eigentlich sind.

Zu einem Zeitpunkt im Vorwort setzt Marx die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse mit den Eigentumsverhältnissen gleich. Menschen wie Cohen haben dieser Ansicht eine Zentrale Rolle in ihren Darstellungen des historischen Materialismus gegeben.

Mir scheint es, daß diese Position die Vorstellung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse viel zu seht einschränkt. Ein großer Teil der Kraft der Marx’schen Darstellung der Geschichte liegt in der Weise, wie sie zeigt, wie kleine Änderungen in den gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse zu kleinen kumulativen Änderungen in den direkt an der Produktionsstelle entstehenden gesellschaftlichen Verhältnissen führen, bis diese die breiteren Verhältnisse der Gesellschaft in Frage stellen. Diese kleinen Änderungen bringen vielleicht neue Eigentumsverhältnisse mit sich, aber in vielen, vielen wichtigen Fällen ist es nicht so.

Zum Beispiel, ein Anstieg der Zahl der Gesellen, die für den durchschnittlichen Handwerksmeister in einer mittelalterlichen Stadt ist keine Änderung der Eigentumsverhältnisse. Aber er ändert die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Stadt in einer Weise, die vielleicht sehr wichtige Implikationen hat. Ähnliche Überlegungen gelten für viele andere bedeutende historische Entwicklungen vom ersten Einpflanzen von Samen durch Sammler-Jäger zu Änderungen in Produktionsmethoden in kapitalistischen Ländern heute.

Um die bisherige Argumentation zusammenzufassen: Es gibt nicht eine Unterscheidung bei Marx, sondern zwei. Die Produktivkräfte üben Druck auf die bestehenden Produktionsverhältnisse aus. Und diese geraten der Reihe nach in Konflikt mit dem bestehenden Überbau.

wenn man einmal das begriffen hat, ist es möglich, sich mit Fragen zu befassen, die manchmal erhoben werden, ob bestimmte Einrichtungen zur Basis oder zum Überbau gehören.

Es gibt einen Sinn, worin die Fragen selbst falsch formuliert sind. Die Unterscheidung zwischen Basis und Überbau ist nicht eine Unterscheidung zwischen einer Gruppe Einrichtungen und einer anderen, wobei ökonomische Einrichtungen auf der einen Seite und politische, juristische, ideologische usw. Einrichtungen auf der anderen sind. Sie ist eine Unterscheidung zwischen Verhältnissen, die direkt mit der Produktion verbunden sind, und denjenigen, die nicht direkt mit der Produktion verbunden sind. Viele bestimmte Einrichtungen enthalten beide.

So z.B. war die mittelalterliche eine Einrichtung im Überbau, die ideologisch die bestehenden Formen der feudalen Ausbeutung verteidigte. Aber sie erwarb solche großen eigenen Landbesitztümern, daß keine Darstellung der ökonomischen Struktur der mittelalterlichen Gesellschaft sie ignorieren kann. In der gleichen Weise entstand die modernen kapitalistischen Staaten aus dem Bedürfnis nach „Körperschaften von bewaffneten Menschen“, um bestimmte kapitalistische herrschende Klassen zu verteidigen. Aber solche Verteidigung ist selten möglich gewesen, ohne daß der Staat direkt in die Produktion eingemischt hat.

In vorkapitalistischen Gesellschaften kommt sogar die Frage der Klassenzugehörigkeit der Menschen dazu, daß sie von Faktoren im Überbau abhängig ist. Der Versuch, die bestehenden Produktions- und Ausbeutungsverhältnisse zu konservieren, führt zu komplizierten Normen, die jedes Individuum der einen oder anderen Kaste bzw. Stand zuschreiben. Das bestimmt der Reihe nach die produktive Tätigkeit (wenn überhaupt), die ihnen offen ist. Wie Marx es ausdrückte: „... auf einem bestimmten Entwicklungsgrad wird die Erblichkeit der Kasten ... als gesellschaftliches Gesetz dekretiert.“ [41] Und: „Im Stand ... bleibt ein Adliger ein Adliger, ein Roturier [Nichtadliger, Bürgerlicher] stetes ein Roturier, abgesehn von seinen sonstigen Verhältnissen, eine von seiner Individualität unzertrennliche Qualität.“ [42]

Es gibt einen Sinn, wo es stimmt, wenn man sagt, daß erst in der bürgerlichen Gesellschaft „reine“ Klassen bestehen – gesellschaftliche Gruppierungen, deren Mitgliedschaft völlig von Ausbeutungsverhältnissen im Produktionsprozeß abhängen im Gegensatz zu Privilegien, die in juristischen bzw. religiösen Normen verkörpert werden. [43] Selbstverständlich haben diese Normen ihren Ursprung in der materiellen Ausbeutung, aber Jahrhunderte der verfrorenen gesellschaftlichen Entwicklung haben diese Tatsache verhüllt.

Die Situation mit der modernen Familien ist der der mittelalterlichen Kirche oder des modernen Staats ähnlich. Sie wuchs auf, um schon bestehende Produktionsverhältnisse zu konservieren und zu reproduzieren. Aber sie kann das nicht machen, ohne daß sie eine sehr wichtige ökonomische Rolle spielt (im Falle der Arbeiterfamilie organisiert sie die riesige Menge häuslicher Arbeit, die in die physische Reproduktion der Arbeitskraft eingesteckt werden muß, im Falle der kapitalistischen Familie definiert sie die Weise, wie das Eigentum von einer Generation zur anderen übergeben wird). [44]

Das hat zu Versuchen geführt, sie der Basis wegen ihrer ökonomischen Rolle zuzuschreiben. [45] Aber die Unterscheidung zwischen Basis und Überbau ist eine Unterscheidung zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen, die unmittelbaren Änderungen mit Änderungen in den Produktivkräften ausgesetzt sind, und denjenigen, die relativ stabil sind und sich der Änderung widersetzen. Die kapitalistische Familie gehört eher letzterer Kategorie als ersterer an, auch in ihrer „ökonomischen“ Funktion der Reproduktion der Arbeiterschaft [Arbeitskräfte].

Änderungen in der Weise, wie die Reproduktion organisiert wird, folgen im allgemeinen Änderungen in der Weise, wie die Produktion stattfindet. Die einfache Tatsache ist, daß die „Reproduktivkräfte“ nicht die Tendenz zur kumulativen Änderung haben, die man bei den Produktivkräften findet. Die möglichen Weisen, wie man die Zahl der Geburten beschränken könnte, änderten sich kaum von den Gesellschaften der Jäger-Sammler vor 30.000 Jahren bis ins 20. Jahrhundert –Ob diese Mittel angewandt wurden, hing überhaupt nicht vom Bereich der Reproduktion, sondern vom Bereich der Produktion. (Zum Beispiel: Während eine Jäger-Sammler-Gesellschaft dazu gezwungen ist, die Zahl der Geburten einzuschränken, haben viele landwirtschaftlichen Gesellschaften ein Interesse daran, die Zahl der Geburten so hoch wie möglich zu haben.) Die materiellen Umständen, unter denen Kinder aufgezogen werden, ändern sich sicher – aber als Nebenprodukt der materiellen Änderungen, die anderswo in der Gesellschaft stattfinden. [46]

Schließlich ermöglichen diese Überlegungen es uns auch, ein anderes Argument zu widerlegen, dem man manchmal begegnet – die Behauptung, daß alle gesellschaftlichen Verhältnisse „Produktionsverhältnisse“ sind. [47]

Alle Teile einer jeden gesellschaftlichen Struktur schulden ihren ersten Ursprung dem Bereich der Produktion. Aber was Marx ganz zurecht durch sein Reden über den „Überbau“ betonte, war die Tatsache, daß einmal erzeugt einige Teile der gesellschaftlichen Struktur die Wirkung haben, daß sie die Entwicklung anderer einschränken. Der Alte Stand im Widerspruch mit dem neuen. Die alte Form der Staatsorganisation entstand z.B. aus den Bedürfnissen der Ausbeutung zu einem bestimmten Punkt in der Geschichte und hat weitergehende Wirkungen auf die Produktion. Aber sie steht in Widerspruch zu den neuen Verhältnissen, die ständig durch neue Entwicklungen der Produktion aufgeworfen werden. Wenn man sagt, daß alle gesellschaftlichen Verhältnisse „Produktionsverhältnisse“ sind, malt man ein Bild der gesellschaftlichen Entwicklung, das dieses wichtige Element des Widerspruchs ignoriert. [48]

Basis und Überbau unter dem Kapitalismus. Bislang hat dieser Artikel sich mit dem Verhältnis „Basis-Überbau“ im allgemeinen beschäftigt. Aber es gibt bestimmte Besonderheiten ihres Verhältnisses unter dem Kapitalismus, die einer kurzer Erwähnung wert sind.

Erstens ist die seltsame Wirkung der Produktionsverhältnisse auf die Produktionsverhältnisse. Marx betont, daß für vorkapitalistische Gesellschaften die bestehenden Produktionsverhältnisse dazu neigen, die Produktivkräfte zu verzögern [hemmen]. Unter dem Kapitalismus hängt im Gegensatz das Überleben jedes einzelnen Kapitals davon ab, daß es die zu seiner Verfügung stehenden Produktivkräfte rascher als seine Konkurrenten ausdehnt:

Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftliche Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. ... Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. [49]

Marx hält, daß der Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen immer noch schließlich in den Vordergrund rückt, aber in einer ganz spezifischen Weise.

Das Wachstum der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Menschheit – gesteigerte Produktivität – bedeutet, daß man immer größeren Mengen der vergangenen Arbeit mit jeder Einheit der gegenwärtigen Arbeit kombiniert. Unter dem Kapitalismus nimmt dieses die Form einer Steigerung des Verhältnisses zwischen der Investition und der Arbeiterschaft. Die Investition wächst rascher als die Quelle allen potentiellen Profits, die lebende Arbeit. Trotzdem ist die Triebfeder der Produktion in diesem System die Profitrate, d.h. das Verhältnis des Profits zur Investition.

