Ursprünglich veröffentlicht in International Socialism (1. Serie), Nr.30, Herbst 1967, S.8-17.
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Die Periode der Februar- und der Oktoberrevolution 1917 in Rußland wurde durch zwei nebeneinander herlaufende Prozesse bestimmt. Der eine vollzog sich in den Städten: Er bestand in einer raschen Zunahme des Klassenbewußtseins der Arbeiter. In den Julitagen 1917 schienen zumindest die Industriearbeiter zu einem Verständnis der unterschiedlichen Interessenlagen bei den an der Revolution beteiligten Klassen gelangt zu sein. Auf dem Lande kam es zu einer Klassendifferenzierung anderer Art. Sie verlief nicht zwischen einer besitzenden Klasse auf der einen und einer Klasse, für die individueller Besitz jenseits aller denkbaren Möglichkeiten lag, auf der anderen Seite. Es handelte sich eher um einen Konflikt zwischen zwei besitzenden Klassen. Auf der einen Seite sollten die Großgrundbesitzer enteignet werden, der Besitz aber dann auf individueller Basis aufgeteilt werden. In einer solchen Bewegung war sogar Platz für die „Kulaken“, die reichen Bauern.
Es wäre zu keiner Revolution gekommen ohne das gleichzeitige Zutagetreten dieser beiden Prozesse. Aber was sie verband, war keine Übereinstimmung im letzten Ziel. Es war vielmehr die Tatsache, daß aus bestimmten historischen Gründen die industrielle Bourgeoisie nicht in der Lage war, mit den Großgrundbesitzern politisch zu brechen. Diese Unfähigkeit trieb die Bauernschaft (und dazu mußte man in Rußland auch die Armee zählen) und die Arbeiter in dasselbe Lager.
„Um den Sowjetstaat zu verwirklichen, war die Annäherung und gegenseitige Durchdringung zweier Faktoren von ganz verschiedener historischer Natur notwendig: des Bauernkrieges, das heißt einer Bewegung, die für die Morgenröte der bürgerlichen Entwicklung charakteristisch ist, und des proletarischen Aufstandes, das heißt einer Bewegung, die den Untergang der bürgerlichen Gesellschaft bedeutet.“ [1]
Nur aufgrund der Sympathie der Armee, deren Soldaten weitgehend bäuerlicher Herkunft waren, konnte der Aufstand in den Städten Erfolg haben. Andererseits wäre der Kampf der Bauern ohne Aussicht auf Erfolg geblieben, wenn er nicht durch eine zentralisierte Kraft von außen angeführt und zusammengeschweißt worden wäre. 1917 war in Rußland die einzige derartige Kraft die organisierte Arbeiterklasse. Daß die Arbeiter im entscheidenden Augenblick die Bauernschaft hinter sich bringen konnten, gab ihnen die Möglichkeit, die Macht in den Städten zu erobern.
Die Bourgeoisie und ihre Verbündeten, die Großgrundbesitzer, waren enteignet worden. Die Klassen, die sich an dieser Entscheidung beteiligt hatten, hatten deshalb aber noch keine langfristig gemeinsamen Interessen. Die Klasse in den Städten war eine Klasse, deren bloße Existenz vom kollektiven Handeln abhing. Die Klasse auf dem Land dagegen war eine Klasse, deren Mitglieder sich sogar untereinander nur vorübergehend vereinigten, um das Land zu nehmen, es dann aber jeder für sich zu bebauen. Sobald die Landnahme vollzogen und gesichert war, konnten lediglich äußere Anreize sie an irgendeinen Staat binden.
Die Revolution war also wirklich eine Diktatur der Arbeiter über die anderen Klassen in den Städten. In den größeren Städten war das gleichbedeutend mit der Herrschaft der Mehrheit in den Sowjets (Räten). Und sie war eine Diktatur der Städte über das Land. Während der ersten Periode der Aufteilung der Ländereien konnte diese Diktatur zunächst mit der Unterstützung der Bauernschaft rechnen, ja, sie wurde sogar mit den Bajonetten der Bauern verteidigt. Aber was sollte danach geschehen?
Diese Frage hatte die russischen Sozialisten bereits lange vor der Revolution beschäftigt. Sie stellten sich vor, daß eine sozialistische Revolution in Rußland, angesichts der Masse der Bauern hoffnungslos verloren sein werde. Das war der Grund, warum alle Marxisten in Rußland (einschließlich Lenin, anders dagegen Trotzki und zuvor Parvus) glaubten, die kommende Revolution werde eine bürgerliche sein. Als Parvus und Trotzki zum ersten Mal erklärten, die Revolution könne zu einer sozialistischen Regierung führen, schrieb Lenin:
„Das ist unmöglich, denn eine solche revolutionäre Diktatur kann nur stabil sein..., wenn sie sich auf eine große Mehrheit der Bevölkerung stützt. Das russische Proletariat stellt heute eine Minderheit in der russischen Bevölkerung dar.“ [2]
Bis ins Jahr 1917 hinein blieb Lenin bei dieser Ansicht. Dann erst entschloß er sich, die Möglichkeit eines sozialistischen Ausgangs der Revolution zu akzeptieren und dafür zu kämpfen. Der Grund dafür war, daß er die russische Revolution als eine Stufe in einer weltweiten Revolution sah, die dann die zahlenmäßig schwache Arbeiterklasse in Rußland gegen eine ausländische Intervention hätte schützen und ihr dabei hätte helfen können, die Bauernschaft mit der Herrschaft des städtischen Proletariats zu versöhnen. Acht Monate vor der Oktoberrevolution schrieb Lenin an Arbeiter in der Schweiz, daß „das russische Proletariat aus eigener Kraft die sozialistische Revolution nicht siegreich zu Ende führen kann.“ [3] Vier Monate nach der Revolution (am 7. Mai 1918) wiederholte er: „Es steht unumstößlich fest, daß wir ohne eine Revolution in Deutschland zugrunde gehen werden.“ [4]
Während der ersten Jahre der Sowjetherrschaft schien sich die Aussicht auf eine Weltrevolution zu bestätigen. Die Zeit zwischen 1918 und 1919 war durch soziale Erhebungen gekennzeichnet, wie man sie seit 1848 nicht mehr gesehen hatte. In Deutschland und Österreich folgte der militärischen Niederlage der Sturz der Monarchie. Überall war von Räten die Rede. In Ungarn und Bayern übernahmen, wenn auch nur kurz, Räteregierungen tatsächlich die Macht. In Italien wurden Fabriken besetzt. Aber das Erbe von 50 Jahren allmählicher Entwicklung konnte nicht so schnell ausgelöscht werden. Die alten sozialdemokratischen und Gewerkschaftsführer füllten die Lücke, die dadurch entstanden war, daß die bürgerlichen Parteien an Glaubwürdigkeit verloren hatten. Der kommunistischen Linken andrerseits fehlte die Organisation, um darauf zu antworten. Sie handelte, wo sie keine Unterstützung bei den Massen hatte; und wo sie diese Unterstützung besaß, versäumte sie zu handeln.
Doch war die Stabilisierung in Europa 1919 recht brüchig. In allen europäischen Ländern war während der folgenden 15 Jahren die bestehende Gesellschaftsordnung mehrmals ernsthaft bedroht.
Hinzu kam, daß die Erfahrung sowohl der Kommunistischen Parteien als auch der Arbeiterklasse sie viel besser als früher verstehen ließ, was gerade politisch vorging.
Die russischen Bolschewiki hatten jedoch nicht die Absicht, eine Revolution in anderen Ländern abzuwarten. Die Verteidigung der Sowjetrepublik schien untrennbar verbunden mit dem Vorantreiben revolutionärer Bewegung außerhalb Rußlands. Aber einstweilen wurden die nächsten Schritte und Aufgaben der russischen Revolution nicht von den bolschewistischen Führern, sondern von den internationalen imperialistischen Mächten bestimmt. Diese hatten einen „Kreuzzug“ gegen die Sowjetrepublik begonnen. Bevor man an etwas anderes denken konnte, mußten zunächst die „Weißen“ und ausländische Armeen zurückgedrängt werden. Dazu mußten alle verfügbaren Reserven genutzt werden.