Der Widerspruch zwischen dem Trieb zur Investition und dem niedrigen Niveau der Profite, die diese Investition aufrechterhalten sollen, findet für Marx Ausdruck in einer wachsenden Tendenz des Systems zur Stagnation, immer größeren Mißverhältnissen zwischen den verschiedenen Elementen der Wirtschaft und immer tieferen ökonomischen Krisen. Für diejenigen von uns, die im 20. Jahrhundert leben, bedeutet es auch eine ständig anwesende Tendenz dazu, daß ökonomische Konkurrenz in den militärischen Konflikt umwandelt, mit der Bedrohung, daß die Produktivkräfte sich in vollentwickelte Vernichtungskräfte verwandeln. [50]

Ein zweiter Unterschied liegt in der Weise, wie unter dem Kapitalismus es nicht bloß einen Konflikt zwischen der Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse und den nichtökonomischen Einschränkungen darauf gibt, sondern auch einen Konflikt zwischen verschiedenen Elementen der Wirtschaft, wovon einige von Marx als „grundsätzlicher“ als andere betrachtet werden. Die Quelle des Mehrwerts liegt im Bereich der Produktion. Aber aus diesem Bereich der Produktion wächst eine ganze Reihe Aktivitäten, die mit der Aufteilung dieses Überschusses zwischen verschiedenen Elementen der Kapitalistenklasse zu tun haben – der Kauf und Verkauf von Waren, das Kreditsystem, die Börse usw. Diese nehmen ein eigenes Leben auf in einer Weise, die sich der der verschiedenen Elemente im politischen und ideologischen Überbau ähnelt, und dieses Leben wirkt auf das auf, was im Bereich der Produktion passiert. Trotzdem können sie letzten Endes nicht der grundsätzlichen Tatsache entkommen, daß der Überschuß, worüber sie verfügen, aus der Ausbeutung an der Produktionsstelle entsteht – etwas, das sich im plötzlichen auftreten von konjunkturellen Krisen ausdrückt.

Keiner von diesen Punkten heißt, daß die Unterscheidung zwischen Basis und Überbau unter dem Kapitalismus überflüssig ist. Was es eigentlich heißt, ist, daß es noch mehr Elemente des Widerspruchs in diesem System gibt als in vorherigen. Die konkrete Analyse davon ist die Voraussetzung für Wissen über die Richtung, in die das System sich bewegt, und für die Möglichkeit, eine entschlossene revolutionäre Opposition dazu aufzubauen.

Was ist das Verhältnis zwischen einerseits Ideen und Ideologie und andererseits der Dichotomie „Basis-Überbau“?

Marx besteht hartnäckig darauf, daß man Ideen nicht vom gesellschaftlich Zusammenhang trennen kann, in denen sie entstehen. Es sagt: „bestimmte gesellschaftlichen Bewußtseinsformen entsprechen ... der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, der realen Basis“, „die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt“, „gesellschaftliches Sein ... bestimmt ... Bewußtsein“ [meine Hervorhebungen].

Um diese starke Behauptungen zu verstehen, muß man verstehen, wie Marx die Entwicklung der Ideen und der Sprache vorstellte.

Für ihn entstanden Ideen aus der materiellen Wechselwirkung der Menschen mit der Welt und miteinander:

Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß. [51]

Man kann zeigen, daß jede Idee ihren Ursprung in der materiellen Tätigkeit der Menschen hat:

... es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses. [52]

Er impliziert hier, daß es mehrere Stufen in der Entwicklung des Bewußtseins gibt. Tiere besitzen kein Bewußtsein; höchstens sind sie unmittelbar von flüchtigen Eindrücke um sich bewußt. Menschen fangen an, über diese Stufe des unmittelbaren Bewußtseins hinaus zu bewegen, nur wenn sie damit anfangen, sich gegenseitig gesellschaftlich auf einer regelmäßigen Basis zu beeinflussen, indem sie kollektiv handeln, um ihre Umwelt unter Kontrolle zu bringen. Also argumentiert er, daß erst, als Menschen zur Stufe der „ursprünglichen, geschichtlichen Verhältnisse“ entwickelt hat, „finden wir, daß der Mensch auch ‚Bewußtsein‘ hat“. [53]

Im Prozeß des Zusammenhandelns, um einen Unterhalt zu gewinnen, schaffen Menschen für das erste Mal eine materielles Mittel, das ihnen ermöglicht, flüchtige Eindrücke als permanente Begriffe zu befestigen:

Der „Geist“ hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie „behaftet“ zu sein, die hier in der Form von bewegten Luftschichten, Tönen, kurz der Sprache Auftritt. Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein – die Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existierende, also für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein, und die Sprache entsteht, wie das Bewußtsein, erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit andern Menschen. [54]

Oder wie er es anderswo ausdrückt: „Die unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens ist die Sprache.“ [55]

Wissen ist also ein gesellschaftliches Produkt. Es stammt aus dem Bedürfnis nach Kommunikation, die der Reiche nach eine Produkt des Bedürfnisses danach, die gesellschaftliche Produktion durchzuführen. Das Bewußtsein ist der subjektive Ausdruck der objektiv bestehenden Verhältnisse. Es entsteht als das Bewußtsein derjenigen, die sich an diesen Verhältnissen beteiligen. Seine Verkörperung, die Sprache, ist ein materieller Prozeß, der eins der Bestandteile dieser Verhältnisse ist. „Die Ideen und Gedanken der Menschen waren natürlich Ideen und Gedanken über sich und ihre Verhältnisse ..., denn es war ein Bewußtsein nicht nur der einzelnen Person, sondern der einzelnen Person im Zusammenhänge mit der ganzen Gesellschaft ...“ [56]

Marx Materialismus beläuft auf folgendes. Der Geist entwickelt sich auf der Basis der Materie. Er hängt für sein Funktionieren von der Befriedigung der Bedürfnisse des menschlichen Körpers ab. Sie hängt für die Form seines Bewußtseins von den wirklichen Verhältnissen zwischen Individuen ab. Der Inhalt des individuellen Geistes hängt von der materiellen Wechselwirkung des Individuums mit der Welt und mit anderen Menschen ab.

Aber der menschliche Geist läßt sich nicht einfach auf die Materie reduzieren. Der einzelne Mensch, der denkt, hat die Fähigkeit, zu handeln. Das Subjektive entwickelt sich aus dem Objektiven, ist aber immer noch wirklich.

Wie Marx es in der ersten These über Feuerbach ausdrückt: „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus ... ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv ... Feuerbach ... faßt die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit.“ [57]

Wenn Marx die Wirklichkeit des individuellen Denkens und der individuellen Tätigkeit behauptet, betont er jedoch auch die Grenzen davon. Das Denken entsteht aus der Tätigkeit. Und sobald diese Verbindung mit der Tätigkeit gebrochen wird, wird betrachtet, daß das Denken Teil seines Inhalts verliert: „In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen.“ [58]

Also ist das Denken wirklich, insofern es eine praktische Anwendung hat, insofern es die Welt ändert. Es gibt eine objektive Wirklichkeit, getrennt vom menschlichen Bewußtsein. Aber erst durch ihre Tätigkeit können Menschen Kontakt mit dieser Wirklichkeit machen [verknüpfen], ihr Bewußtsein damit verbinden: „Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage ... Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage.“ [59]

Es ist im Zusammenkommen der Menschheit und der Welt in der Tätigkeit, daß die Wirklichkeit der Welt sowie die Wahrheit des Denkens bestimmt werden.

Marx’ historischer Materialismus ist nicht der Ansicht, daß Wille, Bewußtsein und Absicht keine Rolle in der Geschichte spielen. Die menschliche Tätigkeit ändert ständig die Welt, worin die Menschen sich befinden, und ihre Verhältnisse miteinander.

Die mechanisch-materialistische kautskyanische Interpretation des Marxismus macht genau den Fehler, den Marx Feuerbach zuschreibt. Sie kann nicht sehen, daß die Geschichte die Geschichte der menschlichen Tätigkeit ist. Aber die gesellschaftliche Tätigkeit bringt das Bewußtsein mit sich.

Es sind Menschen mit bestimmten Ideen, die neue Werkzeuge erfinden, bestehende Lebensweisen herausfordern, revolutionäre Bewegungen organisieren oder kämpfen, um den Status quo zu verteidigen. Die Widersprüche zwischen Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen, zwischen der Basis und dem Überbau, finden Ausdruck in Argumenten, organisierten Meinungsverschiedenheiten und bitteren Kämpfen zwischen Menschen. Diese sind Teil der wirklichen Entwicklung der Gesellschaft. Das zu leugnen, heißt, ein Bild der Gesellschaft darzustellen, wo explosive Gegensätze nicht mehr bestehen.

Aber das Bewußtsein entsteht nie in einer Leere. Es ist eine subjektive Verbindung zwischen objektiven Prozessen. Die Ideen eines Individuums oder einer Gruppe entwickeln sich auf der Basis der materiellen Wirklichkeit und wirken auf diese Wirklichkeit zurück. Sie lassen sich nicht auf diese Wirklichkeit reduzieren, noch aber lassen sie sich von ihr trennen.

Gerade diese Verbindung ermöglicht es uns, Sinn aus Marx’ Begriffen „falschem Bewußtsein“ und „Ideologie“ zu machen.

Falsches Bewußtsein. Wenn Menschen sich an der materiellen Praxis beteiligen, haben sie ein unmittelbares Bewußtsein ihrer Tätigkeit und des Teils, worauf sie Einfluß nimmt, das sehr unwahrscheinlich falsch ist. Wenn sie nicht blind oder geistesgestört sind, wissen sie, daß sie ins Boden graben oder mit Gewehren auf andere Menschen zielen oder was auch immer. Auf dieser Ebene stehen ihre Tätigkeit und ihr Bewußtsein in Übereinstimmung. Aber der Inhalt dieses Bewußtseins ist minimal. Eigentlich verdient es kaum den Namen „Bewußtsein“ überhaupt.

Aber neben diesem unmittelbaren Bewußtsein gibt es immer ein allgemeineres Bewußtsein. Dies versucht, über das, was die Menschen wissen, hinaus zu gehen und irgendwelche allgemeine Vorstellung des Zusammenhangs zu geben, worin sie sich befinden. Es erzählt ihnen z.B., daß sie nicht einfach graben, sondern sich einen künftigen Unterhalt besorgen, oder daß sie nicht einfach ihre Gewehre zielen, sondern daß sie ihr „Vaterland“ verteidigen.

Es gibt keine Garantie der „Wahrheit“ bzw. der „Wirklichkeit“ dieses allgemeinen Bewußtseins. Eine Wirtschaftskrise kann bedeuten, daß, egal wie hart man gräbt, man nicht die Ernte, die man züchtet, verkaufen kann, um einen Unterhalt zu verdienen; das Gewehr könnte vielleicht die Profite einer multinationalen Firma, nicht irgendwelches angebliche „Vaterland“ verteidigen.

Während das unmittelbare Bewußtsein ein wesentlicher Bestandteil der Tätigkeit ist und deshalb in einem bestimmten sehr begrenzten Sinn „wirklich“ sein muß, kann das allgemeine Bewußtsein nicht mehr als eine blinde Begleitung der Tätigkeit sein. In diesem Sinne findet es keinen Ausdruck in der Welt. Es hat, mit Marx’ Worten, keine „Diesseitigkeit“ und keine „Wirklichkeit“. Oder das Ergebnis der Tätigkeit, die es leitet, unterscheidet sich vom Erwarteten. Seine objektiver Inhalt unterscheidet sich von seinem subjektiven Inhalt. Höchstens ist es teilweise „wirklich“. [60]

Trotzdem besteht Marx darauf, daß auch „falsches“ allgemeines Bewußtsein entspringt der wirklichen Tätigkeit. Also schreibt er bei der Kritik einer bestimmten Form des „unwirklichen“ Bewußtseins, der „deutschen“ Ideologie der idealistischen Philosophen:

Die Philosophen hätten ihre Sprache nur in die gewöhnliche Sprache, aus der sie abstrahiert ist, aufzulösen, um sie als verdrehte Sprache der wirklichen Welt zu erkennen und einzusehen, daß weder die Gedanken noch die Sprache für sich ein eignes Reich bilden; daß sie nur Äußerungen des wirklichen Lebens sind ...

Für die Philosophen ist es eine der schwierigsten Aufgaben, aus der Welt des Gedankens in die wirkliche Welt herabzusteigen. Die unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens ist die Sprache. wie die Philosophen das Denken verselbständigt haben, so mußten sie die Sprache zu einem eignen reich verselbständigen. Dies ist das Geheimnis der philosophischen Sprache, worin die Gedanken als Worte einen eignen Inhalt haben. Das Problem, aus der Welt der Gedanken in die wirkliche Welt herabzusteigen, verwandelt sich in das Problem, aus der Sprache ins Leben herabzusteigen. [61]

Wir haben gesehen, daß das ganze Problem, vom denken zur Wirklichkeit und daher von der Sprache zum Leben zu kommen, nur in der philosophischen Illusion existiert ... [62]

Eine solche Ansicht über das abstrakte philosophische Denken führt direkt zur Verachtung dafür, die in den „Thesen über Feuerbach“ ausgedrückt wird: „Das gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen der Praxis.“ [63]

Dem Anschein nach ist der von ihm vorgestellte Ansicht sehr nah zu den Philosophen, die jede Möglichkeit der allgemeinen philosophischen, gesellschaftlichen oder historischen Begriffe leugnen. Daher behauptet die linguistische Philosophie von Wittgenstein, daß alle traditionellen Probleme der Philosophie deswegen entstehen, weil Philosophen die Vorstellungen des normalen Lebens genommen haben und sie außerhalb des Zusammenhangs benutzt haben. [64]

In einer etwas ähnlichen Weise haben „historizistische“ Denker darauf bestanden, daß keine Idee bzw. gesellschaftliche Praxis sich außerhalb des bestimmten historischen und gesellschaftlichen Zusammenhangs verstehen läßt, worin sie sich befinden; jeder Versuch , eine breitere Erklärung zu finden, muß falsch sein.[65]

Aber Marx’ Ansicht unterscheidet sich sehr von diesen. Sie betrachten falsche Vorstellungen als etwas, das als Ergebnis des seltsamen Wunsches der Philosophen entsteht, Sachen zu verallgemeinern, das Ergebnis eines bizarren „geistigen Krampfes“, worunter Menschen leiden. Und sie folgern daraus, daß alle Verallgemeinerungen falsch sind.

Im Gegensatz dazu sieht Marx die falsche Verallgemeinerung, das Ergebnis der Trennung zwischen Theorie und Praxis, als etwas, das selbst materielle Wurzeln hat. Nur in einer Gesellschaft ohne Klassen können die allgemeine Vorstellungen sich direkt aus den unmittelbaren Erfahrungen der Menschen entwickeln, ohne Verzerrung. Denn jeder in der Gesellschaft ist dann an einer einheitlichen geteilten kooperativen Tätigkeit beteiligt.

Ideologie und Klassengesellschaft. Wenn es einmal eine Spaltung zwischen ausbeutenden und ausgebeuteten Klassen und, darauf gestützt, eine wachsende Spaltung Zeichen der geistigen und der körperlichen Arbeit gibt, löst sich die einheitliche Praxis und damit die Möglichkeit einer einheitlichen Ansicht über die Welt auf.

In einer Klassengesellschaft wird das gesellschaftliche Ganze ständig durch den Zusammenstoß zwischen den Produktivkräften und den bestehenden Produktionsverhältnissen auseinandergerissen, einen Zusammenstoß, der Ausdruck im Kampf zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen findet.

Verschiedene Gruppen werden verschiedene praktische Ziele haben, einige in der Erhaltung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, einige in ihrem Sturz, der die Entwicklung neuer gesellschaftlicher Verhältnisse ermöglichen wird, die sich auf neuen Produktivkräften stützen. Das Ergebnis ist, daß verschiedene Teile der Gesellschaft verschiedene Erfahrungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit haben. Jeder wird dazu neigen, die eine allgemeine Ansicht über die Gesellschaft zu entwickeln, die sich deutlich von denen unterscheiden wird, die von den anderen entwickelt werden.

Solche Ansichten sind nicht bloß Darstellungen davon, wie die Gesellschaft ist. Sie dienen auch dazu, Menschen für die praktische Aufgabe der Erhaltung bzw. der Umwandlung der Gesellschaft zusammenzubinden, denn jede gibt den Vorrang bestimmten Arten der praktischen gesellschaftlichen Tätigkeit zuungunsten anderer.

Es ist nur in den Köpfen bestimmter empirizistischer Philosophen, daß Beschreibung und Vorschrift, Tatsache und Wert sich voneinander unterscheiden. Was „gut“ bzw. „wertvoll“ vom Standpunkt einer gesellschaftlichen Gruppe und ihrer Tätigkeit ist, wird für eine andere gesellschaftliche Gruppe „schlecht“ sein. Was ein Teil der Gesellschaft als wesentlich für die Erhaltung des gesellschaftlichen Lebens betrachtet, weil es die bestehenden Produktionsverhältnissen erhält, wird als schlecht von einem anderen betrachtet, weil es die Entwicklung neuer Produktivkräfte verhindert. Kategorien, die früher unproblematisch waren, einfache Beschreibungen davon, was für die Aufrechterhaltung der Gesellschaft und des menschlichen Lebens notwendig war, werden zu Vorschriften, die die Wünsche von verschiedenen gegensätzlichen Gruppen ausdrücken.

Der Kampf zwischen den verschiedenen Gruppen um die gesellschaftliche Vorherrschaft ist teilweise eine Kampf jeder einzelnen, ihre Vorstellung der Gesellschaft , ihre Weise, die gesellschaftliche Tätigkeit zu organisieren, auf die anderen zu zwingen. Sie muß behaupten, daß ihre Vorstellungen „wahr“ sind und die anderen „falsch“; oder mindestens zeigen, daß die ihrer Tätigkeit von anderen gesellschaftlichen Gruppen gegebene Bedeutung sich den eigenen allgemeinen Visionen der Welt unterwerfen läßt.

Der Versuch der Philosophen, konkurrierende Vorstellungen der Welt gegen ein einziges Leitbild der „Wahrheit“ zu messen, ist Teil dieses Kampfes. Ihr Versuch, die Erfahrung einer bestimmten Klasse in so einer Weise zu verallgemeinern, daß es ihr ermöglicht, das Denken anderer Klassen zu dominieren. Aber wegen der wirklichen Widersprüche zwischen den Erfahrungen und Interessen verschiedener Klassen ist dieser ein endloses Streben.. Jede philosophische Ansicht läßt sich von einer anderen begegnen, da jede ihre Wurzeln in den widersprüchlichen Erfahrungen des materiellen Lebens hat. Das ist der Grund, warum jede große Philosophie schließlich in den Mystizismus rutscht.

Aber das heißt nicht, daß für Marx verschiedene Ansichten über die Welt gleichmäßig gültig (oder gleichmäßig falsch) sind. Den einige liefern eine umfassendere Sicht der Gesellschaft und ihrer Entwicklung als andere.

Eine gesellschaftliche Gruppe, die sich mit dem Weiterbestehen der alten Produktionsverhältnisse und der alten Einrichtungen des Überbaus identifiziert, muß notwendigerweise bloß eine partielle Ansicht (bzw. eine Reihe partieller Ansichten) über die Gesellschaft als Ganze haben. Ihre Praxis befaßt sich mit der Erhaltung des schon bestehenden, mit der „Heiligsprechung" der vollendeten Tatsache. Alles ahnde läßt sich bloß als Störung bzw. Zerstörung einer wertvollen harmonischen Anordnung vorstellen. Deswegen ist ihr Bild der Gesellschaft auch zu Zeiten der gewaltigen gesellschaftlichen Krise eins einer natürlichen ewigen wiederholten Harmonie, die irgendwie unter angriff von unverständlichen und unvernünftigen Kräften steht.

Ideologie und Wissenschaft. Eine aufsteigende gesellschaftliche Gruppe, verbunden mit einem Fortschritt der Produktivkräfte, hat einen ganz anderen Ansatz. Zuerst mindestens hat sie keine Angst vor neuen Formen der gesellschaftlichen Tätigkeit, die die alten Produktionsverhältnisse sowie ihren Überbau stören. Sie identifiziert sich mit diesen neuen Formen der Tätigkeit und versteht sie. Trotzdem hat sie gleichzeitig, weil sie auch gegen die alte Ordnung zusammenstoßt, praktische Erfahrungen davon auch. Sie kann irgendeine Art Ansicht über die Gesellschaft entwickeln, die sieht, wie die ganzen unterschiedlichen Elemente zusammenpassen – die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse, die Basis und der Überbau, die unterdrückte Klasse und die Unterdrückerklasse.