Mit der Unterstützung durch das Volk, mit revolutionären Elan und zeitweilig, wie es scheint, mit bloßer Willensanstrengung gelang es, die Kräfte der Konterrevolution zu vertreiben (obwohl sie sich im äußersten Osten Rußlands noch bis 1924 hielten). Aber der Preis, der für diesen Sieg zu zahlen war, war hoch.
Er ist in materiellen Größen allein nicht zu fassen. Aber schon was die materielle Seite angeht, war er groß. Vor allem die Produktion in Industrie und Landwirtschaft war von den Folgen des Bürgerkrieges betroffen: 1920 betrug die Produktion von Roheisen nur drei Prozent des Vorkriegsausstoßes; die Produktion von Hanf 10 Prozent, die von Flachs 25 Prozent, Baumwolle 11 Prozent, Rüben 15 Prozent. Das bedeutete Armut, Hunger und Not. Aber noch mehr: Auflösung der industriellen Produktion hieß zugleich Auflösung der Arbeiterklasse. Sie war auf 43 Prozent ihrer früheren Stärke dezimiert worden. Der übrige Teil war entweder in die Dörfer zurückgekehrt oder tot auf den Schlachtfeldern geblieben. Rein quantitativ bedeutete das, daß die Klasse, die die Revolution geführt hatte, die Klasse, deren demokratische Willensbildungsprozesse den lebendigen Kern der Sowjetmacht dargestellt hatte, in ihrer Bedeutung um die Hälfte geschrumpft war. Tatsächlich war die Situation noch schlimmer. Übrig geblieben war nicht einmal die Hälfte der Klasse, die sonst durch die Natur ihrer Lebenssituation zu kollektivem Handeln gezwungen ist. Die Industrieproduktion betrug nur noch 18 Prozent des Vorkriegsstandes; die Arbeitsproduktivität war um zwei Drittel gesunken. Allein von dem, was das gemeinschaftlich Produzierte einbrachte, konnten sich die Arbeiter nicht am Leben erhalten. Viele von ihnen gingen dazu über, auf eigene Faust Produkte und sogar Maschinenteile bei den Bauern gegen die notwendigen Lebensmittel einzutauschen. Nicht nur, daß die führende Klasse der Revolution dezimiert worden war, auch die Beziehungen, die die einzelnen Arbeiter miteinander verbanden, waren nicht mehr die, die den Kern der revolutionären Bewegung von 1917 gebildet hatten. Die kämpferischsten Arbeiter hatten naturgemäß während des Bürgerkriegs in vorderster Front gekämpft und waren entsprechend als Erste gefallen.
Die Überlebenden wurden nicht nur in den Fabriken gebraucht, sondern auch als Kader in der Armee und als Kommissare zur Kontrolle derjenigen, die staatliche Verwaltungsaufgaben wahrnahmen. Bauern aus dem rückständigen Hinterland ohne sozialistische Traditionen oder sozialistisches Bewußtsein nahmen ihren Platz ein.
Was aber mußte das Schicksal einer Revolution sein, deren führende Klasse so gut wie nicht mehr existierte? Dieses Problem hatten die bolschewistischen Führer nicht voraussehen können. Sie hatten stets erklärt, daß die Revolution, wenn sie isoliert bliebe, von ausländischen Armeen und von der Konterrevolution im eigenen Land niedergeschlagen würde. Nun standen sie vor dem Problem, daß es der Konterrevolution von außen gelungen war, die Klasse, die die Revolution geführt hatte, zu zerschlagen. Aber der Staatsapparat, den die revolutionäre Arbeiterklasse aufgebaut hatte, war erhalten geblieben. Damit hatte die revolutionäre Macht gesiegt; aber in ihrer inneren Zusammensetzung bahnten sich radikale Veränderungen an.
Die revolutionären Institutionen von 1917, vor allem die Sowjets, waren ihrem Wesen nach gebunden an die Klasse, die die Revolution geführt hatte. Zwischen den Wünschen und Absichten ihrer Mitglieder und dem Bewußtsein der Arbeiter, die die Mitglieder in die Sowjets gewählt hatten, konnte es keine Kluft geben. Solange die Massen menschewistisch waren, waren es auch die Sowjets gewesen; sobald die Massen begannen, den Bolschewiki zu folgen, veränderte sich die Zusammensetzung der Sowjets entsprechend. Die bolschewistische Partei war dabei nichts anderes als ein Zusammenschluß von klassenbewußten Kämpfern, die in den Sowjets wie in den Fabriken neben anderen Vereinigungen ähnlicher Art ihre politischen Vorstellungen und Aktionsvorschläge formulieren konnten. Einheitlichkeit in diesen Vorstellungen und Selbstdisziplin bedeutete, daß sie dadurch in der Lage waren, ihre Ziele wirksam durchzusetzen, aber nur dann, wenn die Masse der Arbeiter ihnen folgte.
Selbst hartnäckige Gegner der Bolschewiki erkannten das an. So schrieb ein führender menschewistischer Kritiker:
„Man muß sich klarmachen, daß vor unseren Augen eine siegreiche proletarische Erhebung stattgefunden hat – fast das gesamte Proletariat ist auf Seiten Lenins und erwartet vom Aufstand die soziale Befreiung ...“ [5]
Solange noch Bürgerkrieg herrschte, konnte dieses demokratische Wechselspiel zwischen Partei und Klasse fortbestehen. Die Bolschewiki hatten die Macht, weil ihre Partei in den Sowjets die Mehrheit hatte, aber daneben gab es andere Parteien; bis zum Juni 1918 konnten beispielsweise die Menschewiki nach wie vor legal arbeiten und mit den Bolschewiki um die Unterstützung der Masse konkurrieren.
Die Dezimierung der Arbeiterklasse veränderte all das. Zwangsläufig begannen die Institutionen der Sowjets ein Leben unabhängig von der Klasse, auf deren Boden sie entstanden waren, zu führen. Diejenigen Arbeiter und Bauern, die im Bürgerkrieg kämpften, konnten sich nicht gemeinsam von ihren Arbeitsplätzen in den Betrieben aus selbst regieren. Die sozialistischen Arbeiter, die über die ganze Breite der Kriegsschauplätze verstreut eingesetzt wurden, mußten, zumindest zeitweilig, von einem zentralisierten Regierungsapparat her, der von ihrer direkten Kontrolle unabhängig war, organisiert und koordiniert werden.
Die Bolschewiki glaubten, daß die Sowjets nur dann zusammengehalten werden konnten, wenn in ihnen nur diejenigen arbeiten, die voll und ganz die Revolution unterstützten, das heißt: nur die Bolschewiki. Die rechten Sozialrevolutionäre hatten sich zum Antreiber der Konterrevolution gemacht. Die linken Sozialrevolutionäre waren entschlossen, zu terroristischen Mitteln zu greifen, wenn sie mit der Politik der Regierung nicht einverstanden waren. Die Menschewiki unterstützten zwar die Bolschewiki im Kampf gegen die Konterrevolution, knüpften daran aber die Forderung, daß die Bolschewiki die Macht der Verfassungsgebenden Versammlung übergeben müßten (was eine der zentralen Forderungen der Konterrevolution war). Praktisch hieße das, daß in der menschewistischen Partei sowohl Gegner wie Befürworter der Sowjetmacht vertreten waren. Viele ihrer Mitglieder liefen ins Lager der Weißen über (z.B. sympathisierten Organisationen der Menschewiki im Wolga-Gebiet mit der konterrevolutionären Samara-Regierung, und ein Mitglied des menschewistischen Zentralkomitees, Ivan Malsky, später Außenminister unter Stalin – trat in sie ein). [6] Die Reaktion der Bolschewiki war, zwar den einzelnen Parteimitgliedern ihre Freiheit zu lassen (zumindest eine ganze Zeit lang), aber zu verhindern, daß die Partei als politische Größe wirksam in Erscheinung trat. Z.B. wurde ab Juni 1919 die menschewistische Presse mit Ausnahme von drei Monaten im Jahre 1919 verboten.
Bei all dem hatten die Bolschewiki keine andere Wahl. Sie konnten nicht einfach die Macht aufgeben, nur weil die Klasse, die sie repräsentierten, sich beim Kampf um die Verteidigung dieser Macht aufgelöst hatte. Ebensowenig konnten sie dulden, daß Ideen propagiert wurden, die die Basis dieser Macht untergruben, gerade weil die Arbeiterklasse als organisiertes Kollektiv, das seine eigenen Interessen hätte bestimmen können, nicht mehr existierte.
Zwangsläufig war an die Stelle des Sowjetstaates von 1917 der Ein-Parteien-Staat von 1920 und später getreten. Was von den Sowjets übriggeblieben war, wurde mehr und mehr zu einem bloßen Ausführungsorgan der Bolschewiki (wenngleich andere Parteien, wie z.B. die Menschewiki, bis 1920 weiterhin in den Sowjets arbeiteten). 1919 gab es z.B. für den Moskauer Sowjet mehr als 18 Monate lang keine Wahlen. [7]
Paradoxerweise entspannte sich die Lage mit dem Ende des Bürgerkriegs keineswegs, sondern verschärfte sich in vieler Hinsicht. Denn sobald es keine unmittelbare Bedrohung durch die Konterrevolution mehr gab, riß das Band, das die beiden revolutionären Prozesse, die Machtergreifung der Arbeiter in den Städten und die Bauernaufstände auf dem Land, zusammengehalten hatte. Kaum hatten die Bauern das Land unter Kontrolle, verloren sie das Interesse an den kollektivistischen Idealen der Oktoberrevolution. Entsprechend ihrer individualistischen Arbeitsweise waren ihre Motive und Erwartungen individualistischer Natur. Ein jeder versuchte, durch seine Arbeit auf seinem eigenen Stück Land, seinen persönlichen Lebensstandard so weit wie möglich zu verbessern. Das einzige, was die Bauern noch zu einer geschlossenen Gruppe vereinen konnte, war der Widerstand gegen die Steuern und die Zwangsablieferung von Getreide für die Versorgung der städtischen Bevölkerung.
Seinen Höhepunkt erreichte dieser Widerstand eine Woche vor dem 10. Parteikongreß. In der Festung von Kronstadt, die den Zugang nach Petersburg sicherte, brach ein Aufstand der Matrosen aus. Was daraufhin geschah, haben viele als ersten Bruch des bolschewistischen Regimes mit seinen sozialistischen Zielen gewertet. Die Tatsache, daß Kronstädter Matrosen eine der treibenden Kräfte der Revolution von 1917 gewesen waren, war dafür häufig ein Argument. Doch seinerzeit hatte niemand in der bolschewistischen Partei Zweifel, nicht einmal die „Arbeiteropposition“, die die Antipathie vieler Arbeiter gegen das Regime der Partei zu repräsentieren beanspruchte, daß die Niederschlagung des Aufstandes in Kronstadt notwendig war. Der Grund war einfach. Das Kronstadt von 1920 war nicht das Kronstadt von 1917. Die Klassenzusammensetzung der Kronstädter Matrosen hatte sich verändert. Lange zuvor hatten die besten sozialistischen Kräfte Kronstadt verlassen, um an vorderster Front in der Armee zu kämpfen. An ihre Stelle waren meist Bauern getreten, die der Revolution genausoviel oder sowenig ergeben waren wie ihre Klasse. Das schlug sich in den Forderungen des Aufstandes nieder: Sowjets ohne Bolschewiki und Freier Markt für die Landwirtschaft. Die Führer der Bolschewiki konnten solchen Forderungen nicht zustimmen, denn das hätte die kampflose Aufgabe der sozialistischen Ziele der Revolution bedeutet. Denn trotz aller Fehler hatte die bolschewistische Partei als einzige die Macht der Sowjets voll und ganz unterstüzt, während andere Parteien, auch die sozialistischen, zwischen den Sowjets und den Weißen hin und her geschwankt waren. Es waren die Bolschewiki gewesen, die die besten Kämpfer mobilisiert hatten. Sowjets ohne Bolschewiki konnte daher nur heißen: Sowjets ohne die Partei, die am konsequentesten die sozialistischen, kollektivistischen Ziele der Arbeiterklasse in der Revolution zu vertreten versucht hatte. Was sich in Kronstadt zeigte, war die langfristige grundsätzliche Unvereinbarkeit der Interessen der beiden Klassen, die die Revolution gemacht hatten. In der Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes sollte man daher nicht einen Angriff auf den sozialistischen Inhalt der Revolution sehen, sondern einen verzweifelten Versuch, gewaltsam zu verhindern, daß der wachsende Widerstand der Bauern diese Revolution zunichte machte. [8]
Die Tatsache jedoch, daß es zum Kronstädter Aufstand überhaupt kommen konnte, war ein Vorzeichen für die folgende Entwicklung. Denn damit war die führende Rolle der Arbeiterklasse in der Revolution insgesamt in Frage gestellt. Die Führungsrolle wurde nicht durch die höher entwickelte Produktionsform garantiert, die die Arbeiterklasse repräsentierte, auch nicht durch höhere Arbeitsproduktivität, sondern durch physische Gewalt. Aber diese Gewalt lag nicht unmittelbar in den Händen der bewaffneten Arbeiter, sondern in den Händen einer Partei, die nur noch indirekt durch ihre politische Ideen, nicht mehr wie 1917 direkt mit der Arbeiterklasse verbunden war. Eine solche Politik war notwendig. Aber sie hatte kaum etwas mit dem zu tun, was Sozialisten in anderen Situationen richtig gefunden hätten. Die Revolution war nicht mehr die „selbstbewußte, unabhängige Bewegung der überwältigenden Mehrheit im Interesse der überwältigenden Mehrheit“; sie hatte vielmehr ein Stadium erreicht, das die Ausbeutung des Landes durch die Städte notwendig machte, was nur durch nackte physische Gewalt zu gewährleisten war. Allen Gruppen in der bolschewistischen Partei war klar, da damit die Revolution beständig Gefahr lief, durch Bauernaufstände niedergeworfen zu werden.
Es schien nur ein Ausweg möglich: eine Reihe von Forderungen der Bauern zu akzeptieren, zugleich aber einen starken, zentralisierten sozialistischen Staatsapparat beizubehalten. Die Neue Ökonomische Politik (NÖP) war ein Versuch in diese Richtung. Ihr Ziel war, die Bauern mit dem Regime auszusöhnen und die wirtschaftliche Entwicklung dadurch wieder anzukurbeln, daß der privaten Warenproduktion ein beschränktes Maß an Freiheit eingeräumt wurde. Der Staat und die staatseigene Industrie sollten nurmehr als ein Element in einer Wirtschaft wirksam sein, die im übrigen durch die Bedürfnisse der ländlichen Produktion und durch das freie Spiel der Kräfte auf dem Markt bestimmt wurde.
Während der NÖP-Periode war Rußlands Anspruch, in irgendeiner Form ein sozialistisches Land zu sein, nicht länger zu rechtfertigen, weder was die Beziehung der Arbeiterklasse zum Staat, den sie ursprünglich geschaffen hatte, noch was den Charakter der inneren ökonomischen Beziehungen anging. Die Arbeiter übten nicht die Macht aus und die Wirtschaft war nicht geplant. Aber der Staat, der „Träger der bewaffneten Macht“, der die Polizeigewalt und die Kontrolle über die Gesellschaft ausübte, war in den Händen einer Partei mit sozialistischer Zielsetzung. Deshalb, so schien es, würde die Richtung der Politik eine sozialistische bleiben.