Weil sie ein praktisches Interesse an der Umwandlung der Gesellschaft hat, muß ihre allgemeine Vorstellungen weder ein blinder Kommentar über Ereignisse noch ein Mystizismus sein, der sich einfach auf die Erhaltung des Status quo zielt. Sie können eine Quelle des wirklichen Wissens über die Gesellschaft sein. Sie können nicht bloß als Fahne dienen, hinter dem man die Menschen zusammensammelt, sondern auch eine Richtlinie zur wirksamen Handlung sein. Sie können wissenschaftlich sein, obwohl ihr Ursprung in der Praxis der einen gesellschaftlichen Gruppe liegt.

Sicherlich glaubte Marx, daß dies der Fall mit der klassischen politischen Ökonomie war. Immer und immer wieder spricht er vom „wissenschaftlichen“ Verdienst der Schriften von Adam Smith und David Ricardo, wie auch von einigen der merkantilistischen und der physiokratischen Ökonomen, die ihnen vorausgingen.

Sie waren „wissenschaftlich“, weil sie versuchten, durch die oberflächlichen Erscheinungsformen der Gesellschaft durchzubrechen, um die „den innren Zusammenhang der ökonomischen Kategorien oder den verborgnen Bau des bürgerlichen ökonomischen Systems“ zu begreifen, um zu versuchen, „in den innren Zusammenhang, sozusagen in die Physiologie des bürgerlichen Systems [einzudringen]“. [66]

Dieser „esoterische“ Ansatz, der zur unterliegenden gesellschaftlichen Wirklichkeit schaut, steht im deutlichen Gegensatz zu einem einfachen „exoterischen“ Ansatz, der die bestehenden Äußeren gesellschaftlichen Formen als Gegebene annimmt. Die klassischen politischen Ökonomen schafften es nie völlig, mit der „exoterischen“ Methode zu brechen, aber sie begannen, sich in diese Richtung zu bewegen, und dabei legten sie die Basis für ein wissenschaftliches Verständnis der inneren Struktur des Kapitalismus.

Ihre Fähigkeit, ein wissenschaftliches Verständnis zu entwickeln, ist mit der Klasse verwandt, womit sie sich identifizierten. Marx beschrieb Smith z.B. als jemanden, der „den offenherzig brutalen Bourgeois-Emporkömmling auslegte“ [67], der schrieb in der „Sprache der noch revolutionären Bourgeoisie, die sich die ganze Gesellschaft, Staat etc., noch nicht unterworfen hat“. [68]

Weil die industriellen Kapitalisten immer noch nicht die Kontrolle über die Gesellschaft hatten, mußten sie eine kritische Haltung zu ihren äußeren Merkmalen annehmen, um eine objektive Analyse des Ausmaßes zu bekommen, wozu diese Merkmale dem Trieb zur Akkumulation des Kapitals paßten. Dies führt zum Versuch, die Produktion des Reichtums im Arbeitsprozeß zu erörtern und die „produktive“ Arbeit, die Mehrwert schafft, den parasitären Funktionen des alten Staats, der Kirche usw. gegenüberzustellen.

Ideologie und Überbau. Die Situation ändert sich radikal, wenn die aufsteigende Klasse ihren Griff gefestigt hat. Dann hat sie kein Nutzen mehr für eine revolutionäre kritische Haltung gegenüber der Gesellschaft als Ganzer. Die einzige praktische Aktivität, woran sie sich interessiert, ist die, die die bestehenden ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse reproduziert. Und daher verfällt ihre „Theorie“ auf Versuche, verschiedene oberflächliche Aspekte der bestehenden Gesellschaft anzunehmen und sie darzustellen, als ob sie allgemeine Gesetze darüber lieferten, wie alle Gesellschaften sein müssen.

Für Marx war „Ideologie“ ein Produkt dieser Situation. Die vorherrschende gesellschaftliche Klasse hat die Kontrolle über die Mittel, wodurch eine gesonderte Schicht von Menschen von der physischen Arbeit befreit werden können, um sich mit der intellektuellen Produktion zu beschäftigen. aber abhängig von der herrschenden Klasse für ihren Unterhalt werden diese „Intellektuellen“ dazu neigen, sich mit ihr zu identifizieren – die herrschende Klasse gründet Mechanismen aller Art, um das zu versichern.

Sich mit der herrschenden Klasse zu identifizieren, heißt, daß man vor jeder totalen Kritik der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zurückschreckt und die Form, in der sie sich vorstellen, als Gegebene annimmt. Die bestimmten Aspekte der bestehenden Gesellschaft betrachtet man dann als etwas Selbsttragendes, als etwas ohne eine gemeinsame Wurzel in der gesellschaftlichen Produktion.

Daher bekommt man eine Reihe von getrennten unabhängigen Disziplinen: „Politikwissenschaft“, „neoklassische Ökonomie“, „Psychologie“, „Soziologie“ usw. Jede von diesen behandelt Aspekte einer einheitlichen gesellschaftlichen Entwicklung, als ob sie unabhängig voneinander stattfanden. Die „Geschichte“ wird zu einer mehr oder weniger willkürlichen Zusammenbindung von Ereignissen und Persönlichkeiten. Und die Philosophie wird zum Versuch, die Trennung dieser Disziplinen dadurch zu überwinden, daß man auf die von ihnen benutzten Begriffe anschaut von einer immer größeren Entfernung von der Welt der materiellen Produktion und des Verkehrs.

Solche Weltanschauungen sind „ideologisch“ nicht deswegen, weil sie notwendigerweise bewußtes Apologetentum für die bestehende herrschende Klasse sind, sondern deswegen, weil gerade die Weise, wie sie strukturiert sind, sie daran hindert, über die Aktivitäten und Ideen, die die bestehende Gesellschaft – und deshalb auch die herrschende Klasse – wiederherstellen, hinauszusehen bis zu den materiellen Prozessen, worauf sie gegründet sind. Sie sprechen den Status quo heilig, weil sie die Begriffe, die er benutzt, für die bare Münze nehmen, anstatt sie als vergängliche Produkte der gesellschaftlichen Entwicklung zu betrachten.

„Ideologie“ in diesem Sinne ist mit dem Überbau verbunden. Sie spielt mit den Begriffen herum, die im Überbau entstehen, und versucht sie miteinander zu verbinden sowie sie auseinander zu leiten, ohne daß sie je durch die oberflächlichen Erscheinungen durchbricht, um den wirklichen Prozeß anzuschauen, worin der Überbau und seine Begriffe entstehen.

Es sind die Widersprüche solcher „ideologischen“ Argumente, die nur gelöst werden können, indem man „aus der Sprache ins Leben herabsteigt“.

Aber dieses Herabsteigen läßt sich nur von Denkern machen, die sich mit einer aufsteigenden Klasse identifizieren. Denn sie alleine sich mit einer Praxis identifizieren, die alle bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse in Frage stellt, indem sie versuchen, das zu kritisieren, was auf der Oberfläche der Gesellschaft passiert und es mit den unterliegenden Verhältnissen der materiellen Produktion und der Ausbeutung verbinden.

Während die Denker einer etablierten herrschenden Klasse auf die ständige Ausarbeitung im Bereich der Ideologie beschränkt sind, können die Denker einer aufsteigenden Klasse damit anfangen, ein wissenschaftliches Verständnis der gesellschaftlichen Entwicklung zu entwickeln.

Unsere Theorie und ihre. Die Denker einer aufsteigenden Klasse können nicht einfach erklären, daß sie die Wahrheit haben, sie müssen es beweisen.

Erstens müssen sie zeigen, daß sie die Einsichten aufnehmen und entwickeln können, die die Denker früheren aufsteigenden Klassen machten. Also z.B. versuchte Marx in seinen ökonomischen Schriften, nicht bloß die eigene Erklärung der Funktionierensweise des Kapitalismus zu geben, sondern auch zu zeigen, wie er die Arbeit der klassischen politischen Ökonomie vervollständigen könnte, indem er die Probleme löste, die sie sich selbst ohne Erfolg gestellt hatte.

Zweitens müssen sie zeigen können, wie die oberflächlichen gesellschaftlichen Merkmale, mit denen die Ideologie sich beschäftigt, sich aus den unterliegenden gesellschaftlichen Prozessen ausleiten lassen, die sie beschreiben. Wie Marx es ausdrückt, die Theorie muß das „Exoterische“ aus dem „Esoterischen“ herausleiten können. Also muß eine wissenschaftliche marxistische Analyse einer jeden Gesellschaft ein Verständnis der verschiedenen ideologischen Strömungen jener Gesellschaft liefern können, indem sie zeigt, wie sie aus der wirklichen Welt entstehen und bestimmte Aspekte davon ausdrücken, aber in einer verdrehten Weise.

Schließlich gibt es letzten Endes bloß eine wirkliche Prüfung einer Wissenschaft: ihre Fähigkeit, die Praxis zu leiten. Und daher können Argumente innerhalb des Marxismus selbst erst im Verlauf des revolutionären Kampfes der Arbeiterklasse schließlich gelöst werden.

Ein sehr wichtiger Punkt unterliegt diese ganze Diskussion. Nicht alle Vorstellungen über die Gesellschaft sind „ideologisch“. Das wissenschaftliche Verständnis, das die Denker einer aufsteigenden Klasse entwickeln, ist nicht ideologisch. Noch ist das unmittelbare Bewußtsein, das Menschen von ihren Taten haben. Das wird erst „ideologisch“, wenn es durch einen Rahmen von allgemeinen Ideen interpretiert wird, die von einer etablierten herrschenden Klasse geliefert werden. Im Gegensatz dazu, wenn es durch die Theorie einer aufsteigenden Klasse interpretiert wird, ist es auf dem Weg dahin, das wahre Selbstbewußtsein der Gesellschaft zu werden.

„Ideologie“ ist Teil des Überbaus im sinne, daß sie ein passives Element im gesellschaftlichen Prozeß ist und dabei hilft, die alten Produktionsverhältnisse zu reproduzieren. Aber das revolutionäre Selbstbewußtsein ist nicht so. Es ist ein aktives Element, das aus den materiellen Umständen der Menschen entsteht, aber auf sie zurückwirkt, um sie zu ändern.

In der wirklichen Welt gibt es alle Art von gemischten Vorstellungsarten [Vorstellungssätzen], die irgendwo zwischen Ideologie und Wissenschaft, zwischen wahrem und falschem Bewußtsein liegen. Die Erfahrung der Menschen kann aus partiellen Herausforderungen der bestehenden Gesellschaft bestehen. Sie gewinnen partiellen Einsichten in die wirkliche Struktur der Gesellschaft, versuchen aber, sie durch stückweise Anpassungen an alte ideologische Rahmen zu interpretieren.

Auch die Produktion der Ideologen der bestehenden Ordnung läßt sich nicht außer Hand abtun. Die schlimmsten von ihnen können nicht diejenigen Erfahrungen der Masse der Menschen ignorieren, die die Weltanschauung der herrschenden Klasse herausfordern.: Ihre ideologische Funktion bedeutet, sie müssen irgendwie zu beweisen versuchen, daß diese Erfahrungen mit der Anschauung der herrschenden Klasse kompatibel sind. Daher müssen die schlimmsten Schreiberlinge unter Journalisten bzw. Fernsehkommentatoren erkennen, daß es Widerstand gegen die herrschende Klasse gibt, über Streiks, Demonstrationen usw. berichten, auch wenn sie es nur machen, um solche Kämpfe zu verurteilen und die, die daran beteiligt sind, zu isolieren. Die schlimmsten Schreiber von Groschenromanen müssen von irgendwelchem Bild des Lebens der Durchschnittsmenschen, egal wie verzerrt, anfangen, wenn sie eine Massenleserschaft finden wollen. Die reaktionärsten Priester sind nur wirksam, insofern sie trügerische Entlastung für die wirklichen Probleme der Mitglieder ihrer Gemeinden liefern können.

Das führt zu Widersprüchen aller Art innerhalb der herrschenden Ideologie. Einige ihrer prominentesten Befürworter können diejenige sein, die die meisten Anstrengungen machen, sich auf die gelebten Erfahrungen der Menschen zu beziehen. Sie ermutigt selbst „Gesellschaftswissenschaftler“, Historiker, Schriftsteller, Künstler und sogar Theologen dazu, große Anstrengungen zu machen, um empirische Beobachtung und Erfahrung in ihre Darstellungen der Wirklichkeit zu passen. Aber das führt unvermeidlich zu widersprüchlichen Darstellungen, wobei einige der Ideologen damit anfangen, einige der Grundsätze der etablierten Ideologie in Frage zu stellen. Marx erkannte, daß ein großer Schriftsteller bzw. Künstler die ganzen widersprüchlichen Erfahrungen widerspiegeln kann, die die Menschen bedrängen, die in seiner bzw. ihrer Gesellschaft wohnen, und dabei fangen sie damit an, sich über die von seiner bzw. ihrer Klassenposition auferlegten Grenzen hinaus zu bewegen. In einigen wenigen Fällen führt das sie sogar dazu, mit der eigenen Klasse zu brechen und sich mit der revolutionären Opposition dagegen zu identifizieren.

Ein wissenschaftliches Verständnis der gesellschaftlichen Entwicklung erfordert einen vollständigen Bruch mit der ganzen Methode der Pseudogesellschaftswissenschaften derjenigen, die sich mit der bestehenden Gesellschaftsordnung identifizieren. Aber daß heißt nicht, daß wir die Elemente der Wahrheit vernachlässigen können, über die diejenigen stolpern, die diese Disziplinen praktizieren. Noch weniger können wir die oft ganz tiefe Beherrschung des gesellschaftlichen Prozesses ignorieren, die man in bestimmten nichtmarxistischen Historikern oder in großen Romanautoren wie Balzac oder Walter Scott findet.

Der Marxismus zeigt seine Überlegenheit über das bürgerliche Denken nicht dadurch, daß sie alle bürgerlichen Denker mit Verachtung behandelt, sondern dadurch, daß er die von bürgerlichen Denkern gemachten Fortschritte in die eigene totale Anschauung der Wirklichkeit einfangen kann – etwas, das kein bürgerlicher „Gesellschaftswissenschaftler“ machen kann und das kein bürgerlicher Denker seit Hegel versucht hat.

Die zentrale Rolle des Klassenkampfs

Der marxistische Ansatz beginnt dann, indem er auf die widersprüchlichen Weisen andeutet, wobei die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse, die Basis und der Überbau, die materiellen Wirklichkeit und die Ideen der Menschen sich entwickeln. Aber keiner von diesen Widersprüchen löst sich einfach von selbst, wie die mechanischen Materialisten behaupten. Ihre Lösung findet nur auf der Basis der Kämpfe der Menschen, der Klassenkämpfe statt.

Wenn man einmal Gesellschaften aufgeteilt hat zwischen denjenigen, die unmittelbar produzieren, und denjenigen, die von einem Mehrprodukt leben, führt jedes Wachstum der Produktivkräfte, egal wie langsam und stückweise, zu einer entsprechenden Änderung des objektiven Gewichts der verschiedenen Klassen in der Gesellschaft. Und einige Weisen, die Produktivkräfte zu entwickeln, führen zu qualitativen Veränderungen , zu neuen Weisen, einen Überschuß herauszuholen, zu den Embryonen neuer ausbeutenden und ausgebeuteten Klassen (und schließlich zur Bildung einer Klasse, die die Gesellschaft führen kann, ohne jemanden auszubeuten).

Aber die neuen Produktionsmethoden werden immer mit Widerstand von mindesten einigen derjenigen konfrontiert, deren Interessen in der Erhaltung der alten Methoden liegen. Das Vorrücken jeder neuen Produktionsweise wird immer von bitteren Klassenkriegen gekennzeichnet (auch wenn, wie es der Fall mit den religiösen Kriegen des 16. und des 17. Jahrhunderts war, diese nicht immer einen klaren Bruch zwischen den Klassen, sondern oft komplizierte, überschneidende Bündnisse zwischen dem dynamischsten Teil der aufsteigenden Klasse und bestimmten Interessengruppen innerhalb der alten Ordnung bedeuten). Ob die neuen Produktionsmethoden durchbrechen, hängt davon ab, wer diese Kämpfe gewinnt. Ökonomische Entwicklungen sind dabei sehr wichtig. Sie bestimmen die Größe der verschiedenen Klassen, ihre geographische Konzentration (und deshalb die Leichtigkeit, womit sie sich organisieren lassen), den Grad ihrer Homogenität, die physischen Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen.

Solche unmittelbaren ökonomischen Faktoren können sicherlich eine Lage schaffen, wo die aufsteigende Klasse nicht einen Sieg gewinnen kann, egal was sie macht. Sie wird durch das objektive Kräfteverhältnis zu mächtig zugunsten der anderen Seite benachteiligt. Aber wenn die objektiven Faktoren eine Lage schaffen, wo die Kräfte der konkurrierenden Klassen mehr oder wenig gleich sind, zahlen andere Faktoren – die ideologische Homogenität, die Organisation und die Führung der konkurrierenden Klassen.

Für den mechanischen Materialisten sind Ideen bloß eine automatische Widerspiegelung des materiellen Seins. Aber in wirklichen historischen Prozessen der gesellschaftlichen Umwandlung ist es nie so einfach.

Die Einrichtungen der alten herrschenden Klasse versuchen ständig, die Weisen zu definieren, worein (wodurch) die Menschen in der ganzen Gesellschaft sich und ihre Verhältnisse mit anderen betrachten. Die Mitglieder der aufsteigenden Klasse akzeptieren am Anfang diese Definitionen als die einzigen, die zu ihrer Verfügung stehen: so z.B. akzeptierten die Bürger des frühen Mittelalters die ganzen Grundsätze des mittelalterlichen Katholizismus.

Aber die Mitglieder einer aufsteigenden Klasse beschäftigen sich in praktischer Aktivität, die sich nicht leicht durch die alten Definitionen umfassen lassen. Die Menschen fangen an, Sachen zu machen, die laut der alten Weltanschauung sie nicht machen sollten. Die Einrichtungen, die die alte Weltanschauung erzwingen, drohen ihnen dann Strafmaßnahmen an.

Zu diesem Punkt stehen zwei Möglichkeiten offen. Diejenigen, die sich in Drehern neuen Aktivitätsformen beschäftigen, geben dem Druck auf ihnen von der alten Ordnung nach, und die neuen Aktivitätsformen hören auf. Oder sie verallgemeinern ihren Zusammenstoß mit der alten Ideologie und entwickeln aus Elementen davon eine neue Gesamtweltanschauung, hinter der sie all diejenigen zu mobilisieren versuchen, die in einer ähnlichen objektiven Lage wie der ihrigen sind.

Ein neues System von Ideen ist nicht bloß eine passive Widerspiegelung der ökonomischen Änderungen. Es ist vielmehr ein wichtiges Bindeglied im Prozeß der gesellschaftlichen Umwandlung, indem es diejenigen, die durch kumulativen kleinen Änderungen in der Produktion betroffen sind, als eine Kraft mobilisieren, deren Ziel darin besteht, die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Gesamtheit zu ändern.

Nehmen wir z.B. die klassische Debatte über den Protestantismus und den Aufstieg des Kapitalismus. Laut den Gegnern des Marxismus wie Max Weber war es die autonome „nichtökonomische“ Entwicklung einer neuen religiösen Ideologie, die allein den Boden lieferte, worin neue kapitalistische Produktionsmethoden sich verwurzeln konnten. Der Puritanismus schuf den Kapitalismus.

Laut den mechanischen Materialisten war es umgekehrt. Der Protestantismus war einfach eine mechanische Widerspiegelung der Entwicklung der kapitalistischen Verhältnisse. Der Kapitalismus war Ursache, der Protestantismus Wirkung.

Jeder verpaßte ein äußerst wichtiges Bindeglied in der Kette der historischen Entwicklung. Der Protestantismus entwickelte sich, weil einige Menschen in der feudalen Gesellschaft damit anfingen, in Weisen zu arbeiten und zu leben, die sich nicht leicht mit der vorherrschenden Ideologie des mittelalterlichen Katholizismus versöhnen ließen. Sie fingen damit an, einige ihrer Grundsätze neu zu interpretieren, um Sinn aus ihren neuen Verhaltensformen zu machen. Aber das führte zu Zusammenstößen mit den ideologischen Hütern der alten Ordnung (der Hierarchie der Kirche). Zu diesem Zeitpunkt erschien eine Reihe von Persönlichkeiten, die versuchten, die Herausforderung gegen die alte Ideologie zu verallgemeinern – Luther, Calvin usw. Wo die Herausforderung nicht erfolgreich war bzw. wo die Herausforderer zum Kompromiß gezwungen wurden (wie in Deutschland, Frankreich und Italien), wurden die neuen Arbeits- und Lebensweisen nicht mehr als Randerscheinungen in einer weiterbestehenden feudalen Gesellschaft. Aber wo die Herausforderung erfolgreich war (in Großbritannien und in den Niederlanden), befreite sie die neuen Arbeits- und Lebensweisen von den alten Einschränkungen – sie verallgemeinerte bürgerliche Produktionsformen.