Die Situation war komplizierter. Erstens waren die herrschenden staatlichen Institutionen in Rußland keineswegs mehr gleichzusetzen mit der kämpferischen sozialistischen Partei von 1917. Diejenigen, die zur Zeit der Februarrevolution der bolschewistischen Partei angehört hatten, waren engagierte Sozialisten gewesen, die enorme Gefahren auf sich genommen hatten, um ihre Ideale im Widerstand gegen das Zarenregime zu verfechten. Selbst 4 Jahre Bürgerkrieg und Isolierung von der Masse der Arbeiter vermochten nicht ohne weiteres, ihrem sozialistischen Bewußtsein etwas anzuhaben. Aber diese Leute machten 1919 nur noch ein Zehntel der Partei aus und 1922 nur noch 2,5 %. Während der Revolution und des Bürgerkrieges war die Partei ständig gewachsen. Zum Teil äußerte sich darin die Bereitschaft aller kämpferischen Arbeiter und überzeugten Sozialisten, der Partei beizutreten. Aber es gab auch andere Tendenzen. In dem Augenblick, in dem die Arbeiterklasse selbst dezimiert worden war, mußte die Partei die Aufgabe übernehmen, alle Bereiche, die unter der Herrschaft der Sowjets standen, zu kontrollieren. Dazu mußte sie sich vergrößern. Hinzu kam, daß, sobald der Sieger im Bürgerkrieg feststand, viele Einzelpersonen, die kein oder fast kein sozialistisches Bewußtsein hatten, der Partei beizutreten versuchten. Damit war die Partei selbst alles andere als eine einheitliche sozialistische Kraft. Bestenfalls von den führenden Kräften und den kämpferischsten Mitgliedern konnte man sagen, daß sie fest in der sozialistischen Tradition standen.
Die innere Verwässerung der Partei war begleitet von einer entsprechenden Entwicklung im Staatsapparat selbst. Um die Kontrolle über die russische Gesellschaft aufrechtzuerhalten, war die bolschewistische Partei gezwungen gewesen, tausende von Angehörigen der zaristischen Bürokratie in Dienst zu nehmen, um die Funktionsfähigkeit des Regierungsapparates aufrechtzuerhalten. In der Praxis erwiesen sich alte Arbeitsmethoden und Gewohnheiten, insbesondere eine vorrevolutionäre Haltung gegenüber den Massen, als stärker. Lenin war sich durchaus bewußt, was das bedeutete.
„Es liegt auf der Hand, woran es mangelt“, erklärte er auf dem Parteikongreß im März 1922. „Es mangelt ... [daran], die leitende Funktion in der Verwaltung auszuüben, an Kultur. Man nehme doch Moskau, die 4.700 verantwortlichen Kommunisten - und dazu dieses bürokratische Ungetüm, diesen Haufen, wer leitet da und wer wird geleitet? Ich bezweifle sehr, ob man sagen könnte, daß die Kommunisten diesen Haufen leiten. Um die Wahrheit zu sagen, nicht sie leiten, sondern sie werden geleitet.“ [9]
Ende 1922 beschrieb Lenin den Staatsapparat als „vom Zarismus entlehnt und von der Sowjetwelt kaum berührt – eine bürgerliche und zaristische Maschinerie“. [10] In der Auseinandersetzung über die Rolle der Gewerkschaft 1920 argumentierte Lenin:
„Wir haben in Wirklichkeit nicht einen Arbeiterstaat, sondern einen Arbeiter- und Bauernstaat ... Aber nicht genug damit. Aus unserem Parteiprogramm ist bereits ersichtlich, daß unser Staat ein Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen ist.“ [11]
Die wirkliche Lage war sogar noch schlimmer. Es war nicht nur so, daß die alten Bolschewiki in einer Situation standen, in der die vereinte Macht feindlicher Klassenkräfte und bürokratischer Schlamperei es schwierig machte, ihre sozialistischen Hoffnungen zu verwirklichen, die Ziele selbst konnten nicht ewig von der feindlichen Umgebung unangetastet bleiben. Die Notwendigkeit, aus oft indifferenten Bauernmassen eine disziplinierte Armee aufzubauen, hatte viele hervorragende Mitglieder der Partei an autoritäre Verhaltensweisen gewöhnt. Mit der Neuen Ökonomischen Politik änderte sich zwar die Lage, aber von einem demokratischen Wechselspiel zwischen Führern und Geführten, dem Wesen sozialistischer Demokratie, konnte keine Rede sein. Viele Parteimitglieder waren nun gezwungen, bei der Kontrolle über die gesellschaftliche Entwicklung mit den Kleinhändlern, den Kleinkapitalisten und den Kulaken fertig zu werden. Gegen diese Elemente hatten sie die Interessen des Arbeiterstaates zu vertreten, aber nicht wie in der Vergangenheit durch direkte physische Konfrontationen. In begrenztem Umfang mußten sie mit ihnen zu einer Zusammenarbeit kommen. Viele Parteimitglieder schienen stärker unter dem Einfluß dieser unmittelbaren, äußerst heiklen Beziehung zu kleinbürgerlichen Elementen zu stehen als unter dem nicht greifbaren Einfluß einer schwachen und demoralisierten Arbeiterklasse.
Vor allem drang der Einfluß der alten Bürokratie, in die die Mitglieder der Partei eingespannt wurden, in die Partei selbst. Ihre Isolierung von Klassenkräften außerhalb, die ihre Herrschaft getragen hätten, zwang die Partei zu einer eisernen Disziplinierung in den eigenen Reihen. Deshalb beschloß der 10. Parteikongreß als „vorübergehende Maßnahme“ ein Verbot, formelle Fraktion innerhalb der Partei zu bilden, obwohl man davon ausging, daß weiterhin innerhalb der Partei Diskussionen ausgetragen würden. [12] Aber diese Forderung nach innerem Zusammenhalt entartete rasch dahingehend, daß man bürokratische Kontrollmethoden innerhalb der Partei akzeptierte. Oppositionelle Gruppen beschwerten sich bereits im April 1920 darüber. 1922 mußte auch Lenin feststellen, daß es „ ... bei uns nicht nur in den Sowjet-Institutionen, sondern auch in den Parteiinstitutionen“ [13] gibt.
Der Zerfall der innerparteilichen Demokratie läßt sich am Besten am Schicksal zeigen, das aufeinanderfolgende Oppositionsgruppen gegen die zentrale Führung durchmachten. 1917 und 1918 galt freie Diskussion in der Partei mit dem Recht, sich um eine Plattform zu organisieren, als selbstverständlich. Mindestens bei zwei Gelegenheiten befand sich auch Lenin in der Partei in einer Minderheit (einmal mit seinen April-Thesen und etwa ein Jahr später bei den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk). Im November 1917 konnten diejenigen Bolschewiki, die dagegen waren, daß die Partei allein die Macht ergriff, von ihren Regierungsämtern zurücktreten und damit die übrige Partei unter Druck setzen, ohne daß man disziplinarisch gegen sie vorgegangen wäre. Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Partei bei der Frage des Angriffs auf Warschau und über die Rolle der Gewerkschaften wurden offen in der Parteipresse ausgetragen. Selbst nach 1921 wurde das Programm der „Arbeiteropposition“ in einer Auflage von einer Viertel Million von der Partei selbst gedruckt; zwei Mitglieder der „Arbeiteropposition“ wurden ins Zentralkomitee gewählt. Als sich 1923 die „Linke Opposition“ bildete, konnte sie immerhin noch ihre Ansichten in der Prawda veröffentlichen. Jetzt standen allerdings diesem einen Artikel, der die Führung kritisierte, zehn andere gegenüber, die die Führung verteidigten.
Doch im Verlauf dieser Periode wurden die Möglichkeiten oppositioneller Gruppen, innerhalb der Partei wirksam zu arbeiten, immer geringer. Nach dem 10. Parteikongreß wurde die „Arbeiteropposition“ verboten. 1923 hieß es in der oppositionellen Plattform der 46: „Die Hierarchie der Parteisekretäre bestimmt immer mehr die Zusammensetzung von Konferenzen und Kongressen.“ [14] Selbst Bucharin, der als Herausgeber der Prawda auf Seiten der Führung stand, beschrieb das typische Funktionieren der Partei als völlig undemokratisch:
„... die Sekretäre der örtlichen Organisationen werden für gewöhnlich von den Distriktkomitees ernannt; dabei muß man beachten, daß die Distriktkomitees noch nicht einmal nach der Zustimmung der örtlichen Organisationen für die Kandidaten fragen, sondern sich damit begnügen, diesen oder jenen Genossen zu ernennen. Bei der Abstimmung benutzt man gewöhnlich die sicherste Methode. Man fragt die Versammlung „Wer ist dagegen?“ und je nach dem, ob einer mehr oder weniger Angst hat, dagegen zu sprechen, wird dann der vom Distriktkomitee ernannte Kandidat gewählt ...“ [15]
Das wirkliche Ausmaß der Bürokratisierung zeigte sich, als das „Triumvirat“, das während der Erkrankung Lenins die Führung der Partei übernommen hatte, sich spaltete. Gegen Ende des Jahres 1925 schlossen sich Sinowjew, Kamenjew und Krupskaja zur Opposition gegen das Parteizentrum, das von Stalin kontrolliert wurde, zusammen. Sinowjew war Vorsitzender der Partei in Leningrad. Als solcher kontrollierte er den Verwaltungsapparat in der Hauptstadt des Nordens und mehrere einflußreiche Zeitungen. Auf dem 14. Parteikongreß unterstützten alle Delegierte aus Leningrad Sinowjews Opposition gegen das Zentrum. Jedoch wenige Wochen nach der Niederlage seiner Oppositionsgruppe stimmten alle Leningrader Parteiorganisationen mit Ausnahme von ein paar hundert altgedienten Oppositionellen für Resolutionen, die Stalins Politik unterstüzten. Dazu reichte es, den Vorsitzenden der städtischen Parteiverwaltung von seinem Posten zu entfernen. Denn wer die Bürokratie kontrollierte, hatte auch die Partei unter seiner Kontrolle. Solange Sinowjew sie kontrollierte, war sie oppositionell. In dem Augenblick, wo Stalin die Stadt seinem ganz Rußland erfassenden Apparat angegliedert hatte, unterstützte sie seine Politik. Durch das Auswechseln der Führer war aus einem sinowjewistischen ein stalinistischer Block geworden.
Dieser Aufstieg der Bürokratie in der Partei begann als Folge der Dezimierung der Arbeiterklasse während des Bürgerkriegs. Aber er setzte sich fort, auch als sich unter der NÖP die Industrie zu erholen und die Arbeiterklasse wieder größer zu werden begann. Anstatt die Stellung der Arbeiter im „Arbeiterstaat“ zu stärken, schwächte die wirtschaftliche Erholung sie.
Rein materiell verschlechterten die Zugeständnisse an die Bauern die Stellung des Arbeiters.
„War er unter dem Kriegskommunismus überall als der namenlose Held der Diktatur des Proletariats gefeiert worden, so drohte er nun zum Stiefkind der NÖP-Periode zu werden. Während der wirtschaftlichen Krise 1923 hielten es weder Verfechter der offiziellen Politik, noch diejenigen, die im Namen der industriellen Entwicklung diese Politik kritisierten, für wichtig, sich vorrangig um die Interessen der Industriearbeiter zu kümmern.“ [16]
Aber die Stellung der Arbeiter sank nicht nur im Vergleich zu den Bauern, sondern auch gegenüber den Managern und Direktoren in der Industrie. Während 1922 noch 65 Prozent des Leitungspersonals offiziell als Arbeiter eingestuft wurden und 35 Prozent als Nicht-Arbeiter, hatte sich ein Jahr später dieses Verhältnis beinahe umgekehrt. Nur noch 36 Prozent waren Arbeiter, gegenüber 64 Prozent Nicht-Arbeitern. [17] Die „roten Industriellen“ begannen sich als privilegierte Gruppe mit hohen Gehältern herauszuschälen und infolge der „Ein-Mann-Leitung“ in den Fabriken, nach Gutdünken einzustellen und zu entlassen. Gleichzeitig wurde die Massenarbeitslosigkeit in der gesamten Sowjetwirtschaft zum besonderen Problem. Die Zahl der Arbeitslosen stieg 1923/1924 auf eineinviertel Millionen.
Menschen machen Geschichte, aber nur unter Bedingungen, die sie nicht selbst geschaffen haben. Im Verlauf dieses Prozesses verändern sie sowohl diese Bedingungen, als auch sich selbst. Die bolschewistische Partei war dieser Gesetzmäßigkeit ebenso unterworfen wie jede andere Gruppe in der Geschichte. Bei dem Versuch, im Chaos des Bürgerkriegs, der Konterrevolution und der Hungersnot die Struktur der russischen Gesellschaft zusammenzuhalten, war das sozialistische Bewußtsein der Partei ein für den Verlauf der Geschichte bestimmender Faktor. Aber die sozialen Kräfte, mit denen sie dabei zusammengehen mußte, ließen die Mitglieder der Partei nicht unverändert. Rußland während der NÖP-Periode zusammenzuhalten, bedeutete zwischen verschiedenen Klassen zu vermitteln, um offene Zusammenstöße zwischen ihnen zu vermeiden. Die Revolution konnte nur dann überleben, wenn es der Partei und dem Staat gelang, die Bedürfnisse der verschiedenen, oft antagonistischen Klassen zu befriedigen. Es mußten Regelungen gefunden werden, sowohl die individualistischen Bestrebungen der Bauernschaft als auch die kollektivistischen, demokratischen Ziele des Sozialismus zum Zuge kommen lassen. Im Verlauf dieses Prozesses mußten sich in der Struktur der Partei, die eine Stellung oberhalb der verschiedenen sozialen Klassen bezogen hatte, deren Unterschiede widerspiegeln. Der Druck der verschiedenen Klassen auf die Partei führte zum Entstehen verschiedener Gruppierungen innerhalb der Partei, die begannen, die sozialistischen Ziele nach den Interessen der verschiedenen Klassen umzuformulieren. Die einzige Klasse, die in der Lage gewesen wäre, auf die Verwirklichung des Sozialismus im ursprünglichen Sinn zu drängen, die Arbeiterklasse, war die schwächste und die am schlechtesten organisierte Klasse und daher praktisch am wenigsten in der Lage, auf die Partei Druck auszuüben.
Es kann kein Zweifel bestehen, daß die „Linke Opposition“, was ihre Ideen anbelangt, der Flügel in der Partei war, der am stärksten den revolutionären sozialistischen Traditionen des Bolschewismus verbunden war. Sie weigerte sich, den Begriff Sozialismus umzudefinieren und darunter eine sich langsam entwickelnde Bauernwirtschaft oder die Akkumulation um der Akkumulation willen zu verstehen. Sie hielt daran fest, daß Arbeiterdemokratie ein entscheidender Bestandteil des Sozialismus sei. Sie weigerte sich, die Weltrevolution der chauvinistischen und reaktionären Losung vom „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ unterzuordnen.
Dennoch konnte man die „Linke Fraktion“ nicht als die im Wortsinn „proletarische“ Fraktion in der Partei bezeichnen. Denn während der zwanziger Jahre war in Rußland die Arbeiterklasse diejenige Klasse, die weniger als alle anderen auf die Partei Druck ausübte. Nach dem Bürgerkrieg war sie unter Bedingungen wiederhergestellt worden, die ihre Fähigkeit, für ihre eigenen Ziele zu kämpfen, schwächten. Es herrschte eine hohe Arbeitslosigkeit. Die kämpferischsten Arbeiter waren im Bürgerkrieg umgekommen oder in der Bürokratie aufgegangen. Ein Großteil der Arbeiterklasse bestand aus Bauern, die gerade frisch vom Land in die Städte gekommen waren. Diese unterstützten normalerweise nicht die Opposition, sondern verhielten sich eher apathisch gegenüber politischen Diskussionen, was sie, zumindest meistens, leichter manipulierbar machte. Die „Linke Opposition“ befand sich in der für Sozialisten vertrauten Lage, ein sozialistisches Programm für den Kampf der Arbeiterklasse zu haben, während die Arbeiter selbst zu müde und zu mutlos waren, diesen Kampf aufzunehmen.