Das gleiche Verhältnis gilt zwischen dem Kampf der Arbeiter unter dem Kapitalismus und den Ideen des revolutionären Sozialismus.

Ursprünglich versuchen die Arbeiter, ihre Erfahrung des Zurückkämpfens gegen Aspekte des Kapitalismus in ideologische Rahmen zu passen, die ihnen von der Vergangenheit überliefert werden. Diese Rahmen gestalten die Formen, die ihre Kämpfe annehmen, so daß die Kämpfe nie eine einfache Widerspiegelung der materiellen Interessen sind. „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“, wie Marx es ausdrückt. [69] Aber der Prozeß des Versuchens, ihre neue Erfahrungen durch alte Rahmen zu interpretieren, schafft eine Spannung innerhalb der alten Rahmen, der nur gelöst wird, wenn die Menschen versuchen, die Rahmen zu ändern.

Wie Antonio Gramsci es darstellte: „Der aktive Mensch der Massen arbeitet praktisch, aber er hat nicht ein klares theoretisches Bewußtsein seiner Aktionen, das auch ein Wissen über die Welt ist, insofern er sie ändert.“ Daher gibt es „zwei Arten des Bewußtseins“, dasjenige, das „in seiner Aktionen implizit“ ist, und dasjenige, daß „oberflächlich explizit [ist], das er von der Vergangenheit überliefert bekommen hat und die er ohne Kritik akzeptiert“. „Diese ‚wörtliche‘ Vorstellung ist nicht ohne folgen; sie bindet ihn zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, beeinflußt sein Moralisches Verhalten und die Richtung seines Willens in einer mehr oder weniger mächtigen Weise und kann den Punkt erreichen, wo der Widerspruch des Bewußtseins keine Aktion erlaubt ...“ Deshalb: „Die Einheit der Theorie und der Praxis ist keine gegebene mechanische Tatsache, sondern ein historischer Prozeß des Werdens.“ [70]

So versuchten die Chartisten der 1830er und 1840er Jahre mit neuen Erfahrungen durch ältere radikal-demokratische Vorstellungen zurecht zu kommen. Aber dieser schuf widersprüchliche ideologische Formulierungen aller Arten. Das ist der Grund, warum einige der beliebtesten Redner und Schriftsteller Menschen wie Bronterre O’Brien, Julian Harney und Ernest Jones waren, die damit anfingen, die Erfahrung der Menschen in neueren expliziter sozialistischen Weisen zu artikulieren.

Der Marxismus selbst war nicht ein Satz von Ideen, der voll gestaltet aus den Kopfes von Marx und Engels entstand und dann zauberhaft die Arbeiterbewegung ergriff. Das Geburt der Theorie hing von einer Destillation durch Marx und Engels der Erfahrungen der jungen Arbeiterbewegung in den Jahren vor 1848 ab. Sie ist von Arbeitern seitdem akzeptiert worden, insofern sie damit zusammenpaßte, was Kämpfe ihnen schon ansatzweise gelehrt hatte. Aber ihre Akzeptanz hat dann eine Rückwirkung auf die Kämpfe gehabt, um ihr Ergebnis zu beeinflussen.

Die Theorie spiegelt nicht einfach die Erfahrung der Arbeiter unter dem Kapitalismus wider; sie verallgemeinert einige Elemente dieser Erfahrung (diejenigen des Kampfs gegen den Kapitalismus) zu einem Bewußtsein des Systems als Ganzen. Indem sie das macht, gibt sie neue Einsichten darin, wie man den Kampf durchführen sollte, und eine neue Kampfentschlossenheit.

Die Theorie entwickelt auf der Basis der Praxis, wirkt aber auf die Praxis zurück, um ihre Wirksamkeit zu beeinflussen.

Dieser Punkt ist wichtig, weil die Theorie ist nicht immer richtige Theorie. In der Geschichte hat man sehr wichtige Arbeiterkämpfe unter dem Einfluß von unrichtigen Theorien durchgeführt: dem Proudhonismus und dem Blanquismus in Frankreich während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; dem Lassalleanertum [Lassalleanismus] in Deutschland; der Volkstümelei [dem Narodismus] und sogar der Russischen Orthodoxie in Rußland während der Jahre vor 1905; dem Peronismus in Argentinien; dem Katholizismus und dem Nationalismus in Polen; und natürlich den schrecklichen [fürchterlichen] Zwillingen, der Sozialdemokratie und dem Stalinismus.

In all diesen Fällen sind die Arbeiter in den Kampf gegangen unter dem Einfluß von „gemischten“ Weltanschauungen – Anschauungen, die ein bestimmtes unmittelbares Verständnis der Bedürfnisse des Klassenkampfs mit einem allgemeineren Vorstellungssatz kombinieren, die Schlüsselelemente der bestehenden Gesellschaft akzeptieren. Ein solches falsches Verständnis der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit führt zu riesigen Fehlern – Fehlern, die immer wieder zu massiven Niederlagen geführt haben.

Angesichts solcher Verwirrung und solcher Niederlagen ist nichts gefährlicher als die Behauptung, daß Ideen die Wirklichkeit überholen müssen, daß der Sieg sicher ist. Denn das führt unvermeidlich dazu, daß man die Wichtigkeit der Kombinierung des praktischen und des ideologischen Kampfs herunterspielt.

Rolle der Partei in der Geschichte

Die andere Seite der Münze zum Herunterspielen des Ideologischen Kampfs durch den mechanischen Materialisten ist eine Tendenz seitens einiger sozialistischer Akademiker dazu gewesen, den ideologischen Kampf als etwas Getrenntes von praktischen Konflikten zu betrachten. Das stimmt besonders für die Reformisten von der Zeitschrift Marxism Today [3*] und der neuen Labour-Linken.

Aber der Kampf um Ideen wächst aus dem Kampf in der Welt der materiellen Praxis, wo Ideen ihre Wurzeln haben, und spitzt immer in weiteren solchen materiellen Kämpfen zu. Es war die tagtägliche Aktivität der Handwerker und der Händler unter dem Feudalismus, die ketzerische protestantische religiöse Formulierungen entstehen ließ. Und es war die allzu wirkliche Tätigkeit von Armeen, die überall in Europa kämpften, die letzten Endes den Erfolg oder das Scheitern der neuen Ideologie entschied.

Die neuen Idealisten behaupten oft, daß ihre theoretische Inspiration von Antonio Gramsci kommt, aber er bestand ausdrücklich auf der Verbindung zwischen dem theoretischen und dem praktischen Kämpft:

Wenn das Problem des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis entsteht, entsteht es in diesem Sinne: Um auf einer bestimmten Praxis eine Theorie zu bilden, die, indem sie mit den entscheidenden Elementen derselben Praxis übereinstimmt und identifiziert wird, den historischen Prozeß in der Tat beschleunigt, die Praxis homogener, zusammenhängender und wirksamer in all ihren Elementen macht, d.h. ihr die maximale Kraft gibt; oder aber, ein bestimmtes theoretisches Problem gegeben, die wesentlichen praktischen Elemente zu organisieren, um sie durchzuführen. [71]

Wenn man heute den ideologischen Griff des Kapitalismus herausfordern will, kann man es nicht machen, wenn man sich nicht auf Menschen bezieht, deren tagtäglichen Kämpfe sie dazu führen, bestimmte seiner Grundsätze herauszufordern. Und wenn man diese Herausforderung zum Ende durchführen will, muß man verstehen, daß der ideologische Kampf sich in den praktischen Kampf umwandelt.

Die Verwandlung der Praxis in die Theorie und der Theorie in die Praxis findet nicht von sich allein statt. „Eine Menschenmasse ‚unterscheidet‘ sich nicht und wird nicht unabhängig ‚von sich‘, ohne daß sie sich organisiert, und es gibt keine Organisation ohne Intellektuelle, d.h. ohne Organisatoren und Führer ...“ [72]

Eine aufsteigende Klasse entwickelt einen klaren Satz von Ideen, insofern eine Polarisierung innerhalb der Klasse stattfindet, und das, was am Anfang eine Minderheit der Klasse ist, die Herausforderung der alten Ideologie zu ihrer logischen Schlußfolgerung durchführt.

Zu einer bestimmten Etappe im ideologischen und praktischen Kampf kristallisiert sich diese Minderheit als getrennte „Partei“ heraus (ob sie sich so nennt oder nicht). Gerade durch den Kampf solcher Parteien findet die Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse in neuen Ideen Ausdruck, und durch diesen Kampf werden die neuen Ideen benutzt, um Menschen zu mobilisieren, um den alten Überbau auseinanderzureißen. In einer berühmten Passage in Was tun? sagte Lenin, daß „politische Ideen“ zu der Arbeiterklasse von außen gebracht werden. Falls er meinte, die Arbeiter keine Rolle in der Ausarbeitung der revolutionären sozialistischen Weltanschauung spielten, hatte er unrecht. [73] Falls er meinte, die praktische Erfahrung eröffnet Arbeiter nicht für sozialistische Ideen, hatte er unrecht. [74] Aber falls er meinte, sozialistische Ideen erobern nicht die Klasse ohne die Abtrennung einer unterschiedlichen sozialistischen Organisation, die durch einen langen Prozeß des ideologischen und praktischen Kampfs aufgebaut wird, hatte er absolut recht.

Die berühmten Diskussion der mechanischen Materialisten waren über die „Rolle des Individuums in der Geschichte“. [75] Aber nicht das Individuum, sondern die Partei wurde für den nichtmechanischen, nichtvoluntaristischen Materialismus der revolutionären Jahre nach 1917 zentral.