Aber nicht nur die Apathie der Arbeiterklasse machte der Opposition Schwierigkeiten, sondern auch ihre Einsicht in die wirtschaftlichen Gegebenheiten. Sie betonte in ihrer Argumentation, daß der objektive Mangel an gesellschaftlichen Reichtümern, unabhängig von der verfolgten politischen Linie, Entbehrungen mit sich bringen werde. Sie bestand auf der Notwendigkeit, die Industrie im Lande selbst zu entwickeln und zugleich die Revolution in andere Länder zu tragen, um die Voraussetzungen für eine industrielle Entwicklung zu schaffen. Aber selbst wenn eine konsequent sozialistische Politik verfolgt worden wäre, hätte sie den Arbeitern kurzfristig wenig anbieten können. Als Trotzki und Preobrashenski mehr Planung zu fordern begannen, betonten sie, daß das nur auf Kosten der Bauern und unter Opfern von Seiten der Arbeiter zu verwirklichen sei. Die vereinigte Opposition der „Trotzkisten“ und „Sinowjewisten“ von 1926 forderte zwar vorrangig gewisse Verbesserungen für die Arbeiter. Aber sie war zugleich realistisch genug, Stalins Versprechungen an die Arbeiter, die weit über ihre eigenen Forderungen hinausgingen, als utopisch zu denunzieren.
Es sollen hier nicht die verschiedenen Plattformen der „Linken Opposition“ im einzelnen diskutiert werden. In groben Umrissen lassen sich drei zentrale, miteinander verbundene Programmpunkte herausstellen:
Rein ökonomisch wäre dieses Programm durchaus zu verwirklichen gewesen. Seine Forderungen nach planmäßiger Industrialisierung und verschärftem Druck auf die Bauernschaft wurden ja tatsächlich Wirklichkeit, wenn auch in einer Art und Weise, die den Zielsetzungen der Opposition widersprach. Aber diejenigen, die von 1923 an die Partei kontrollierten, begriffen nicht die Weitsichtigkeit dieses Programms. Erst eine schwere Wirtschaftskrise 1928 zwang sie zur Planung und Industrialisierung. Bis dahin verfolgten sie fünf Jahre lang die Linke und schlossen deren Führer aus der Partei aus. Die zweite zentrale Forderung des Programms erfüllten sie nie. Die dritte Forderung, die noch 1923 theoretischer Bestandteil des orthodoxen Bolschewismus gewesen war [18], wurde von der Parteiführung endgültig im Jahre 1925 zurückgewiesen.
Es waren nicht die wirtschaftlichen Gegebenheiten, die die Partei daran hinderten, dieses Programm zu akzeptieren. Es war vielmehr das Gleichgewicht der sozialen Kräfte, das sich innerhalb der Partei entwickelte. Das Programm der „Linken Opposition“ forderte, das Entwicklungstempo nicht länger durch den Druck der Bauernschaft bestimmen zu lassen. Zweierlei soziale Kräfte hatten sich in der Partei entwickelt, die dieser Forderung entgegenstanden.
Die Haltung der „Rechten“ war einfach. Sie wurde von der Gruppe vertreten, die in Zugeständnissen an die Bauern keine Gefährdung des sozialistischen Aufbaus sah. Sie forderte ganz bewußt, die Partei solle ihr Programm den Bedürfnissen der Bauern anpassen. Das war keine bloß theoretische Plattform. Darin drückten sich vielmehr die Interessen all derjenigen aus, denen an der Zusammenarbeit mit den Bauern, einschließlich der Kulaken und kapitalistischen Bauern, sowie mit den NÖP-Leuten gelegen war. Ihr theoretischer Wortführer war Bucharin mit seiner Aufforderung an die Bauern „Bereichert Euch!“.
Die zweite Gruppe verdankte ihre Stärke sozialen Kräften innerhalb wie auch außerhalb der Partei. Sie hatte es sich offenbar zum Ziel gesetzt, den sozialen Zusammenhalt zu garantieren. Daher suchte sie soziale Spannungen zu vermeiden, die sich leicht ergeben hätten, wann immer bewußt versucht worden wäre, das Land den Bedürfnissen der Stadt unterzuordnen. Aber sie ging in ihren Erklärungen zugunsten der Bauern nicht so weit wie die „Rechten“. Sie bestand in der Hauptsache aus Angehörigen des Parteiapparats selbst, die einzig darauf bedacht waren, mittels bürokratischer Maßnahmen die Geschlossenheit der Partei zu erhalten. Ihr Führer war der Leiter des Parteiapparats, Stalin.
Der „Linken Opposition“ erschien damals die Stalin-Fraktion als zentristische Gruppe, die zwischen der Tradition der Partei (wie sie ihren Ausdruck im Programm der „Linken“ gefunden hatte) und der „Rechten“ hin und her schwankte. Als Stalin 1928 plötzlich den ersten Punkt des Programms der Opposition übernahm, sich nun mit der gleichen Bösartigkeit der „Rechten“ zuwandte, mit der er nur Monate zuvor, die „Linke“ angegriffen hatte, und mit der Industrialisierung sowie der vollständigen Enteignung der Bauern (der sog. „Kollektivierung“) begann, geriet diese Interpretation mit einem Male ins Wanken. Offenbar hatte Stalin seine eigene Basis. Er konnte seine Stellung auch dann halten, wenn weder das Proletariat noch die Bauernschaft die Macht ausübten. Die „Linke Opposition“ bestand aus Gruppen, die der sozialistischen, an der Arbeiterklasse orientierten Tradition der Partei verpflichtet waren und versuchten, diese in eine realistische Politik umzusetzen. Die „Rechte Opposition“ war das Ergebnis der Anpassung an den Druck der Bauern auf die Partei. Die siegreiche Stalin-Fraktion hatte dagegen ihre Basis in der Parteibürokratie selbst. Diese war zunächst nur ein untergeordneter Faktor innerhalb der durch die Revolution geschaffenen neuen Gesellschaftsordnung gewesen. Sie erfüllte lediglich einige Grundfunktionen für die Partei der Arbeiter. Mit der Dezimierung der Arbeiterklasse blieb jedoch die Partei als Gebilde oberhalb der Klassen bestehen. In dieser Situation wurde die Aufgabe, die Geschlossenheit von Partei und Staat zu gewährleisten, zur zentralen Aufgabe. Diese Aufgabe wurde in zunehmendem Maße, zunächst im Staat und dann auch in der Partei durch bürokratische Kontrollmethoden – oft von ehemaligen zaristischen durchgeführt – wahrgenommen. Immer mehr lag die wirkliche Macht in der Partei beim Parteiapparat, der auf allen Ebenen Funktionäre ernannte und Delegierte für Konferenzen auswählte. Aber wenn die Partei und nicht die Klasse Staat und Industrie kontrollierte, dann waren damit mehr und mehr all jene Errungenschaften, die die Arbeiterklasse in der Revolution erkämpft hatte, auf die Partei übergegangen.
Das erste politische Ergebnis dieser Entwicklung war eine bürokratische Erstarrung. Die des Apparates widersetzten sich jeder Politik, die ihre Position hätte gefährden können; gegenüber Gruppen, die ihre Position in Frage zu stellen drohten, begannen sie als Unterdrückungsgewalt aufzutreten. Daher ihr Widerstand gegen die Programme der „Linken“ und ihre Weigerung, eine wirkliche Diskussion dieser Programme zuzulassen. Während die Bürokratie in dieser ablehnenden Weise auf alle drohende soziale Unruhe reagierte, fand sie in der „Rechten“ und in Bucharin ihren natürlichen Verbündeten. Das verschleierte die Tatsache, daß sie mehr und mehr zu einem selbständigen sozialen Gebilde wurde, mit einem spezifischen Verhältnis zu den Produktionsmitteln. Die Unterdrückung innerparteilicher Opposition erschien als Versuch, der Partei von oben her eine bauernfreundliche Politik aufzuzwingen, und nicht als Teil des Kampfes der Bürokratie, jegliche Opposition gegen die eigene Machtstellung in Staat und Industrie auszuschalten. Selbst nachdem die Bürokratie den Aufbau des Sozialismus in einem Land proklamiert hatte, schien ihr Versagen in anderen Ländern eher die Folge bürokratischer Starrheit und der bauernfreundlichen Politik in Rußland zu sein als Ausdruck einer bewußt konterrevolutionären Politik.