Trotzki erklärt in seinem Meisterwerk, Die Geschichte der Russischen Revolution, daß Revolutionen gerade deswegen stattfinden, weil der Überbau sich nicht mechanisch mit jeder Änderung in der ökonomischen Basis ändert:

Die Gesellschaft ändert nämlich ihre Einrichtungen nicht nach Maßgabe des Bedarfs, wie ein Handwerker seine Instrumente erneuert. Im Gegenteil, sie nimmt die über ihr hängenden Institutionen praktisch als etwas ein für allemal Gegebenes. Jahrzehntelang bildet die oppositionelle Kritik nur das Sicherheitsventil für die Massenunzufriedenheit und eine Bedingung für die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaftsordnung ... [76]

„Die im Verlauf einer Revolution stattfindenden radikalen Umwälzungen“, sind nicht einfach das Ergebnis der „episodischen Erschütterungen der Wirtschaft“. „[Es] wäre der gröbste Fehler, zu glauben, die zweite Revolution [von 1917] habe acht Monate nach der ersten stattgefunden infolge des Umstandes, daß die Brotration in dieser Zeit von anderthalb auf dreiviertel Pfund gesunken war“ Ein Versuch, die Sachen mit diesen Begriffen zu erklären, „enthüllt ... am besten die Unzulänglichkeit der vulgär-ökonomischen Erklärung der Geschichte, die nicht selten als Marxismus ausgegeben wird“. [77]

Was entscheidend wird, ist die „schnellen, gespannten und stürmischen Veränderungen der Psychologie der vor der Revolution herausgebildeten Klassen“. [78] „Vergessen wir nicht, daß Revolutionen vollbracht werden von Menschen, wenn auch von namenlosen. Der Materialismus ignoriert nicht den fühlenden, denkenden und handelnden Menschen, sondern erklärt ihn.“ [79]

Parteien sind ein wesentlicher Bestandteil des revolutionären Prozesses:

Sie bilden, wenn auch kein selbständiges, so doch ein sehr wichtiges Element des Prozesses. Ohne eine leitende Organisation würde die Energie der Massen verfliegen wie Dampf, der nicht in einem Kolbenzylinder eingeschlossen ist. Die Bewegung erzeugt indes weder der Zylinder noch der Kolben, sondern der Dampf. [80]

Aber Parteien beinhalten immer ein subjektives Element in einer Weise, wie ökonomische Kräfte und die Bildung von Klassen es nicht beinhalten. Parteien müssen um bestimmte ideologische Voraussetzungen organisiert werden, und das bedarf der Anstrengung, der Aktivität und der Argumentation von Individuen.

In Rußland in 1917 konnten die Widersprüche in der materiellen Realität nicht gelöst werden, ohne daß die Arbeiterklasse die Macht eroberte. Aber die Arbeiterklasse konnte nicht von dieser Notwendigkeit bewußt werden, ohne daß eine Minderheit in der Klasse sich von den Ideen der Mehrheit abtrennte. Es war notwendig daß es einen „Bruch der proletarischen Avantgarde mit dem kleinbürgerlichen Block“ [81] gab. Viele Arbeiter begannen sich unter dem Druck der Ereignisse zu bewegen, diesen Bruch durchzuführen. „Sie wußten nicht, wie sie die Voraussetzung des bürgerlichen Charakters der Revolution und der Gefahr der Isolation des Proletariats widerlegen sollten.“ [82] „ Die Diktatur des Proletariats ergab sich aus der ganzen Situation. Aber man mußte sie erst errichten. Sie war ohne die Partei nicht zu errichten.“ [83]

Die Tatsache, daß die menschliche Materie zum Aufbau einer Partei vor 1917 existierte, war ein Ergebnis der objektiven historischen Entwicklungen. Aber diese Entwicklungen mußten einen Ausdruck in der Tätigkeit und in den Vorstellungen von Individuen finden. Und als einmal die Revolution angefangen hatte, war die Aktivität der Partei keine blinde Widerspiegelung der Realität. Es stimmt, „die Partei ... konnte ihre Mission nur erfüllen, nachdem sie sie erkannt hatte.“ [84], aber das hing von der Fähigkeit von verschiedenen Individuen ab, Ideen über die objektive Lage zu artikulieren und Mitglieder der Partei dazu zu gewinnen.

Gerade da spielte laut Trotzki ein Individuum, Lenin, eine Rolle ohne Parallelen. Er war „ notwendig“, so daß die Partei die Ereignisse verstehen und wirksam handeln konnte. „ Bis zu seiner Ankunft war nicht einer der bolschewistischen Führer imstande gewesen, die Diagnose der Revolution zu stellen.“

Er war kein „ Schöpfer des revolutionären Prozesses“, der auf ihn als willkürliches Element von außen wirkte. Er hat „sich nur in die Kette der objektiven historischen Kräfte eingegliedert. Doch war er in dieser Kette ein großes Glied.“ Ohne Lenin fingen viele Arbeiter an, nach einem Kenntnis darüber zu suchen, was zu tun war. Aber ihre Suche mußte verallgemeinert werden, um Teil einer neuen Gesamtbetrachtung der Revolution zu werden. „ Er zwang den Massen seinen Plan nicht auf. Er half den Massen, ihren eigenen Plan zu erkennen und zu verwirklichen.“ [85]

Die Argumente hätten ohne ihn stattgefunden. Aber es gibt keine Garantie, daß sie in einer Weise wären gelöst worden, die es der Partei ermöglicht hätte, entschlossen zu handeln:

Der innere Kampf in der bolschewistischen Partei war vollkommen unvermeidlich. Lenins Ankunft hat den Prozeß nur beschleunigt. Sein persönlicher Einfluß hat die Krise verkürzt. Kann man aber mit Bestimmtheit sagen, die Partei würde auch ohne ihn ihren Weg gefunden haben? Dies zu behaupten, könnten wir uns keinesfalls entschließen. Der Faktor Zeit entscheidet hier, und hinterher läßt sich schwer auf die Uhr der Geschichte blicken. Dialektischer Materialismus hat jedenfalls nichts mit Fatalismus gemein. Die Krise, die die opportunistische Leitung unvermeidlich hervorrufen mußte, würde ohne Lenin einen besonders scharfen und langwierigen Charakter angenommen haben. Die Bedingungen des Krieges und der Revolution ließen aber der Partei für die Erfüllung ihrer Mission keine langen Fristen. Es ist deshalb ganz und gar nicht ausgeschlossen, daß die desorientierte und zerrissene Partei die revolutionäre Situation auf viele Jahre hinaus verpassen konnte. [86]

Das Individuum spielt eine Rolle in der Geschichte. Aber nur insofern das Individuum Teil des Prozesses ist, wodurch eine Partei es der Klasse ermöglicht, von sich bewußt zu werden.

Eine individuelle Persönlichkeit ist Produkt einer objektiven Geschichte (der Erfahrung der Klassenverhältnisse der Gesellschaft, in der er bzw. sie aufwächst, früherer Versuche mit der Rebellion, der vorherrschenden Kultur usw.). Aber wenn er bzw. sie eine rolle in der Weise spielt, wodurch ein Teil der Klasse von sich bewußt wird und sich als Partei organisiert, wirkt er bzw. sie auf den historischen Prozeß zurück und wird zu einem „Bindeglied in der historischen Kette“.

Wenn Revolutionäre das ignorieren, heißt es daß sie einen Fatalismus verfallen, der oft versucht, alle Verantwortung für das Ergebnis aller Kämpfe in den Wind zu schlagen. Er kann ebenso gefährlich sein als der gegensätzliche Fehler, wo man glaubt, daß die Aktivität der Revolutionäre die einzige Sache ist, die zählt.

Dieser Punkt ist heute absolut relevant. Im modernen Kapitalismus gibt es ständigen Druck auf revolutionäre Marxisten dazu, dem Druck des mechanischen Materialismus einerseits und des voluntaristischen Idealismus andererseits nachzugeben.

Der mechanische Materialismus paßt dem Leben der Bürokratien der Arbeiterbewegung. Ihre Positionen stützen sich auf dem langsamen Anwachsen des Einflusses innerhalb der bestehenden Gesellschaft. Sie glauben, die Zukunft wird immer das Ergebnis des allmählichen organischen Wachstums aus der Gegenwart sein, ohne die Sprünge einer qualitativen Änderung. Das ist der Grund, warum ein Marxismus, der sich ihrer Arbeitsweise anpaßt (wie der der Militant-Tendenz oder des prorussischen Flügels der KP) zu einem kautskyanischen Marxismus neigt.

Der Voluntarismus des neuen Idealismus paßt den Aspirationen [Hoffnungen] der neuen Mittelschichten und der reformistischen Intellektuellen. Die Lebensweise dieser Schichten sind vom wirklichen Produktions- und Ausbeutungsprozeß abgeschnitten, und verfallen leicht dem glauben, daß intellektuelle Überzeugung und Engagement allein aus der Welt die Geister der Krise, des Hungers und des Kriegs beseitigen können.

Der revolutionäre Marxismus kann diesen Druck nur überleben, wenn er kämpfende Minderheiten in Parteien gruppieren kann. diese können nicht außerhalb der materiellen Geschichte hinausspringen, aber die Widersprüche der Geschichte lassen sich nicht ohne ihre eigene bewußte Tätigkeit lösen.

Anmerkungen

1. Karl Marx, Vorwort, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in Marx u. Engels, Werke (später MEW), Bd.13, Berlin 1964, S.8.

2. Karl Marx, Das Elend der Philosophie, in Marx u. Engels, Ausgewählte Schriften (später MEAW), Berlin 1986, Bd.I, S.287.

3. Karl Kautsky, The Economic Doctrines of Karl Marx, London 1925, S.365.

4. Karl Kautsky, Vorläufer des neueren Sozialismus, Erster Band: Kommunistische Bewegungen im Mittelalter, Berlin 1923, S.365. Eine englische Übersetzung wurde während der 1890er Jahre produziert, aber man kann sie heutzutage kaum finden; was schade ist, da die Schwäche der Kautskyschen Methode ihn nicht daran gehindert hat, interessante historische Studien herzustellen.

5. Karl Kautsky, Ethics and the Materialistic Conception of History, London 1906, S.81.

6. Wie die meisten anderen mechanischen Materialisten konnte Kautsky nicht der eigenen Methode rigide treu bleiben. Manchmal deutet er darauf an, daß die menschliche Tätigkeit eine wichtige Rolle zu spielen hat (wie in seiner Einleitung zum Erfurter Programm, wo er darauf andeutet, daß, wenn „die Gesellschaft die Bürde [des] Systems des Privateigentums der Produktionsmittel nicht abschüttelt“ in der Weise, wie „das evolutionäre Gesetz“ vorschreibt, das System „die Gesellschaft in den Abgrund niederreißen wird“. The Class Struggle, Chicago 1910, S.87.

7. G. Plekhanov, The Role of the Individual in History, in Essays in Historical Materialism, New York 1940, S.41.

8. ebenda.

9. G. Plekhanov, Fundamental Problems of Marxism, Moskau ohne Datum, S.83.

10. ebenda, S.80.