Doch während dieser Periode entwickelte sich die Bürokratie von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich. Zu Beginn der NÖP lag die Macht in der Partei und im Staat objektiv in der Hand einer kleinen Gruppe von Funktionären. Aber diese waren keineswegs eine in sich geschlossene Klasse. Die Politik, die sie verfolgte, wurde durch Elemente in der Partei bestimmt, die immer noch unter starkem Einfluß der Traditionen des revolutionären Sozialismus standen. Wenn objektive Bedingungen zum Absterben der Arbeiterdemokratie geführt hatten, dann bestand dennoch die Möglichkeit, daß diejenigen, die den Traditionen der Partei verpflichtet waren, für eine Wiederbelebung der Arbeiterdemokratie sorgen würden, sobald die Industrie in Rußland sich erholt haben würde und der revolutionäre Prozeß auf andere Länder übergegriffen hätte. Gewiß spielte die Partei im Weltmaßstab weiterhin eine revolutionäre Rolle. In ihren Empfehlungen an Parteien in anderen Ländern machte sie zwar Fehler – und ohne Zweifel rührten manche dieser Fehler aus der Bürokratisierung der russischen Partei –, aber sie beging nicht das Verbrechen, die Revolution in anderen Ländern den eigenen nationalen Interessen unterzuordnen. Den Fraktionskämpfen der zwanziger Jahre liegt ein Prozeß zugrunde, in dessen Verlauf die führende Funktionärsgruppe der Partei das Erbe der Revolution abschüttelte, um zu einer eigenständigen, selbstbewußten Klasse zu werden.
Es wird oft behauptet, daß man den Aufstieg des Stalinismus in Rußland nicht als „Konterrevolution“ bezeichnen könne, weil es sich dabei um einen allmählichen Prozeß gehandelt habe. (Trotzki erklärte beispielsweise, daß eine solche Auffassung bedeute, „den Film des Reformismus rückwärts abzuspulen.“) Aber das hieße, die marxistische Methode umzumodeln. Denn nicht immer vollzieht sich der Übergang von einer Gesellschaftsform zu einer anderen in einer einzigen, plötzlichen Wendung. Das gilt wohl für den Übergang vom kapitalistischen Staat zum Arbeiterstaat, denn die Arbeiterklasse kann nur mit einem Male, kollektiv und durch einen frontalen Zusammenstoß mit der herrschenden Klasse an die Macht gelangen, wobei als Höhepunkt eines langjährigen Kampfes die Macht der Kapitalisten gebrochen wird. Beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus gibt es jedoch viele Fälle, in denen es nicht nur einen einzigen plötzlichen Zusammenstoß gab, sondern eine ganze Reihe von Zusammenstößen unterschiedlicher Heftigkeit und auf verschiedenen Ebenen, durch die die wirtschaftlich entscheidende Klasse, die Bourgeoisie, politische Zugeständnisse zu ihren Gunsten erzwang. Die Konterrevolution in Rußland vollzog sich eher nach diesem zweiten Modell. Die Bürokratie mußte nicht einmal den Arbeitern die Macht auf einmal entreißen, denn die Dezimierung der Arbeiterklasse ließ in allen Bereichen der russischen Gesellschaft die Macht in den Händen der Bürokratie. Deren Mitglieder kontrollierten die Industrie, die Polizei und die Armee. Die Bürokratie brauchte nicht einmal um die Kontrolle über den Staatsapparat zu kämpfen, um diesen mit ihrer ökonomischen Machtstellung in Einklang zu bringen, wie die Bourgeoisie es in einigen Ländern sehr erfolgreich ohne plötzliche Konfrontation getan hat. Dies vollzog sich nicht „allmählich“, sondern in einer Folge von qualitativen Veränderungen, durch die die Funktionsweise der Partei auf die Bedürfnisse der zentralen Bürokratie zugeschnitten wurde. Jede dieser qualitativen Veränderungen war nur in einer direkten Konfrontation mit denjenigen Elementen in der Partei durchzusetzen, die – aus welchen Gründen auch immer – sich den revolutionären sozialistischen Traditionen verpflichtet fühlten.
Die erste und bedeutendste dieser Konfrontationen war die mit der „Linken Opposition“ im Jahre 1923. Obwohl die Opposition sich keineswegs mit aller Entschiedenheit und Eindeutigkeit den Entwicklungen in der Partei widersetzte, [19] reagierte die Bürokratie mit noch nie dagewesener Feindseligkeit. Um ihre Macht zu schützen, griff die herrschende Gruppe in der Partei zu Methoden der Argumentation, wie man sie zuvor in der bolschewistischen Partei noch nicht gehört hatte. Systematische Anschwärzung der Oppositionellen trat an die Stelle rationaler Argumente. Erstmalig wurde die Kontrolle des Parteisekretariats über die Benennung von Funktionären offen dazu benutzt, Sympathisanten der Opposition von ihren Posten zu entfernen. So wurde die Mehrheit des Zentralkomitees der Jugendorganisation „Komsomol“ abgesetzt und in die Provinz geschickt, nachdem einige auf die Angriffe gegen Trotzki geantwortet hatten. Um solche Maßnahmen zu rechtfertigen, erfand die herrschende Fraktion zwei neue ideologische Gebilde, die sie einander gegenüberstellte: auf der einen Seite rief sie (trotz des Protests der Witwe Lenins) einen Kult des „Leninismus“ ins Leben. Indem man Lenins Leiche nach Art der ägyptischen Pharaonen einbalsamierte, versuchte man Lenin zu einem Halbgott zu machen. Zum anderen erfand die Bürokratie die Legende, der „Trotzkismus“ sei eine Tendenz, die im Widerspruch zum „Leninismus“ stehe. Zur Begründung dienten verstaubte Leninzitate aus der Zeit vor 1917. Lenins letzte Äußerung, sein Testament, in dem er von Trotzki als dem „fähigsten Mitglied im ZK“ sprach und die Absetzung Stalins empfahl, wurde hingegen unterschlagen. Die Führer der Partei verbreiteten diese Entstellungen und Fälschungen bewußt, um jede Bedrohung ihrer Kontrolle über die Partei abzuwehren. Sinowjew, zu dieser Zeit das führende Mitglied des „Triumvirats“, zu dem noch Kamenjew und Stalin gehörten, gab dies später zu. Dabei zeigte eine Gruppe in der Partei, daß sie begann, ihrer eigenen Machtstellung größere Bedeutung zuzumessen als der sozialistischen Tradition von freier innerparteilicher Diskussion. Indem sie die Theorie zum bloßen Beiwerk der eigenen Ambitionen herabwürdigte, begann die Parteibürokratie sich als eigenständiges Gebilde gegen andere soziale Gruppen zu behaupten.
Anders begann die zweite größere Konfrontation. Es handelte sich dabei zunächst nicht um einen Konflikt zwischen bewußt sozialistischen Mitgliedern der Partei auf der einen und der immer mächtiger werdenden Bürokratie auf der anderen Seite. Es begann vielmehr als Konflikt zwischen dem scheinbaren Führer der Partei (damals Sinowjew) und dem Parteiapparat, der in Wirklichkeit die Kontrolle inne hatte. In Leningrad kontrollierte Sinowjew eine Abteilung der Bürokratie, die im beträchtlichen Maße vom restlichen Apparat unabhängig war. Obwohl sich ihre Arbeitsweise nicht im geringsten von der im übrigen Land herrschenden unterschied, war schon diese Unabhängigkeit der zentralen Bürokratie ein Dorn im Auge. Sie stellte eine mögliche Quelle politischer Aktivitäten dar, die die totale Herrschaft der Bürokratie hätte stören können. Sie mußte daher in den Einflußbereich des zentralen Apparats gebracht werden. Im Verlauf dieser Entwicklung wurde Sinowjew aus seiner Führungsposition in der Partei gedrängt. Daraufhin wandte er sich nochmal den historischen Traditionen des Bolschewismus und der Politik der „Linken“ zu, obwohl er niemals die Hoffnung völlig aufgab, Teil des herrschenden Blocks zu werden und daher während der nächsten zehn Jahre ständig zwischen der „Linken“ und dem Apparat hin und her schwankte. Mit dem Sturz Sinowjews lag die Macht in der Hand Stalins. Mit seinem schrankenlosen Gebrauch bürokratischer Methoden zur Kontrolle der Partei, seiner Mißachtung der Theorie, seiner Feindseligkeit gegenüber den Traditionen der Revolution, in der er nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, mit seiner Entschlossenheit, unter Einsatz aller Mittel diejenigen zu entmachten, die tatsächlich die Revolution geführt hatten, verkörperte er vor allem das wachsende Selbstbewußtsein des Apparats. All diese Eigenschaften entfaltete er in vollem Umfang im Kampf gegen die neue Opposition. Versammlungen wurden gesprengt, Redner niedergeschrieen, prominente Oppositionelle mußten damit rechnen, auf niedrige Posten in entlegenen Gebieten versetzt zu werden, ehemalige zaristische Offiziere wurden als Agent-Provocateur benutzt, um die oppositionellen Gruppen zu diskreditieren. 1928 begann Stalin schließlich, die Zaren unmittelbar zu imitieren und Revolutionäre nach Sibirien zu deportieren. Auf die Dauer erwies sich selbst dies als unzureichend. Er mußte tun, wozu selbst die Romanows nicht imstande gewesen waren: er mußte diejenigen, die die revolutionäre Partei von 1917 ausgemacht hatten, systematisch ermorden.