11. The Role of the Individual ..., a.a.O., S.44.

12. Was nicht heißt, daß Plechanow, der oft theoretisch ganz raffiniert war, für die Grobheit der stalinistischen Anwendung seiner Schriften verantwortlich ist.

13. Engels an W. Borgius, 25. Januar 1894, MEW Bd.39, Berlin 1968, S.206. [2*]

14. Engels an Joseph Bloch, 21./22. September 1890, MEW, Bd.37, Berlin 1967, S.463. Vgl. auch seine Briefe an Conrad Schmidt, 27. Oktober 1890 (MEW, Bd.37, S.488ff.) und 5. August 1890 (MEW, Bd.37, S.435ff.) und seinen Brief an Franz Mehring, 14. Juli 1893 (MEW, Bd.39, S.96ff.).

15. s. z.B. die heftige Polemik von E.P. Thompson gegen die Althusserianer, The Poverty of Theory.

16. in New Left Review 3, Mai 1960.

17. s. The Poverty of Theory, S.251-2.

18. s. z.B. seinen Aufsatz Rethinking Chartism, in Language of Class, Cambridge 1983.

19. s. z.B. Norah Carlins Bemerkung: „Die Unterscheidung zwischen Basis und Überbau führt öfter irre, als sie vonnutzen ist“, in Is the family part of the superstructure?, International Socialism 2:26; und Alex Callinicos’ Hinweis, daß die marxistische Methode darin besteht, „von den Produktionsverhältnissen anzufangen und sie nicht als Produktivkräfte zu behandeln, sondern als unabhängig“, in Marxism and Philosophy, London 1983, S.112.

20. G.A. Cohen, Karl Marx’s Theory of History: A Defence, Oxford 1978.

21. s. A. Labriola, Essays on the Materialist Conception of History, und Socialism and Philosophy, Chicago 1918.

22. V.I. Lenin, Collected Works, Bd.38, S.276.

23. s. die Kritik der Position Trotzkis in Isaac Deutscher, The Prophet Outcast, S.240-7.

24. Marx u. Engels, Die deutsche Ideologie, in MEW, Bd.3, Berlin 1978, S.20-1, 28.

25. ebenda, S.21.

26. Labriola, Essays ..., S.155.

27. Marx u. Engels, Die deutsche Ideologie, in MEW, Bd.3, S.21.

28. ebenda.

29. ebenda, S.25.

30. Marx, Theorien über den Mehrwert, Teil I, in MEW, Bd.26.1, Berlin 1965, S.260.

31. Marx u. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in MEAW, Bd.I, S.416.

32. Lenin, ???

33. Engels an Joseph Bloch, 21./22. September 1890, MEW, Bd.37, S.463.

34. Marx, Das Elend der Philosophie, in MEAW, Bd.I, S.287-8.

35. Marx, ???

36. Marx u. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in MEAW, Bd.I, S.419.

37. ebenda, S.416.

38. Für eine ausgezeichnete Darstellung der Weise, wie aufeinanderfolgende Zivilisationen des Bronzezeitalters in „finstere Zeitalter“ zurückfielen s. V. Gordon Childe, What Happened in History, Harmondsworth 1948, S.134, 135-6, 165. Für „rückläufige Entwicklung“ im Amazonas s. C. Levi Strauss, The concept of archaism in archaeology, in Structural Anthropology, Harmondsworth 1968, S.107-12.

39. Engels an Joseph Bloch, 21./22. September 1890, MEW, Bd.37, S.463.

40. vgl. C.F. Turnbull, The Mountain People, London 1974.

41. Marx, Das Kapital, Bd.1, Berlin 1977, S.360

42. Marx u. Engels, Die deutsche Ideologie, in MEW, Bd.3, S.76.

43. Das ist der Punkt, den G. Lukacs in Geschichte und Klassenbewußtsein, London 1997, S.66-71, macht.

44. s. die kurze Skizze dieses Prozesses in Lindsey German, Theories of Patriarchy, International Socialism 2:12 [deutsche Übersetzung: Theorien des Patriarchats].

45. So machen viele Theoretikerinnen des Patriarchats, was auch Norah Carlin in Is the family part of the superstructure?, International Socialism 2:26, macht.

46. Norah Carlin schenkt diesen Änderungen große Aufmerksamkeit, denkt nicht aber daran, woher sie stammen. Ihre Ablehnung, die Kategorien „Basis“ und „Überbau“ ernst zu nehmen, hindert sie daran.

47. Das ist das Argument von Simon Clarke, Althusser’s Marxism, in Simon Clarke u.a., One-Dimensional Marxism, London 1980, S.20: „Gesellschaftliche Produktionsverhältnisse erscheinen in spezifischen ökonomischen, ideologischen und politischen Formen.“

48. Simon Clarke landet schließlich beim Versuch, sich auf solche Widersprüche zu beziehen, indem er über „den Ausmaß redet], wozu jedes gesellschaftliche Verhältnis in die kapitalistischen Verhältnisse eingeordnet wird“. Die Ausdrucksweise ist viel schwerfälliger als Marx’ eigene Begriffe „Basis“ und „Überbau“ und läßt einem nicht leicht zwischen den Widersprüchen der kapitalistischen Wirtschaft und anderen Elementen des Widerspruchs, die zu Punkten in der konkreten Geschichte des Systems entstehen, unterscheiden. Alle vom System verursachten Konflikte werden als von gleicher Wichtigkeit betrachtet. Politisch führt das zu einem Voluntarismus, der dem des Postalthusserianerismus sehr ähnelt.

49. Marx u. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in MEAW, Bd.I, S.419.

50. Für eine viel vollständigere Entwicklung dieser Ideen s. mein Buch Explaining the Crisis, London 1984.

51. Marx u. Engels, Die deutsche Ideologie, in MEW, Bd.3, S.26.

52. ebenda.

53. ebenda, S.30.

54. ebenda.

55. ebenda, S.432.

56. ebenda, S.167.

57. Marx, 1. These über Feuerbach, MEAW, Bd.I, S.196.

58. Marx, 2. These über Feuerbach, MEAW, Bd.I, S.196.

59. ebenda.

60. Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen des Bewußtseins war eine der Früchte der deutschen Philosophie und man kann sie im früheren Teil der Hegelschen Phänomenologie des Geistes finden. Natürlich gibt Marx dieser Unterscheidung eine andere Bedeutung als Hegel. Das Problem, wie es möglich ist, sich von einem „unmittelbaren“ Bewußtsein zu einem wahren allgemeinen bzw. „vermittelten“ Bewußtsein zu bewegen, ist das Thema des größeren philosophischen Aufsatzes von Lukacs, Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats, in Geschichte und Klassenbewußtsein.

61. Marx u. Engels, Die deutsche Ideologie, in MEW, Bd.3, S.432-3.

62. ebenda, S.435.

63. Marx, „8. These über Feuerbach“, MEAW, Bd.I, S.200.

64. Für einen Vergleich zwischen Wittgenstein und Marx s. A. MacIntyre, Breaking the Chains of Reason, in E.P. Thompson (Hrsg.), Out of Apathy, London 1960, S.234.

65. Ich verwende „Historizismus“ hier im traditionellen Sinne eines Relativismus, der sagt, daß es keine allgemeinen Kriterien der Wahrheit bzw. der Falschheit gibt, sondern daß die Richtigkeit einer Idee von der konkreten historischen Situation abhängt, worin sie vorgestellt werden. Dieser ist z.B. der Sinn, worin der Begriff von Gramsci verwendet wird. Man sollte ihn nicht mit dem Sinne verwechseln, in dem Karl Popper ihn in seinem Buch Das Elend des Historizismus als Schimpfwort anwendet, das sich auf fast jede allgemeine Darstellung der Geschichte bezieht.

66. Marx, Theorien über den Mehrwert, 2. Teil, in MEW, Bd.26.2, Berlin 1967, S.162.

67. Marx, Theorien über den Mehrwert, 1. Teil, in MEW, Bd.26.1, Berlin 1965, S.260.

68. ebenda, S.273.

69. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in MEAW, Bd.II, Berlin 1979, S.308. Es ist Unsinn, wenn Postalthusserianer wie G. Stedman Jones behaupten, daß ein marxistischer Ansatz einen Versuch bedeutet, „politische Sprache ... zu entschlüsseln, um einen ursprünglichen und materiellen Ausdruck des Interesses zu lesen“, Language of Class, S.21.

70. A. Gramsci, Avriamento allo studio della filosofia del materialismo storico, in Materialismo Storico, Turin 1948, ins Englisch übersetzt in The Modern Prince, London 1957, S.66-7.

71. Gramsci, Materialismo Storico, S.38.

72. Gramsci, ebenda, übersetzt in The Modern Prince, S.67.

73. Als er selbst später zugab, Lenin, Collected Works, Bd.6., S.491.

74. Man soll seine Bemerkung in 1905 merken: „Die Arbeiterklasse ist instinktiv und spontan sozialdemokratisch ...“, zit. in C. Harman, Partei und Klasse, Frankfurt/M. 1989, S.15.

75. G. Plekhanov, The Role of the Individual in History.

76. L. Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Vorwort zu Bd.1, Frankfurt/M. 1973, S.8.

77. ebenda, Vorwort zu Bd.2, S.404.

78. ebenda, Vorwort zu Bd.1, S.8.

79. ebenda, Vorwort zu Bd.2, S.405.

80. ebenda, Vorwort zu Bd.1, S.9.

81. ebenda, Bd.1, S.272.

82. L. Trotsky, History of the Russian Revolution, Bd.1, S.302. [4*]

83. Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Bd.1, S.280.

84. ebenda.

85. ebenda, S.277.

86. ebenda, S.280.




Anmerkungen des Übersetzers

1*. Im Originaltext gibt es hier eine Metapher über Elefanten und Mäusen, die sich nicht wortwörtlich übersetzen läßt.

2*. Dieser Brief wurde von Heinz Starkenburg ohne Angabe des Empfängers veröffentlicht, erhielt deswegen den Namen Brief an Starkenburg.

3*. Ehemalige theoretische Zeitschrift der Kommunistischen Partei Großbritanniens, die während der 1980er Jahre ein wichtiger Sprachrohr des Reformismus war und die nach dem Zusammenbruch des Stalinismus im Ostblock nicht bloß politisch, sondern auch finanziell pleite ging.

4*. Dieses Zitat konnte ich nicht in der deutschen Übersetzung finden.


Zuletzt aktualisiert am 21 November 2009