1928 hatte die Stalin-Fraktion ihre Kontrolle über die Partei und den Staat vollends gefestigt. Als Bucharin und die „Rechte“ sich abspalteten, erschreckt vor dem, was sie selbst mit ins Leben gerufen hatten, befanden sie sich in einer noch schwächeren Position als die „Linke Opposition“ zuvor. Dennoch hatte die Partei nicht die ganze russische Gesellschaft unter ihrer Kontrolle. Die Städte als Machtzentren waren immer noch umgeben von einem Meer ländlicher Produktion. Die Bürokratie hatte die in der Revolution gemachten Errungenschaften der Arbeiterklasse in der Revolution an sich gerissen, aber die Bauernschaft blieb davon unberührt. Eine massenhafte Weigerung der Bauern, ihr Korn zu verkaufen, brachte dies der Bürokratie im Jahre 1928 mit aller Deutlichkeit zum Bewußtsein.
Es folgte darauf die Festigung der Macht der Städte über das Land, die die „Linke Opposition“ seit Jahren gefordert hatte. Einige Oppositionelle (Preobaschenski und Radek) machten daraufhin ihren Frieden mit Stalin. Ihrem Wesen nach war jedoch diese Politik Stalins den Forderungen der „Linken“ entgegengesetzt. Sie hatte die Notwendigkeit betont, die ländliche Produktion der von den Arbeitern kontrollierten städtischen Industrie zu unterstellen. Aber die städtische Industrie unterstand nicht mehr der Kontrolle der Arbeiter. Sie war unter der Kontrolle der Bürokratie, die auch den Staat beherrschte. Festigung der Herrschaft der Städte über das Land hieß nun nicht mehr Stärkung der Arbeiterklasse gegenüber den Bauern, sondern Stärkung der Bürokratie über den letzten Teil der Gesellschaft, der außerhalb ihrer Kontrolle lag. Die Bürokratie setzte ihre Vorherrschaft mit all der Härte durch, wie sie herrschende Klassen seit jeher benutzt haben. Nicht nur die Kulaken, sondern die Bauern aller Schichten, ganze Dörfer litten. Die „linke“ Wendung von 1928 liquidierte schließlich die Revolution von 1917 in den Städten und auf dem Land.
Es besteht kein Zweifel, daß mit dem Jahre 1928 eine neue Klasse die Macht in Rußland ergriffen hat. Dazu bedurfte es keines unmittelbaren militärischen Konflikts mit den Arbeitern, weil es seit 1918 keine direkte Arbeitermacht mehr gab. Aber sie mußte die Partei, die an der Macht geblieben war, von all denjenigen Elementen säubern, die noch, wenn auch noch so schwache, Verbindungen zur sozialistischen Tradition hatten. In dem Augenblick, als der Bürokratie eine wieder erstarkende Arbeiterklasse gegenübertrat, sei es in Ostberlin, in Budapest oder, wie 1962 bei den Aufständen von Nowo-Tscherkask in Rußland selbst, gebrauchte sie die Panzer, auf die sie 1928 nicht angewiesen war.
Die „Linke Opposition“ war sich keineswegs darüber klar, um was sie kämpfte. Bis zu seinem Tode glaubte Trotzki, der Staatsapparat, der ihn zu Tode hetzen und ermorden sollte, sei der Apparat eines „degenerierten Arbeiterstaates“. Doch es war allein diese Opposition, die Tag für Tag gegen die Zerschlagung der Revolution in Rußland und die Sabotierung der Revolution in anderen Ländern durch die stalinistische Bürokratie kämpfte. [20] Für die Dauer einer ganzen historischen Periode widersetzte sich die „Linke Opposition“ als einzige der Entstellung der sozialistischen Bewegung durch Stalinismus und Sozialdemokratie. Ihre eigenen Theorien über den Charakter der russischen Gesellschaft erschwerten diese Aufgabe, die sie dennoch auf sich nahm. Deshalb muß sich jede wirklich revolutionäre Bewegung heute in die Tradition der „Linken Opposition“ stellen.
1. Trotzki: Die Geschichte der russischen Revolution, Bd.1, Frankfurt/Main 1982, S.53.
2. Lenin, W.I.: Lenin Werke (LW), Bd.8, Berlin 1984, S.284.
3. LW, Bd.23, S.385.
4. LW, Bd.27, S.85.
5. Martow an Axelrod, 19. Nov.1917, zitiert nach Israel Getzler, Martov, Cambridge 1967.
6. Israel Getzler, a.a.O., S.183.
7. ebenda, S.199.
8. Trotzki, L.:, Das Zetergeschrei um Kronstadt, in: Kronstadt, (isp-Verlag), Ffm 1981, S.79f.
9. Lenin: LW, Bd.33, XI. Parteitag der KPR(B), S.275.
10. Lenin: LW, Bd.36, S.591.
11. Lenin: LW, Bd.32, S.7.
12. Siehe Lenins Antwort auf die Forderung Rjasanows, auch das gebräuchliche Verfahren verschiedener Gruppen, ihre Ansichten in einer Plattform zu veröffentlichen, zu verbieten: „Wir können der Partei und den Mitgliedern des ZK nicht das Recht nehmen, an die Partei zu appellieren, wenn eine grundlegende Frage Meinungsverschiedenheiten hervorruft. Ich vermag mir nicht vorzustellen, wie wir das tun könnten.“ Lenin, Ges. Werke, Bd.32, S.267.
13. LW, Bd.33, S.482.
14. zit. nach E.H. Carr: The Interregnum, Harmondsworth 1969, S.376.
15. zit. nach M. Schachtmann: The Struggle for the New Course, New York, 1943, S.172.
16. E.H. Carr: a.a.O., S.47.
17. ebenda.
18. J. Stalin: Lenin und der Leninismus, Moskau 1924: „Kann der endgültige Sieg des Sozialismus in einem Land erreicht werden ohne die gemeinsame Anstrengung des Proletariats in einigen fortgeschrittenen Ländern? Nein, das ist unmöglich.“ (zitiert bei Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, Dortmund 1977, S.95.
19. z.B.war ihr Führer Trotzki in der Gewerkschaftsdebatte von 1920 am entschiedensten dafür eingetreten, daß die Partei die Machtstellung der dezimierten Arbeiterklasse einnehme, d.h. er war für den „Substitutionismus“eingetreten; auch wurde die erste öffentliche Stellungnahme der Opposition, die Plattform der 46 von ihren Unterzeichnern nur mit zahlreichen Einschränkungen und Zusätzen akzeptiert.
20. Wir gehen hier nicht auf frühere Oppositionsgruppen, wie die „Arbeiteropposition“und die „Demokratischen Zentralisten“ein. Obwohl diese entstanden als Reaktion auf die frühe Bürokratisierung und den Verfall der Revolution, waren sie zum Teil auch utopische Reaktion auf die objektive Realität, d.h. die reale Stärke der Bauern und die reale Schwäche der Arbeiterklasse. Was von der „Arbeiteropposition“wirklich zählte und überlebte, ging in die „Linke Opposition“ein, während die Führer der Arbeiteropposition, Kollontai und Schljapnikow, vor Stalin kapitulierten.
Zuletzt aktualisiert am 20 November 2009